Anja, die russische Jüdin, die seit ihrer Kindheit in Deutschland lebt, fährt mit ihrem Freund Julian nach Israel, um ihm bei dessen Suche nach seinen Wurzeln zu helfen. Konfrontiert wird sie dabei nicht nur mit der Frage, was Jüdischsein in Deutschland heute bedeutet, sondern auch mit ihrer liebenswert-nervigen Familie, die einen guten Vorwand gefunden hat, sich der Reise spontan anzuschließen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.07.2007Ihre grünen Augen
Die Schriftstellerin Lena Gorelik ist so deutsch, so russisch, so jüdisch wie ihre Icherzählerin Anja - und zugleich ganz anders
VON FLORENTINE FRITZEN
Als die Wirklichkeit das Café Ginkgo im Frankfurter Stadtteil Bornheim betritt, ist die Fiktion längst da. Die Wirklichkeit ist klein, trägt Stiefel zum Rock und stellt sich als Lena vor. Ihr Händedruck ist kräftig, die Stimme überraschend tief. Die Wirklichkeit hat hellblonde Strähnchen im braunen Wuschelhaar und blasse Sommersprossen im Gesicht. Ihre Augen aber sind so grün, als spiegle sich in ihnen "die Traurigkeit des ganzen jüdischen Volkes".
Moment mal. Das ist doch ein Zitat. Der Satz beschreibt die Augen der Fiktion. Anjas Augen. Lena hat zwei Bücher über diese Anja geschrieben: "Meine weißen Nächte" (2004) und "Hochzeit in Jerusalem" (2007). Der Satz mit den Augen steht im zweiten.
An diesem Abend hat Lena in Frankfurt eine Lesung. Eigentlich lebt sie in München. Anja auch. Die Autorin und ihre Ich-Erzählerin haben auch sonst viel gemeinsam. Beide sind 1981 in Sankt Petersburg geboren. Beide hätten als kleine Mädchen unheimlich gern eine Barbie gehabt. Oder wenigstens eine "Petra", die notdürftige sozialistische Kopie. Als Anja und Lena elf waren, 1992, sind sie mit ihren Familien nach Deutschland gegangen, als "Kontingentflüchtlinge". So heißt das Wort, das die Bürokratie damals für jüdische Zuwanderer aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion erfand.
Lena und auch Anja lebten zunächst in einem Ausländerwohnheim in der Nähe von Stuttgart. In der Schule verstanden sie erst kein Wort und lernten dann schnell Deutsch. Bald zogen sie mit ihren Familien in eigene Wohnungen. Die Eltern schulten von Ingenieur und Ingenieurin zu Elektromechaniker und Buchhalterin um. Die Töchter küssten deutsche Männer und gingen zum Studieren nach München. Integration beendet.
In manchem unterscheiden sich Anja und Lena aber auch. Das macht ein Treffen mit der Schriftstellerin Lena Gorelik so vertrackt: Die Sechsundzwanzigjährige ist sofort vertraut und anders zugleich. Vertraut wirkt sie in allem, was sie über ihre Kindheit in Russland, über das Einleben in Deutschland, über ihr Jüdisch-Sein sagt. Denn genau so steht es in den Anja-Büchern: Waldhäuschen bauen auf der Datscha der Großeltern. "Jude" als russisches Schimpfwort. Kartoffelsalat auf der langen Zugfahrt nach Deutschland. Der Rabbiner sagt zur Mutter, in den Augen der Tochter schimmere die Traurigkeit des jüdischen Volkes. Deutschlernen mit Pippi Langstrumpf aus der Ludwigsburger Leihbibliothek. Judentum als pubertäre Selbststilisierung: Auf die punkige Phase folgt die koschere.
Anders ist zum Beispiel das: Lena und Anja lieben verschiedene Männer. In beiden Romanen bilden Anjas Beziehungswirren die Rahmenhandlung. Diese Liebesgeschichten wirken konstruiert, fast blutleer im Vergleich mit den prallen Berichten aus der Kindheit, die aus tiefster Autorinnenseele zu kommen scheinen. "Julian aus dem zweiten Buch ging mir richtig auf die Nerven", sagt Lena Gorelik. Ihre klare Sprache verrät nur in den Rachenlauten die russische Herkunft. "Auch alle meine Freundinnen haben gesagt: Das ist so ein Antityp, mit dem würde ich mich nicht einmal unterhalten."
Das hat schon bei der Lektüre irritiert: Es erscheint unglaubwürdig, dass Anja diesen Julian will. Weil er nicht zu ihr passt: zu vegetarisch. Zu angestrengt auf der Suche nach seinen jüdischen Wurzeln. Jan aus dem ersten Buch erscheint zu unlustig, zu unromatisch für Anjas grüne Augen. Und der Russe Ilja erst, den Anja ebenfalls im ersten Buch trifft: Von dessen Joints lässt sich eine wie sie doch nicht einlullen. Denn Anja ist schließlich Lena, und die Autorin würde allen diesen Männern wohl kaum hinterherlaufen. Anja aber will diese Männer, und das passt nicht recht zu ihrem Stolz. Lenas Stolz.
Dieser Stolz drückt sich auch in einem Satz aus, den Anja im Buch sagt und Lena im Café: "Ich bin einfach ich." Sie wollen sich nicht einschränken und festlegen lassen von den Attributen "deutsch", "russisch" und "jüdisch". Lenas und Anjas verschwommenes Judentum speist sich aus Sommerfreizeiten der jüdischen Gemeinde, aus der Tatsache, dass Falafel lecker schmecken, die Eltern ab und zu in die Synagoge gehen und der Blick über die Altstadt von Jerusalem phantastisch ist. Mit diesem Panorama vor Augen hat Lena Gorelik einen Großteil ihres zweiten Buchs geschrieben, in dem Anja mitsamt Familie und Julian nach Israel reist. Vier Monate Sprachkurs-Stipendium ließen Lena Gorelik genug Zeit, nachmittags in einem Café mit Blick auf den Felsendom den Laptop aufzuklappen. "Das war, wie man Schriftsteller sonst immer in Filmen sieht."
Die Autorin sagt, "Hochzeit in Jerusalem" sei weniger autobiographisch als "Meine weißen Nächte", in dem es um Anjas Erinnerungen an Sankt Petersburg und die Integration in Deutschland geht. Zunächst habe sie das zweite Buch sogar aus der Perspektive eines Mannes schreiben wollen. Dann habe sich Anja aber doch wieder hereingedrängt. "Das war so ein Ding, was sie gemacht hat, ohne mich zu fragen." Vielleicht ist das erste Buch das bessere, weil Anja darin weniger SMS verschickt und nicht so unentspannt cool ist, dass es mitunter nervt. Weil sie dort noch mehr wirkt wie Lena selbst. Ruhiger. Klüger. Nicht so neurotisch.
Ihr drittes Buch plant Lena Gorelik ohne Anja, ohne russische Zuwanderer und ohne jüdische Identitätssuche. Zugleich wird die Hauptperson wieder eine Frau sein, und es soll um ein Thema gehen, "das unsere junge Generation beschäftigt": Alle heiraten, und es scheint, als seien die Protagonistin und ihr Freund die Nächsten. "Sie will ein bisschen weg und nachdenken." Es klingt bescheiden und eine Spur trotzig, als sie sagt, sie könne eben nicht aus Sicht eines Sechzigjährigen mit fünf Kindern schreiben. Und es ist eher Schutzsuche als ein vermessener Vergleich, wenn sie sagt: "John Updike schreibt auch jedes Buch über dieselbe Person."
Aber der nächste Roman muss ohnehin warten. "Hochzeit in Jerusalem" ist im März erschienen, und die Autorin braucht eine Pause. "Ich war seit drei Monaten nie länger als drei Tage am Stück in derselben Stadt. Eine Woche in Sankt Petersburg mal ausgenommen." Währenddessen mahnt ihre russische Mutter an, sie sollte doch langsam mal heiraten und Kinder bekommen. Was eine biographische Brücke auch zum Thema des dritten Romans schlägt.
Die Vielbeschäftigte hat schon erwogen, die Organisation ihres Schriftstellerlebens in fremde Hände zu geben. "Ich schaffe es nicht so gut zu sagen: Diese Lesung mache ich nicht." Obwohl: Für ein kleines Honorar drei Stunden im Regionalexpress zu einer Veranstaltung an einen Ort zu reisen, dessen Namen sie noch nie gehört habe - solche Angebote sage sie inzwischen ab. Außerdem mache ihr das Organisieren auch Spaß: "Ich denke eh, dass ich eine verkappte Sekretärin bin, weil ich es liebe, Pläne zu erstellen."
Der Plan einer "Auszeit" bedeutet übrigens viel Arbeit. Bis November macht Lena Gorelik Lesereisen in zehn deutsche Städte. An diesem 1. Juli beginnt außerdem ihr Promotionsstipendium. Am Lehrstuhl für Jüdische Geschichte der Universität München will sie eine Arbeit über die Zuwanderung russischer Juden nach Deutschland schreiben. Dazu untersucht sie russische Zeitungen und autobiographische Sammlungen in jüdischen Gemeinden. Sie will die Sichtweise der Russen erforschen, hat sich aber gegen "Oral History" als Methode entschieden. "Ich wollte nicht mit russischen Juden in Kontakt kommen, was böser klingt, als es ist: Die kennen mich dann eben auch als Schriftstellerin. Sie wissen, wer ich bin, somit bin ich nicht mehr ganz die unabhängige Wissenschaftlerin."
Die Doktorarbeit wird auch zeigen, dass die Infrastruktur für russisch-jüdische Zuwanderer in Deutschland seit 1992 bequemer geworden ist. "Wer heute ankommt, wird in der jüdischen Gemeinde sofort auf Russisch angesprochen, bekommt gesagt, wo das russische Lebensmittelgeschäft ist, wo der russische Ohrenarzt und wo das russische Reisebüro." Mit Blick auf die Integration sei das ein Nachteil: "Deutsch zu lernen ist die Voraussetzung, um in diesem Land zu leben. Das Problem ist, dass das bei weitem nicht alle tun."
Lena, ihre Eltern und ihr älterer Bruder gehörten zu den ersten der inzwischen 200 000 jüdischen Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. "In Ludwigsburg gab es keine russischen Zeitungen, kein russisches Fernsehen. Wir mussten Deutsch lernen." Inzwischen kann sie es besser als Russisch. "Wenn ich mit meinen Eltern spreche, ist jedes zweite Wort deutsch mit russischer Endung."
Deutsch zu werden war für Lena Gorelik unumgänglich. Jüdisch sein zu dürfen bedeutete für die Familie neue Freiheit. "Meine Eltern hatten das Gefühl: Jetzt können wir uns damit auseinandersetzen." Der Vater hatte in Russland eigentlich "was mit U-Booten" machen wollen, die Mutter wäre lieber Übersetzerin als Ingenieurin geworden. Aber an den Hochschulen waren Juden nur in beschränkter Zahl zugelassen. In Deutschland gehen die Goreliks in den Kulturclub der jüdischen Gemeinde, haben russische und deutsche Freunde.
Lena Goreliks Freund Peter ist auch Jude, laut seiner Freundin aber "mit Weihnachten aufgewachsen". Sie haben sich vor sieben Jahren in Stuttgart kennengelernt. Später waren beide auf der Journalistenschule in München. Dort hat Lena außerdem Kommunikationswissenschaft, Soziologie und Politik studiert und ein Aufbaustudium Osteuropa-Studien gemacht.
In Lena Goreliks Romanen kommt Peter nicht vor - nur in den Widmungen und, seltsamerweise, auf dem Klappentext von "Meine weißen Nächte": "Wenn ich traurig bin, kocht Peter Kartoffeln für mich. Zum Frühstück." Was das Zitat auf dem Buchrücken verloren hat, weiß nur der Verlag. Anja isst jedenfalls nie Kartoffeln zum Frühstück, was daran liegen mag, dass weder Julian noch Ilja, noch Jan welche kocht. Da ist es wieder, das Verwirrspiel von Fiktion und Wirklichkeit.
Informationen und Termine der Lesungen im Internet: www.schirmer-graf.de
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Schriftstellerin Lena Gorelik ist so deutsch, so russisch, so jüdisch wie ihre Icherzählerin Anja - und zugleich ganz anders
VON FLORENTINE FRITZEN
Als die Wirklichkeit das Café Ginkgo im Frankfurter Stadtteil Bornheim betritt, ist die Fiktion längst da. Die Wirklichkeit ist klein, trägt Stiefel zum Rock und stellt sich als Lena vor. Ihr Händedruck ist kräftig, die Stimme überraschend tief. Die Wirklichkeit hat hellblonde Strähnchen im braunen Wuschelhaar und blasse Sommersprossen im Gesicht. Ihre Augen aber sind so grün, als spiegle sich in ihnen "die Traurigkeit des ganzen jüdischen Volkes".
Moment mal. Das ist doch ein Zitat. Der Satz beschreibt die Augen der Fiktion. Anjas Augen. Lena hat zwei Bücher über diese Anja geschrieben: "Meine weißen Nächte" (2004) und "Hochzeit in Jerusalem" (2007). Der Satz mit den Augen steht im zweiten.
An diesem Abend hat Lena in Frankfurt eine Lesung. Eigentlich lebt sie in München. Anja auch. Die Autorin und ihre Ich-Erzählerin haben auch sonst viel gemeinsam. Beide sind 1981 in Sankt Petersburg geboren. Beide hätten als kleine Mädchen unheimlich gern eine Barbie gehabt. Oder wenigstens eine "Petra", die notdürftige sozialistische Kopie. Als Anja und Lena elf waren, 1992, sind sie mit ihren Familien nach Deutschland gegangen, als "Kontingentflüchtlinge". So heißt das Wort, das die Bürokratie damals für jüdische Zuwanderer aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion erfand.
Lena und auch Anja lebten zunächst in einem Ausländerwohnheim in der Nähe von Stuttgart. In der Schule verstanden sie erst kein Wort und lernten dann schnell Deutsch. Bald zogen sie mit ihren Familien in eigene Wohnungen. Die Eltern schulten von Ingenieur und Ingenieurin zu Elektromechaniker und Buchhalterin um. Die Töchter küssten deutsche Männer und gingen zum Studieren nach München. Integration beendet.
In manchem unterscheiden sich Anja und Lena aber auch. Das macht ein Treffen mit der Schriftstellerin Lena Gorelik so vertrackt: Die Sechsundzwanzigjährige ist sofort vertraut und anders zugleich. Vertraut wirkt sie in allem, was sie über ihre Kindheit in Russland, über das Einleben in Deutschland, über ihr Jüdisch-Sein sagt. Denn genau so steht es in den Anja-Büchern: Waldhäuschen bauen auf der Datscha der Großeltern. "Jude" als russisches Schimpfwort. Kartoffelsalat auf der langen Zugfahrt nach Deutschland. Der Rabbiner sagt zur Mutter, in den Augen der Tochter schimmere die Traurigkeit des jüdischen Volkes. Deutschlernen mit Pippi Langstrumpf aus der Ludwigsburger Leihbibliothek. Judentum als pubertäre Selbststilisierung: Auf die punkige Phase folgt die koschere.
Anders ist zum Beispiel das: Lena und Anja lieben verschiedene Männer. In beiden Romanen bilden Anjas Beziehungswirren die Rahmenhandlung. Diese Liebesgeschichten wirken konstruiert, fast blutleer im Vergleich mit den prallen Berichten aus der Kindheit, die aus tiefster Autorinnenseele zu kommen scheinen. "Julian aus dem zweiten Buch ging mir richtig auf die Nerven", sagt Lena Gorelik. Ihre klare Sprache verrät nur in den Rachenlauten die russische Herkunft. "Auch alle meine Freundinnen haben gesagt: Das ist so ein Antityp, mit dem würde ich mich nicht einmal unterhalten."
Das hat schon bei der Lektüre irritiert: Es erscheint unglaubwürdig, dass Anja diesen Julian will. Weil er nicht zu ihr passt: zu vegetarisch. Zu angestrengt auf der Suche nach seinen jüdischen Wurzeln. Jan aus dem ersten Buch erscheint zu unlustig, zu unromatisch für Anjas grüne Augen. Und der Russe Ilja erst, den Anja ebenfalls im ersten Buch trifft: Von dessen Joints lässt sich eine wie sie doch nicht einlullen. Denn Anja ist schließlich Lena, und die Autorin würde allen diesen Männern wohl kaum hinterherlaufen. Anja aber will diese Männer, und das passt nicht recht zu ihrem Stolz. Lenas Stolz.
Dieser Stolz drückt sich auch in einem Satz aus, den Anja im Buch sagt und Lena im Café: "Ich bin einfach ich." Sie wollen sich nicht einschränken und festlegen lassen von den Attributen "deutsch", "russisch" und "jüdisch". Lenas und Anjas verschwommenes Judentum speist sich aus Sommerfreizeiten der jüdischen Gemeinde, aus der Tatsache, dass Falafel lecker schmecken, die Eltern ab und zu in die Synagoge gehen und der Blick über die Altstadt von Jerusalem phantastisch ist. Mit diesem Panorama vor Augen hat Lena Gorelik einen Großteil ihres zweiten Buchs geschrieben, in dem Anja mitsamt Familie und Julian nach Israel reist. Vier Monate Sprachkurs-Stipendium ließen Lena Gorelik genug Zeit, nachmittags in einem Café mit Blick auf den Felsendom den Laptop aufzuklappen. "Das war, wie man Schriftsteller sonst immer in Filmen sieht."
Die Autorin sagt, "Hochzeit in Jerusalem" sei weniger autobiographisch als "Meine weißen Nächte", in dem es um Anjas Erinnerungen an Sankt Petersburg und die Integration in Deutschland geht. Zunächst habe sie das zweite Buch sogar aus der Perspektive eines Mannes schreiben wollen. Dann habe sich Anja aber doch wieder hereingedrängt. "Das war so ein Ding, was sie gemacht hat, ohne mich zu fragen." Vielleicht ist das erste Buch das bessere, weil Anja darin weniger SMS verschickt und nicht so unentspannt cool ist, dass es mitunter nervt. Weil sie dort noch mehr wirkt wie Lena selbst. Ruhiger. Klüger. Nicht so neurotisch.
Ihr drittes Buch plant Lena Gorelik ohne Anja, ohne russische Zuwanderer und ohne jüdische Identitätssuche. Zugleich wird die Hauptperson wieder eine Frau sein, und es soll um ein Thema gehen, "das unsere junge Generation beschäftigt": Alle heiraten, und es scheint, als seien die Protagonistin und ihr Freund die Nächsten. "Sie will ein bisschen weg und nachdenken." Es klingt bescheiden und eine Spur trotzig, als sie sagt, sie könne eben nicht aus Sicht eines Sechzigjährigen mit fünf Kindern schreiben. Und es ist eher Schutzsuche als ein vermessener Vergleich, wenn sie sagt: "John Updike schreibt auch jedes Buch über dieselbe Person."
Aber der nächste Roman muss ohnehin warten. "Hochzeit in Jerusalem" ist im März erschienen, und die Autorin braucht eine Pause. "Ich war seit drei Monaten nie länger als drei Tage am Stück in derselben Stadt. Eine Woche in Sankt Petersburg mal ausgenommen." Währenddessen mahnt ihre russische Mutter an, sie sollte doch langsam mal heiraten und Kinder bekommen. Was eine biographische Brücke auch zum Thema des dritten Romans schlägt.
Die Vielbeschäftigte hat schon erwogen, die Organisation ihres Schriftstellerlebens in fremde Hände zu geben. "Ich schaffe es nicht so gut zu sagen: Diese Lesung mache ich nicht." Obwohl: Für ein kleines Honorar drei Stunden im Regionalexpress zu einer Veranstaltung an einen Ort zu reisen, dessen Namen sie noch nie gehört habe - solche Angebote sage sie inzwischen ab. Außerdem mache ihr das Organisieren auch Spaß: "Ich denke eh, dass ich eine verkappte Sekretärin bin, weil ich es liebe, Pläne zu erstellen."
Der Plan einer "Auszeit" bedeutet übrigens viel Arbeit. Bis November macht Lena Gorelik Lesereisen in zehn deutsche Städte. An diesem 1. Juli beginnt außerdem ihr Promotionsstipendium. Am Lehrstuhl für Jüdische Geschichte der Universität München will sie eine Arbeit über die Zuwanderung russischer Juden nach Deutschland schreiben. Dazu untersucht sie russische Zeitungen und autobiographische Sammlungen in jüdischen Gemeinden. Sie will die Sichtweise der Russen erforschen, hat sich aber gegen "Oral History" als Methode entschieden. "Ich wollte nicht mit russischen Juden in Kontakt kommen, was böser klingt, als es ist: Die kennen mich dann eben auch als Schriftstellerin. Sie wissen, wer ich bin, somit bin ich nicht mehr ganz die unabhängige Wissenschaftlerin."
Die Doktorarbeit wird auch zeigen, dass die Infrastruktur für russisch-jüdische Zuwanderer in Deutschland seit 1992 bequemer geworden ist. "Wer heute ankommt, wird in der jüdischen Gemeinde sofort auf Russisch angesprochen, bekommt gesagt, wo das russische Lebensmittelgeschäft ist, wo der russische Ohrenarzt und wo das russische Reisebüro." Mit Blick auf die Integration sei das ein Nachteil: "Deutsch zu lernen ist die Voraussetzung, um in diesem Land zu leben. Das Problem ist, dass das bei weitem nicht alle tun."
Lena, ihre Eltern und ihr älterer Bruder gehörten zu den ersten der inzwischen 200 000 jüdischen Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. "In Ludwigsburg gab es keine russischen Zeitungen, kein russisches Fernsehen. Wir mussten Deutsch lernen." Inzwischen kann sie es besser als Russisch. "Wenn ich mit meinen Eltern spreche, ist jedes zweite Wort deutsch mit russischer Endung."
Deutsch zu werden war für Lena Gorelik unumgänglich. Jüdisch sein zu dürfen bedeutete für die Familie neue Freiheit. "Meine Eltern hatten das Gefühl: Jetzt können wir uns damit auseinandersetzen." Der Vater hatte in Russland eigentlich "was mit U-Booten" machen wollen, die Mutter wäre lieber Übersetzerin als Ingenieurin geworden. Aber an den Hochschulen waren Juden nur in beschränkter Zahl zugelassen. In Deutschland gehen die Goreliks in den Kulturclub der jüdischen Gemeinde, haben russische und deutsche Freunde.
Lena Goreliks Freund Peter ist auch Jude, laut seiner Freundin aber "mit Weihnachten aufgewachsen". Sie haben sich vor sieben Jahren in Stuttgart kennengelernt. Später waren beide auf der Journalistenschule in München. Dort hat Lena außerdem Kommunikationswissenschaft, Soziologie und Politik studiert und ein Aufbaustudium Osteuropa-Studien gemacht.
In Lena Goreliks Romanen kommt Peter nicht vor - nur in den Widmungen und, seltsamerweise, auf dem Klappentext von "Meine weißen Nächte": "Wenn ich traurig bin, kocht Peter Kartoffeln für mich. Zum Frühstück." Was das Zitat auf dem Buchrücken verloren hat, weiß nur der Verlag. Anja isst jedenfalls nie Kartoffeln zum Frühstück, was daran liegen mag, dass weder Julian noch Ilja, noch Jan welche kocht. Da ist es wieder, das Verwirrspiel von Fiktion und Wirklichkeit.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Hingerissen zeigt sich Rezensentin Yvonne Gebauer von Lena Goreliks Roman "Hochzeit in Jerusalem". So wunderbar leichtfüßig wie die Autorin erzählen kann, hätte sie gerne einfach immer weiter gelesen. Gespannt folgt sie der Geschichte um eine seit ihrer Kindheit in Deutschland lebende russische Jüdin namens Anja, die zusammen mit Julian, der gerade erfahren hat, dass sein Vater Jude ist, auf eine Hochzeitsfeier nach Israel fliegt, wo die beiden Anjas furchtbar nette, liebenswerte und nervige Verwandtschaft kennen lernen. Besonders gefallen hat Gebauer der leichte und unbekümmerte Ton, mit dem Gorelik das turbulente Treffen der Verwandtschaft in Israel schildert, bei dem alle drauf los reden und ungefragt ihre Geschichten zum Besten geben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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