Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.02.1998Leben tut er, der Spiegel beschlägt sich
Hermann Schmitz, der Phänomenologe des Leibes, beschreibt das Dasein als atmende Bewegung
"Jemand empfängt von einem anderen Menschen, vorzüglich aus dem anderen Geschlecht, einen Eindruck, der ihn nicht losläßt, weil er ihn in die Persönlichkeit des Anderen gleichsam hineinzieht." Hermann Schmitz' Denken kreist ums Alltägliche. Aber das Nächste ist der Erkenntnis oft das Fernste. Es könnte ja sein, daß uns abgesunkene metaphysische Theoreme den Blick auf die Phänomene verstellen. "Partnerwahl" etwa nehmen wir leicht als Projektion. In den anderen würde wie in einen Spiegel nur der Herren eigen Selbst geworfen. Damit aber wäre nimmermehr zu erklären, wie aus einer "chaotischen Mannigfaltigkeit", sagen wir der überfüllten Cafeteria einer großen Bibliothek, plötzlich die eine Person hervorleuchtet, die uns interessiert. Was geschieht dabei?
Hinter der Projektionstheorie der Fremdwahrnehmung steht die Introjektion des Seelischen. Sie zu bekämpfen, ist Schmitz in den fünfziger Jahren angetreten. Zwei bedeutende Monographien zu Hegel als Denker der Individualität und zum Antiplatonismus von Goethes Altersdenken stehen an der Wiege eines zehnbändigen "Systems der Philosophie", das die "Höhlengänge" in Form einer Aufsatzsammlung kurz und mit ihren Wiederholungen und Auslassungen wenig glücklich zusammenfassen. Wenn das Denken, Wollen, Fühlen aus der Welt in eine Innerlichkeit zurückgezogen wird, wird fraglich, wie das Subjekt zum Objekt überhaupt kommen kann. Am Ende dieser von Platon eingeleiteten Bewegung hat sich die Vorstellung von Sinnesdaten durchgesetzt, denen wir, in den Turm der Subjektivität eingeschlossen, unsere Deutung nur überwerfen.
Im Zentrum steht bei Schmitz der Leib. Er ist das, "was der Mensch von sich in der Gegend seines Körpers spüren kann", wenn er sich nicht als sichtbaren, betastbaren Gegenstand im Raum nimmt. Zum Leib gehören "leibliche Regungen, das in der Gebärde oder beim Atmen gespürte motorische Verhalten, der Blick, das Ergriffensein von Gefühlen". Und dieser Leib befindet sich - heideggerisierend gesagt: "immer schon" - in leiblicher Kommunikation. Wir nehmen nicht kontemplativ Sinnesdaten wahr, die wir dann auslegen, sondern antworten aktiv auf Bewegungen oder Bewegungssuggestionen. Wir entscheiden uns nicht, Beziehungen aufzunehmen, sondern wir werden uns bewußt, daß wir bereits in Beziehungen stehen.
Beim Festhaken nun an einem Menschen, vorzüglich anderen Geschlechts, ereignet sich eine "Einleibung". Sie hat bei Schmitz dieselbe Systemstelle inne wie die Mimesis bei Benjamin und Adorno. Die Mimesis wiederum entstammt der Lebensphilosophie Bergsons, also letztlich Schopenhauers Dualismus von Willenseinfühlung und vorstellender Rationalität. Durch die Einleibung realisieren wir im Nu das Geflecht der Bewegungen, die hinter Gesichtszügen, Körperhaltung, Stimme, Mimik, Gestik stehen, und synthetisieren sie in einem Leiteindruck. Schönheit ist promesse du bonheur. Nur muß Stendhals versprochenes Glück als eins gelingender Kommunikation und Interaktion gedacht werden. Oder, wie Schmitz zusammenfaßt: Dem anderen fällt der synthetisierende Blick auf unsere verschiedenen Lebensäußerungen leichter als uns. Deshalb synthetisieren wir, beim coup de foudre, den anderen als einen solchen, der der Rechte ist, uns das Leitende unserer Existenz zu verdeutlichen - uns zu uns selbst zu bringen.
Darin können wir uns natürlich täuschen. Vielleicht wird man einfach an Vermeers Mädchen mit der Perle oder, um ein literarisches Beispiel zu nehmen, an eine Jungfrau von Botticelli erinnert. Eine Projektion also. Aber Schmitz würde, die Täuschung konzediert, das Argument sofort drehen. Auch das Verstehen von Kunstwerken ist nur als ein synästhetisch erweitertes Antworten auf Bewegungssuggestionen und Gestaltverläufe zu denken - ein Gedanke, den Schmitz in einer ausgedehnten Musikästhetik zu gewichtiger Ernte bringt.
Vor allem sind die Gefühle selbst nichts Innerliches. Gefühle kommen aus der Welt auf uns zu. Friede begegnet uns als mondnächtlich sachtes Wogen der Ähren, Glück als Schönheit, als die Anmut eines Ganges, die Selbstverständlichkeit einer Geste, die Freiheit eines Blicks. "Gefühle sind nicht subjektiver als Landstraßen." Schon Dewey und Mead hatten zwar, was Schmitz zu erwähnen vergißt, in Antwort auf Bergson die Expressivität eines Dinges und seine physikalische Beschaffenheit als gleichermaßen objektiv genommen. Schmitz' Originalität liegt jedoch in der Rückbindung der Gefühle an den Leib. Betroffen, affiziert werden wir, indem das Wahrgenommene eine Resonanz erhält, in uns leibliche Regungen hervorruft, Beklommenheit, dumpfe Unruhe, Begehren. Sie wiederum sind nichts unzugänglich Privates. Wir sehen die Regungen des anderen, seine Scheu, seinen Hochmut, seine begehrlichen Blicke. Über wenig dürften sich Menschen so täuschen wie über ihre Fähigkeit, das Innere geheimzuhalten.
Folgen wir nun unserem jungen Paar ein wenig weiter, so mag es zur geschlechtlichen Vereinigung kommen, für die sich Schmitz ganz besonders interessiert. Die Leitdifferenz seiner Phänomenologie des Leibes geben Weite und Enge. Im Widerstand gegeneinander erscheinen sie als engende Spannung und weitende Schwellung. Wie Fichte aus Ich und Nicht-Ich vor den Augen des Lesers die ganze Welt des Bewußtseins konstruiert, breitet Schmitz vom morgendlichen warmen Bad über den Sadismus bis zur Unio mystica die Welt des Leibes aus. Archetyp ist, neben der von Heidegger geerbten Angst, entschieden anders als bei Heidegger, der seinen erotischen Aventüren keine systematische Würde verlieh, die Wollust. In ihr sind Weitung und Engung verschränkt, ohne daß Angst oder Schmerz empfunden würden, da die Weitung sich aus der Engung triumphierend hervorwindet. "Das geschieht beim Aufstieg zur Ekstase durch rhythmische Stöße unter engender Pressung mit Phasen des Übergewichts leiblicher Engung, wodurch zum Beispiel eingeschobene Schmerzreize, etwa durch Beißen und Kratzen, der geschlechtlichen Ekstase günstig sind, während in der ganzheitlichen Gestalt des Ablaufs die Schwellung führt."
Solche Beschreibungen haben natürlich etwas Kurioses. Und Schmitz dürfte die Haltung, alle sozialen und psychischen Probleme ließen sich durch richtiges Atmen lösen, nicht ganz fernliegen. Andererseits ist selbst an Atemtherapien ja etwas dran. Im übrigen geht es um die Erschließung des Phänomenbereichs des Leiblichen und um seine nicht vergegenständlichende Beschreibung. Einsetzen kann man die Ergebnisse dann auch anders. Etwa indem man Entfremdung als leibliche (nicht körperliche) Engung analysiert.
Warum aber hat kaum jemand an Schmitz angeknüpft? Vielleicht wegen seines Ich-habe-bereits-vor-zwanzig-Jahren-nachgewiesen-Gestus, vielleicht wegen der fremden Mischung aus Philosophie und Lebenserfahrung, vielleicht, weil es hier, anders als bei Heidegger oder Derrida, keine zum Auslegen drängende Dunkelheit gibt. Vielleicht ist er auch einfach auf dem falschen Auge blind. Vom "Sozialapriorismus" oder einer vorgängigen Ausgelegtheit der Welt will er nichts wissen. Auf diese Weise bleibt ganz rätselhaft, wie die Unwahrheit in Gestalt von Plato eine solche Macht über die Welt bekommen konnte, daß selbst Schmitz den Planeten nicht zu retten weiß. Und auf diese Weise bleibt (unnötigerweise) verschlossen, wie Stereotype in die Wahrnehmung eingreifen. Vielleicht reagierte der Blick, mit dem begonnen wurde, nur auf ein Kindchenschema und folgte damit einem konventionellen Verständnis der Geschlechterrollen. GUSTAV FALKE
Hermann Schmitz: "Höhlengänge". Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie. Lynkeus, Studien zur Neueren Phänomenologie, Band 6. Akademie Verlag, Berlin 1997. 233 S., geb., 98,- DM.
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Hermann Schmitz, der Phänomenologe des Leibes, beschreibt das Dasein als atmende Bewegung
"Jemand empfängt von einem anderen Menschen, vorzüglich aus dem anderen Geschlecht, einen Eindruck, der ihn nicht losläßt, weil er ihn in die Persönlichkeit des Anderen gleichsam hineinzieht." Hermann Schmitz' Denken kreist ums Alltägliche. Aber das Nächste ist der Erkenntnis oft das Fernste. Es könnte ja sein, daß uns abgesunkene metaphysische Theoreme den Blick auf die Phänomene verstellen. "Partnerwahl" etwa nehmen wir leicht als Projektion. In den anderen würde wie in einen Spiegel nur der Herren eigen Selbst geworfen. Damit aber wäre nimmermehr zu erklären, wie aus einer "chaotischen Mannigfaltigkeit", sagen wir der überfüllten Cafeteria einer großen Bibliothek, plötzlich die eine Person hervorleuchtet, die uns interessiert. Was geschieht dabei?
Hinter der Projektionstheorie der Fremdwahrnehmung steht die Introjektion des Seelischen. Sie zu bekämpfen, ist Schmitz in den fünfziger Jahren angetreten. Zwei bedeutende Monographien zu Hegel als Denker der Individualität und zum Antiplatonismus von Goethes Altersdenken stehen an der Wiege eines zehnbändigen "Systems der Philosophie", das die "Höhlengänge" in Form einer Aufsatzsammlung kurz und mit ihren Wiederholungen und Auslassungen wenig glücklich zusammenfassen. Wenn das Denken, Wollen, Fühlen aus der Welt in eine Innerlichkeit zurückgezogen wird, wird fraglich, wie das Subjekt zum Objekt überhaupt kommen kann. Am Ende dieser von Platon eingeleiteten Bewegung hat sich die Vorstellung von Sinnesdaten durchgesetzt, denen wir, in den Turm der Subjektivität eingeschlossen, unsere Deutung nur überwerfen.
Im Zentrum steht bei Schmitz der Leib. Er ist das, "was der Mensch von sich in der Gegend seines Körpers spüren kann", wenn er sich nicht als sichtbaren, betastbaren Gegenstand im Raum nimmt. Zum Leib gehören "leibliche Regungen, das in der Gebärde oder beim Atmen gespürte motorische Verhalten, der Blick, das Ergriffensein von Gefühlen". Und dieser Leib befindet sich - heideggerisierend gesagt: "immer schon" - in leiblicher Kommunikation. Wir nehmen nicht kontemplativ Sinnesdaten wahr, die wir dann auslegen, sondern antworten aktiv auf Bewegungen oder Bewegungssuggestionen. Wir entscheiden uns nicht, Beziehungen aufzunehmen, sondern wir werden uns bewußt, daß wir bereits in Beziehungen stehen.
Beim Festhaken nun an einem Menschen, vorzüglich anderen Geschlechts, ereignet sich eine "Einleibung". Sie hat bei Schmitz dieselbe Systemstelle inne wie die Mimesis bei Benjamin und Adorno. Die Mimesis wiederum entstammt der Lebensphilosophie Bergsons, also letztlich Schopenhauers Dualismus von Willenseinfühlung und vorstellender Rationalität. Durch die Einleibung realisieren wir im Nu das Geflecht der Bewegungen, die hinter Gesichtszügen, Körperhaltung, Stimme, Mimik, Gestik stehen, und synthetisieren sie in einem Leiteindruck. Schönheit ist promesse du bonheur. Nur muß Stendhals versprochenes Glück als eins gelingender Kommunikation und Interaktion gedacht werden. Oder, wie Schmitz zusammenfaßt: Dem anderen fällt der synthetisierende Blick auf unsere verschiedenen Lebensäußerungen leichter als uns. Deshalb synthetisieren wir, beim coup de foudre, den anderen als einen solchen, der der Rechte ist, uns das Leitende unserer Existenz zu verdeutlichen - uns zu uns selbst zu bringen.
Darin können wir uns natürlich täuschen. Vielleicht wird man einfach an Vermeers Mädchen mit der Perle oder, um ein literarisches Beispiel zu nehmen, an eine Jungfrau von Botticelli erinnert. Eine Projektion also. Aber Schmitz würde, die Täuschung konzediert, das Argument sofort drehen. Auch das Verstehen von Kunstwerken ist nur als ein synästhetisch erweitertes Antworten auf Bewegungssuggestionen und Gestaltverläufe zu denken - ein Gedanke, den Schmitz in einer ausgedehnten Musikästhetik zu gewichtiger Ernte bringt.
Vor allem sind die Gefühle selbst nichts Innerliches. Gefühle kommen aus der Welt auf uns zu. Friede begegnet uns als mondnächtlich sachtes Wogen der Ähren, Glück als Schönheit, als die Anmut eines Ganges, die Selbstverständlichkeit einer Geste, die Freiheit eines Blicks. "Gefühle sind nicht subjektiver als Landstraßen." Schon Dewey und Mead hatten zwar, was Schmitz zu erwähnen vergißt, in Antwort auf Bergson die Expressivität eines Dinges und seine physikalische Beschaffenheit als gleichermaßen objektiv genommen. Schmitz' Originalität liegt jedoch in der Rückbindung der Gefühle an den Leib. Betroffen, affiziert werden wir, indem das Wahrgenommene eine Resonanz erhält, in uns leibliche Regungen hervorruft, Beklommenheit, dumpfe Unruhe, Begehren. Sie wiederum sind nichts unzugänglich Privates. Wir sehen die Regungen des anderen, seine Scheu, seinen Hochmut, seine begehrlichen Blicke. Über wenig dürften sich Menschen so täuschen wie über ihre Fähigkeit, das Innere geheimzuhalten.
Folgen wir nun unserem jungen Paar ein wenig weiter, so mag es zur geschlechtlichen Vereinigung kommen, für die sich Schmitz ganz besonders interessiert. Die Leitdifferenz seiner Phänomenologie des Leibes geben Weite und Enge. Im Widerstand gegeneinander erscheinen sie als engende Spannung und weitende Schwellung. Wie Fichte aus Ich und Nicht-Ich vor den Augen des Lesers die ganze Welt des Bewußtseins konstruiert, breitet Schmitz vom morgendlichen warmen Bad über den Sadismus bis zur Unio mystica die Welt des Leibes aus. Archetyp ist, neben der von Heidegger geerbten Angst, entschieden anders als bei Heidegger, der seinen erotischen Aventüren keine systematische Würde verlieh, die Wollust. In ihr sind Weitung und Engung verschränkt, ohne daß Angst oder Schmerz empfunden würden, da die Weitung sich aus der Engung triumphierend hervorwindet. "Das geschieht beim Aufstieg zur Ekstase durch rhythmische Stöße unter engender Pressung mit Phasen des Übergewichts leiblicher Engung, wodurch zum Beispiel eingeschobene Schmerzreize, etwa durch Beißen und Kratzen, der geschlechtlichen Ekstase günstig sind, während in der ganzheitlichen Gestalt des Ablaufs die Schwellung führt."
Solche Beschreibungen haben natürlich etwas Kurioses. Und Schmitz dürfte die Haltung, alle sozialen und psychischen Probleme ließen sich durch richtiges Atmen lösen, nicht ganz fernliegen. Andererseits ist selbst an Atemtherapien ja etwas dran. Im übrigen geht es um die Erschließung des Phänomenbereichs des Leiblichen und um seine nicht vergegenständlichende Beschreibung. Einsetzen kann man die Ergebnisse dann auch anders. Etwa indem man Entfremdung als leibliche (nicht körperliche) Engung analysiert.
Warum aber hat kaum jemand an Schmitz angeknüpft? Vielleicht wegen seines Ich-habe-bereits-vor-zwanzig-Jahren-nachgewiesen-Gestus, vielleicht wegen der fremden Mischung aus Philosophie und Lebenserfahrung, vielleicht, weil es hier, anders als bei Heidegger oder Derrida, keine zum Auslegen drängende Dunkelheit gibt. Vielleicht ist er auch einfach auf dem falschen Auge blind. Vom "Sozialapriorismus" oder einer vorgängigen Ausgelegtheit der Welt will er nichts wissen. Auf diese Weise bleibt ganz rätselhaft, wie die Unwahrheit in Gestalt von Plato eine solche Macht über die Welt bekommen konnte, daß selbst Schmitz den Planeten nicht zu retten weiß. Und auf diese Weise bleibt (unnötigerweise) verschlossen, wie Stereotype in die Wahrnehmung eingreifen. Vielleicht reagierte der Blick, mit dem begonnen wurde, nur auf ein Kindchenschema und folgte damit einem konventionellen Verständnis der Geschlechterrollen. GUSTAV FALKE
Hermann Schmitz: "Höhlengänge". Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie. Lynkeus, Studien zur Neueren Phänomenologie, Band 6. Akademie Verlag, Berlin 1997. 233 S., geb., 98,- DM.
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