Von der Macht einer Sprache, deren Reiz uns noch immer dazu verführt, sie in unser Leben zu übertragen - Hölderlin zum 250. Geburtstag. In sieben fulminanten Essays untersucht der renommierteste italienische Hölderlin-Experte und -Übersetzer das vielschichtige Werk eines Dichters, der uns mit seinen sprachlichen Gebilden noch immer fasziniert und der in unser Leben übersetzt zu werden verlangt. Reitani widerlegt das Vorurteil, wonach Hölderlin außerhalb der deutschen Sprachgemeinschaft kaum zu verstehen sei, im Gegenteil: Hölderlins sprachliche Komplexität, seine lyrische Kunst fordert geradezu zur unerschrockenen Auseinandersetzung der Philologen und Übersetzer heraus.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.03.2020Sehnsucht eines
Flüchtenden
Der italienische Literaturwissenschaftler
Luigi Reitani erkundet das Werk Friedrich Hölderlins
VON THOMAS STEINFELD
Von Friedrich Hölderlin gibt es ein Gedicht aus dem Jahr 1799, das den Titel „Mein Eigentum“ trägt und einem Gedanken zu folgen scheint, wie er eines romantischen Poeten würdig wäre. Es beginnt mit Herbstbildern, in denen von Ernte und Grundbesitz die Rede ist, von „Zufriedenen“, die ihr „Gut gereift“ sehen, und es endet mit einer Selbstbesinnung, in der ein offenbar besitzloser Dichter die Göttin des Schicksals bittet, ihm das „Asyl“ des „Gesangs“ zu lassen. Das ist einfach, denkt man sich, einfacher, als man es dem als schwierig geltenden Hölderlin zugetraut hätte.
Doch sagt der italienische Literaturwissenschaftler Luigi Reitani, das Suchen nach einfachen Botschaften sei vielleicht nicht die angemessene Form des Umgangs mit Friedrich Hölderlin. Dieser habe den literarisch produktiveren Teil seines Lebens auf der Flucht verbracht, in unterschiedlichen Weisen des Fliehens, weshalb man die mehr oder minder erzwungenen Ortswechsel stets mitdenken müsse: „Die Flucht, eben.“ Das hätte für dieses Gedicht zur Folge, dass die Vorstellung des „Eigentums“ nur für eine „Sehnsucht“ steht und für nichts, was es wirklich gäbe, weshalb es dann auch in der Mitte des Gedichts heißt, die „Seele“ sei keine „Pflanze“.
Luigi Reitani lehrt jetzt wieder an der Universität Udine, nachdem er fünf Jahre lang Leiter des Italienischen Kulturinstituts in Berlin war. Außerdem hat er, in einer gigantischen Anstrengung, das gesamte Werk Friedrich Hölderlins ins Italienische übersetzt und kommentiert. Die Ausgabe, mit einem Umfang von fast 4000 Seiten, ist in diesen Tagen, wenige Wochen vor dem 250. Geburtstag des Dichters, im Mailänder Verlag Mondadori erschienen.
Zugleich veröffentlichte Luigi Reitani einen schmalen Band auf Deutsch, in dem er in acht Aufsätzen über seine Arbeit reflektiert: als Philologe, als Interpret und als Übersetzer. Letzterem kommt in den Essays das größere Gewicht zu, aus gutem Grund. Denn ein Philologe oder ein Interpret kann Bände mit seinen Einfällen und Gedanken füllen. Der Übersetzer aber muss sich bei jedem Wort für eine Lösung entscheiden, gegen ein anderes Wort. Und welches Wort er auch immer wählt: Es ist seine Entscheidung, und er muss sie verantworten.
Diese Verantwortung wiegt beim Werk Friedrich Hölderlins vermutlich schwerer als bei jedem anderen deutschen Dichter, Paul Celan vielleicht ausgenommen. Denn nicht nur, dass Teile des Werks frei flottieren, in den seltsamsten Zusammenhängen, so wie der Satz „Was bleibet aber, stiften die Dichter“. Nicht nur, dass den Gedichten im 20. Jahrhundert ein Interpretationswesen ohnegleichen gewidmet wurde, von Stefan George über Martin Heidegger bis zu Theodor W. Adorno und Dieter Henrich. Nicht nur, dass die angebliche Geisteskrankheit des Dichters den Stoff für zahlreiche Auseinandersetzungen über den Zusammenhang von Genie und Wahnsinn lieferte, um dann, nach Peter Weiss und Pierre Bertaux, in den Angriff auf eine Gesellschaft zu münden, die das subversive Kreative unterdrückt. Vielmehr galt Friedrich Hölderlin auch einer der härtesten Kämpfe um die angemessene Edition, die je geführt wurden.
In den vergangenen Jahren sank indessen, so scheint es, diese Rezeptionsgeschichte weitgehend dahin. Sie wurde abgelegt wie ein zu oft getragenes Hemd. Zurück blieb ein Werk, das sich durch sein Pathos, seine Versformen, seinen fragmentarischen Charakter, durch seine Verknüpfung mit der griechischen Antike, kurz: durch einen Abstand von 200 Jahren zunehmend fremd ausnimmt. Fremd, aber alles andere als frei, denn der Übersetzer kann der schwierigen Geschichte des Werkes und seiner Wirkung nicht entgehen. In dieser verworrenen, allseits belasteten Lage trifft Luigi Reitani seine Entscheidung. Die Flucht, sagt er, sei das Motiv, von dem das gesamte Werk durchzogen werde, eingeschlossen die verwandten Motive des Abschieds, der Wanderung und der Sehnsucht. Hyperion, der Held des gleichnamigen Briefromans aus den Jahren 1797 und 1799, des einzigen Buches, das Hölderlin veröffentlichte, ist ein Mann auf der Flucht. Das Gedicht „Mein Eigentum“ ist aus der Perspektive eines Abschieds geschrieben, und der „Nekar“, der Fluss selbst, ist auch ein „Flüchtiger“.
In dieser Flucht gebe es keinen Halt, allenfalls „Wunschträume“, deren größter die Idee der absoluten Sprache oder des absoluten Wissens sei, die, so muss man wohl ergänzen, von Hölderlins Studienfreunden Schelling und Hegel in die Welt getragen wurden. Hölderlin erscheint, so betrachtet, in diesem Trio als der Modernste: als ein spekulativer Kopf, der ebenso weit zu denken vermochte wie seine Freunde, ihnen aber, womöglich gegen die eigenen Intentionen, darin voraus war, dass er das Scheitern aller Hoffnungen auf Erlösung von vornherein mitbedachte: „Nein, da wird keine Rettung versprochen“, so Reitani. Wie es sich mit den Übersetzungen ins Italienische dann tatsächlich verhält, muss ein italienisches Publikum wissen. Für deutsche Leser interessant aber sind nicht nur die Entscheidungen, die der Übersetzer zu treffen hat, sondern auch deren Begründungen. An ihnen ist nicht allein philologisches Arbeiten zu lernen, sondern ebenso, was Verstehen eigentlich bedeutet, nicht nur bei literarischen Texten.
Man nehme nur das bekannteste aller Gedichte Hölderlins, die vierzehn Zeilen, die den Titel „Hälfte des Lebens“ tragen: Ein Wort für „hold“ gibt es im Italienischen nicht. Luigi Reitani wählt „amati cigni“, also „geliebte Schwäne“, und blendet aus, dass „holde Schwäne“ sich denen, die sie lieben, auch zuwenden. Er besteht hingegen darauf, dass die Fahnen tatsächlich „klirren“ („stridere“, auch „kreischen“ oder „schrillen“), der in ihnen enthaltenen Lüge wegen. Eigentlich müsste man auch die turtelnden „Schwäne“ in die Überlegungen aufnehmen, denn dieses Federvieh stellt im Italienischen bei Weitem nicht das Symboltier dar, das es im Deutschen abgibt.
Am Ende dieser Arbeit aber steht ein Text, der etwas ist, was das Original nicht sein kann, nämlich eine Übertragung nicht nur in eine andere Sprache, sondern auch in eine andere Zeit. Man wünschte sich, es gäbe nicht nur eine Übersetzung, sondern auch eine Rückkehr zum Original durch die Übersetzung, mit Luigi Reitani als Mentor.
Luigi Reitani: Hölderlin. Gedanken über einen Dichter auf der Flucht. Folio Verlag, Wien/Bozen 2020. 108 Seiten, 20 Euro.
Der Übersetzer muss sich
bei jedem Wort entscheiden,
gegen ein anderes Wort
Der Germanist und Hölderlin-Übersetzer Luigi Reitani.
Foto: imago stock
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Flüchtenden
Der italienische Literaturwissenschaftler
Luigi Reitani erkundet das Werk Friedrich Hölderlins
VON THOMAS STEINFELD
Von Friedrich Hölderlin gibt es ein Gedicht aus dem Jahr 1799, das den Titel „Mein Eigentum“ trägt und einem Gedanken zu folgen scheint, wie er eines romantischen Poeten würdig wäre. Es beginnt mit Herbstbildern, in denen von Ernte und Grundbesitz die Rede ist, von „Zufriedenen“, die ihr „Gut gereift“ sehen, und es endet mit einer Selbstbesinnung, in der ein offenbar besitzloser Dichter die Göttin des Schicksals bittet, ihm das „Asyl“ des „Gesangs“ zu lassen. Das ist einfach, denkt man sich, einfacher, als man es dem als schwierig geltenden Hölderlin zugetraut hätte.
Doch sagt der italienische Literaturwissenschaftler Luigi Reitani, das Suchen nach einfachen Botschaften sei vielleicht nicht die angemessene Form des Umgangs mit Friedrich Hölderlin. Dieser habe den literarisch produktiveren Teil seines Lebens auf der Flucht verbracht, in unterschiedlichen Weisen des Fliehens, weshalb man die mehr oder minder erzwungenen Ortswechsel stets mitdenken müsse: „Die Flucht, eben.“ Das hätte für dieses Gedicht zur Folge, dass die Vorstellung des „Eigentums“ nur für eine „Sehnsucht“ steht und für nichts, was es wirklich gäbe, weshalb es dann auch in der Mitte des Gedichts heißt, die „Seele“ sei keine „Pflanze“.
Luigi Reitani lehrt jetzt wieder an der Universität Udine, nachdem er fünf Jahre lang Leiter des Italienischen Kulturinstituts in Berlin war. Außerdem hat er, in einer gigantischen Anstrengung, das gesamte Werk Friedrich Hölderlins ins Italienische übersetzt und kommentiert. Die Ausgabe, mit einem Umfang von fast 4000 Seiten, ist in diesen Tagen, wenige Wochen vor dem 250. Geburtstag des Dichters, im Mailänder Verlag Mondadori erschienen.
Zugleich veröffentlichte Luigi Reitani einen schmalen Band auf Deutsch, in dem er in acht Aufsätzen über seine Arbeit reflektiert: als Philologe, als Interpret und als Übersetzer. Letzterem kommt in den Essays das größere Gewicht zu, aus gutem Grund. Denn ein Philologe oder ein Interpret kann Bände mit seinen Einfällen und Gedanken füllen. Der Übersetzer aber muss sich bei jedem Wort für eine Lösung entscheiden, gegen ein anderes Wort. Und welches Wort er auch immer wählt: Es ist seine Entscheidung, und er muss sie verantworten.
Diese Verantwortung wiegt beim Werk Friedrich Hölderlins vermutlich schwerer als bei jedem anderen deutschen Dichter, Paul Celan vielleicht ausgenommen. Denn nicht nur, dass Teile des Werks frei flottieren, in den seltsamsten Zusammenhängen, so wie der Satz „Was bleibet aber, stiften die Dichter“. Nicht nur, dass den Gedichten im 20. Jahrhundert ein Interpretationswesen ohnegleichen gewidmet wurde, von Stefan George über Martin Heidegger bis zu Theodor W. Adorno und Dieter Henrich. Nicht nur, dass die angebliche Geisteskrankheit des Dichters den Stoff für zahlreiche Auseinandersetzungen über den Zusammenhang von Genie und Wahnsinn lieferte, um dann, nach Peter Weiss und Pierre Bertaux, in den Angriff auf eine Gesellschaft zu münden, die das subversive Kreative unterdrückt. Vielmehr galt Friedrich Hölderlin auch einer der härtesten Kämpfe um die angemessene Edition, die je geführt wurden.
In den vergangenen Jahren sank indessen, so scheint es, diese Rezeptionsgeschichte weitgehend dahin. Sie wurde abgelegt wie ein zu oft getragenes Hemd. Zurück blieb ein Werk, das sich durch sein Pathos, seine Versformen, seinen fragmentarischen Charakter, durch seine Verknüpfung mit der griechischen Antike, kurz: durch einen Abstand von 200 Jahren zunehmend fremd ausnimmt. Fremd, aber alles andere als frei, denn der Übersetzer kann der schwierigen Geschichte des Werkes und seiner Wirkung nicht entgehen. In dieser verworrenen, allseits belasteten Lage trifft Luigi Reitani seine Entscheidung. Die Flucht, sagt er, sei das Motiv, von dem das gesamte Werk durchzogen werde, eingeschlossen die verwandten Motive des Abschieds, der Wanderung und der Sehnsucht. Hyperion, der Held des gleichnamigen Briefromans aus den Jahren 1797 und 1799, des einzigen Buches, das Hölderlin veröffentlichte, ist ein Mann auf der Flucht. Das Gedicht „Mein Eigentum“ ist aus der Perspektive eines Abschieds geschrieben, und der „Nekar“, der Fluss selbst, ist auch ein „Flüchtiger“.
In dieser Flucht gebe es keinen Halt, allenfalls „Wunschträume“, deren größter die Idee der absoluten Sprache oder des absoluten Wissens sei, die, so muss man wohl ergänzen, von Hölderlins Studienfreunden Schelling und Hegel in die Welt getragen wurden. Hölderlin erscheint, so betrachtet, in diesem Trio als der Modernste: als ein spekulativer Kopf, der ebenso weit zu denken vermochte wie seine Freunde, ihnen aber, womöglich gegen die eigenen Intentionen, darin voraus war, dass er das Scheitern aller Hoffnungen auf Erlösung von vornherein mitbedachte: „Nein, da wird keine Rettung versprochen“, so Reitani. Wie es sich mit den Übersetzungen ins Italienische dann tatsächlich verhält, muss ein italienisches Publikum wissen. Für deutsche Leser interessant aber sind nicht nur die Entscheidungen, die der Übersetzer zu treffen hat, sondern auch deren Begründungen. An ihnen ist nicht allein philologisches Arbeiten zu lernen, sondern ebenso, was Verstehen eigentlich bedeutet, nicht nur bei literarischen Texten.
Man nehme nur das bekannteste aller Gedichte Hölderlins, die vierzehn Zeilen, die den Titel „Hälfte des Lebens“ tragen: Ein Wort für „hold“ gibt es im Italienischen nicht. Luigi Reitani wählt „amati cigni“, also „geliebte Schwäne“, und blendet aus, dass „holde Schwäne“ sich denen, die sie lieben, auch zuwenden. Er besteht hingegen darauf, dass die Fahnen tatsächlich „klirren“ („stridere“, auch „kreischen“ oder „schrillen“), der in ihnen enthaltenen Lüge wegen. Eigentlich müsste man auch die turtelnden „Schwäne“ in die Überlegungen aufnehmen, denn dieses Federvieh stellt im Italienischen bei Weitem nicht das Symboltier dar, das es im Deutschen abgibt.
Am Ende dieser Arbeit aber steht ein Text, der etwas ist, was das Original nicht sein kann, nämlich eine Übertragung nicht nur in eine andere Sprache, sondern auch in eine andere Zeit. Man wünschte sich, es gäbe nicht nur eine Übersetzung, sondern auch eine Rückkehr zum Original durch die Übersetzung, mit Luigi Reitani als Mentor.
Luigi Reitani: Hölderlin. Gedanken über einen Dichter auf der Flucht. Folio Verlag, Wien/Bozen 2020. 108 Seiten, 20 Euro.
Der Übersetzer muss sich
bei jedem Wort entscheiden,
gegen ein anderes Wort
Der Germanist und Hölderlin-Übersetzer Luigi Reitani.
Foto: imago stock
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.06.2020Ein Ende ist nicht absehbar
Luigi Reitani übersetzt Hölderlins Lyrik
Patmos ist eine unscheinbare Insel in der Ägäis, unweit der Küste von Kleinasien. Den Römern diente sie als Verbannungsort, und Johannes musste dort in unwirtlicher Fremde leben, als er jene Offenbarung empfing, die er den frühen Christen als Trostwort sandte und die zum letzten Buch des Neuen Testaments geworden ist. "Patmos" ist zugleich der Titel einer Hymne, die Friedrich Hölderlin 1803 verfasste, als sein Weg in innere Entrückung wie auch äußere Zerrüttung fortschreitend erkennbar wurde.
Diese Hymne, längst eins der bekanntesten Gedichte dieses Autors, besingt einen Moment des Aufbruchs zu einer plötzlichen Reise, eine Entführung geradezu, die den Sänger aus der vertrauten Welt hinausreißt und in eine wundersam wirkende Fremde versetzt. Als wollte er für diese Reise Schutz erflehen, bittet er um Flügel: "O Fittiche gib uns, treuesten Sinns / Hinüberzugehn und wiederzukehren." Eine Bitte, die mit dem Übergang in ein unbekanntes Drüben gleich schon die gegenläufige Bewegung vorwegnimmt und Sorge trägt, dass auch die Wiederkehr gelinge. Was aber meint hier "treuesten Sinns"? Zielt der Ausdruck auf das Sinnliche oder eher auf Gesinnung? Und was hieße dabei jeweils "treu"?
Solche Fragen geben Luigi Reitani Anstoß, sich Gedanken über Hölderlin zu machen, die diesem deutschen Dichter vom Standpunkt eines Drüben nachspüren, konkret: vom Erfahrungsstandpunkt eines italienischen Übersetzers, der Hölderlins Texte seit langem in eine fremde Sprachwelt führt. Gerade das Italienische erscheint dafür vielversprechend, denn immerhin, schreibt Reitani, hatte Hölderlin in Jahren der Umnachtung seinen deutschen Namen abgelegt und sich stattdessen mit einer Reihe klangvoller italienischer Künstlernamen - Scardanelli, Scarivari, Rosetti, Buonarroti - neu erfunden. Was geschieht, wenn sich sein "treuester Sinn" auf eine solche Reise einlässt?
Die italienischen Übersetzungen der "Patmos"-Hymne wählen für den Ausdruck einhellig das Herz und sprechen von "con il cuore più fedele". Michael Hamburger dagegen, der sie ins Englische übersetzt hat, wählt an dieser Stelle das Wort "mind", das auch "Geist", "Verstand", "Seele" und "Gedanke" heißen mag. Für Reitani ist die Vielfalt der Varianten kein Verlust, sondern ein emphatischer Gewinn, der sich einstellt, wenn das Übersetzen unserer Gedichtlektüre ein weiteres Bedeutungsspektrum öffnet: "Es ist, als ob der ganze Mensch da wäre, mit Kopf und Herz und Sinnen, bei dieser Reise hinüber und zurück." Der treueste Sinn wäre jener, der erst ins Fremde hinübergegangen und dann verfremdet wiedergekehrt ist. Mit immer neuen Varianten umspielen seine Essays diesen Punkt.
Dabei weiß er, was in Rede steht. In zwei umfangreichen Bänden hat Reitani Hölderlins Gesamtwerk ins Italienische übersetzt, zweisprachig herausgegeben und ausführlich kommentiert. Zudem ist er eine bekannte Instanz internationaler Kulturvermittlung, lehrt deutsche Literatur an der Universität Udine und leitete bis zum vergangenen Jahr das italienische Kulturinstitut in Berlin. Die acht Essays (bis auf einen schon verstreut in diversen Fachorganen publiziert), die er zum Hölderlin-Jubiläum zusammengestellt hat, sind allen Lyriklesern wunderbar zugänglich. Obschon aus jedem die Kenntnis des Experten spricht, trägt Reitani die Gelehrsamkeit mit leichter Hand und nutzt sie subtil zur Fährtensuche, um uns einzuladen, Hölderlins Wegen ins Unbekannte nachzugehen.
Dazu erweist das Übersetzen sich als Kompass, und dies nicht nur, weil Hölderlin selbst Übersetzer war, der unserer Sprache - beispielsweise mit den Sophokles-Tragödien - bis dahin Unerhörtes und Gewagtes zugemutet hat. Alle Übersetzerarbeit zielt aufs Reisen und braucht Mut, denn sie will Sinn entführen, um ihm in entlegenen Welten neue Wirkung zu verschaffen. Deshalb geht es ihr nicht notwendig darum, die Spuren dieses Fremden auszumerzen und alle Sprache ins Vertraute heimzuholen, sondern vielmehr das wirksam zu machen, was sich solcher Anverwandlung widersetzt. So mag beim Übersetzen wie überhaupt beim Lesen starker Lyrik die Offenbarung darin liegen, dass wir nie zu Ende kommen. Das Trostwort Hölderlins könnte darin liegen, uns zum Widersinn und Aufbruch in ein Unbekanntes anzustiften. Hölderlin übersetzen, das zeigen uns Reitanis Lesehilfen, ist ein Weg zu seinem treuesten Sinn.
TOBIAS DÖRING
Luigi Reitani: "Hölderlin übersetzen". Gedanken über einen Dichter auf der Flucht.
Folio Verlag, Wien 2020.
108 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Luigi Reitani übersetzt Hölderlins Lyrik
Patmos ist eine unscheinbare Insel in der Ägäis, unweit der Küste von Kleinasien. Den Römern diente sie als Verbannungsort, und Johannes musste dort in unwirtlicher Fremde leben, als er jene Offenbarung empfing, die er den frühen Christen als Trostwort sandte und die zum letzten Buch des Neuen Testaments geworden ist. "Patmos" ist zugleich der Titel einer Hymne, die Friedrich Hölderlin 1803 verfasste, als sein Weg in innere Entrückung wie auch äußere Zerrüttung fortschreitend erkennbar wurde.
Diese Hymne, längst eins der bekanntesten Gedichte dieses Autors, besingt einen Moment des Aufbruchs zu einer plötzlichen Reise, eine Entführung geradezu, die den Sänger aus der vertrauten Welt hinausreißt und in eine wundersam wirkende Fremde versetzt. Als wollte er für diese Reise Schutz erflehen, bittet er um Flügel: "O Fittiche gib uns, treuesten Sinns / Hinüberzugehn und wiederzukehren." Eine Bitte, die mit dem Übergang in ein unbekanntes Drüben gleich schon die gegenläufige Bewegung vorwegnimmt und Sorge trägt, dass auch die Wiederkehr gelinge. Was aber meint hier "treuesten Sinns"? Zielt der Ausdruck auf das Sinnliche oder eher auf Gesinnung? Und was hieße dabei jeweils "treu"?
Solche Fragen geben Luigi Reitani Anstoß, sich Gedanken über Hölderlin zu machen, die diesem deutschen Dichter vom Standpunkt eines Drüben nachspüren, konkret: vom Erfahrungsstandpunkt eines italienischen Übersetzers, der Hölderlins Texte seit langem in eine fremde Sprachwelt führt. Gerade das Italienische erscheint dafür vielversprechend, denn immerhin, schreibt Reitani, hatte Hölderlin in Jahren der Umnachtung seinen deutschen Namen abgelegt und sich stattdessen mit einer Reihe klangvoller italienischer Künstlernamen - Scardanelli, Scarivari, Rosetti, Buonarroti - neu erfunden. Was geschieht, wenn sich sein "treuester Sinn" auf eine solche Reise einlässt?
Die italienischen Übersetzungen der "Patmos"-Hymne wählen für den Ausdruck einhellig das Herz und sprechen von "con il cuore più fedele". Michael Hamburger dagegen, der sie ins Englische übersetzt hat, wählt an dieser Stelle das Wort "mind", das auch "Geist", "Verstand", "Seele" und "Gedanke" heißen mag. Für Reitani ist die Vielfalt der Varianten kein Verlust, sondern ein emphatischer Gewinn, der sich einstellt, wenn das Übersetzen unserer Gedichtlektüre ein weiteres Bedeutungsspektrum öffnet: "Es ist, als ob der ganze Mensch da wäre, mit Kopf und Herz und Sinnen, bei dieser Reise hinüber und zurück." Der treueste Sinn wäre jener, der erst ins Fremde hinübergegangen und dann verfremdet wiedergekehrt ist. Mit immer neuen Varianten umspielen seine Essays diesen Punkt.
Dabei weiß er, was in Rede steht. In zwei umfangreichen Bänden hat Reitani Hölderlins Gesamtwerk ins Italienische übersetzt, zweisprachig herausgegeben und ausführlich kommentiert. Zudem ist er eine bekannte Instanz internationaler Kulturvermittlung, lehrt deutsche Literatur an der Universität Udine und leitete bis zum vergangenen Jahr das italienische Kulturinstitut in Berlin. Die acht Essays (bis auf einen schon verstreut in diversen Fachorganen publiziert), die er zum Hölderlin-Jubiläum zusammengestellt hat, sind allen Lyriklesern wunderbar zugänglich. Obschon aus jedem die Kenntnis des Experten spricht, trägt Reitani die Gelehrsamkeit mit leichter Hand und nutzt sie subtil zur Fährtensuche, um uns einzuladen, Hölderlins Wegen ins Unbekannte nachzugehen.
Dazu erweist das Übersetzen sich als Kompass, und dies nicht nur, weil Hölderlin selbst Übersetzer war, der unserer Sprache - beispielsweise mit den Sophokles-Tragödien - bis dahin Unerhörtes und Gewagtes zugemutet hat. Alle Übersetzerarbeit zielt aufs Reisen und braucht Mut, denn sie will Sinn entführen, um ihm in entlegenen Welten neue Wirkung zu verschaffen. Deshalb geht es ihr nicht notwendig darum, die Spuren dieses Fremden auszumerzen und alle Sprache ins Vertraute heimzuholen, sondern vielmehr das wirksam zu machen, was sich solcher Anverwandlung widersetzt. So mag beim Übersetzen wie überhaupt beim Lesen starker Lyrik die Offenbarung darin liegen, dass wir nie zu Ende kommen. Das Trostwort Hölderlins könnte darin liegen, uns zum Widersinn und Aufbruch in ein Unbekanntes anzustiften. Hölderlin übersetzen, das zeigen uns Reitanis Lesehilfen, ist ein Weg zu seinem treuesten Sinn.
TOBIAS DÖRING
Luigi Reitani: "Hölderlin übersetzen". Gedanken über einen Dichter auf der Flucht.
Folio Verlag, Wien 2020.
108 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main