Die Unterweltreise (katábasis) ist in der Literatur und in der Vorstellungswelt des 20. Jahrhunderts erstaunlich präsent - als Trope, als Thema und als Modell des literarischen Unternehmens. Was aber macht den ursprünglich mythologisch-religiösen Topos so anschlussfähig für die Moderne? Welche Funktion übernimmt die katábasis? Wofür steht die Unterwelt im 20. Jahrhundert? Und wo liegt sie? Isabel Platthaus untersucht in dieser Arbeit die strukturelle Funktion und die narrative Bestimmung des Topos der Unterweltreise. Indem sie die Entwicklungen des Motivs in literarischen wie außerliterarischen Diskursen verfolgt, entdeckt die Autorin einen kulturellen Imaginationsraum und ein narratives Modell, aus dem sie eine Poetik des Erzählens gewinnt. Damit ergänzt die Arbeit ihren literaturwissenschaftlichen Schwerpunkt durch eine kulturgeschichtliche Dimension. Eine Vermittlerrolle spielt hierbei die Psychoanalyse, welche die Autorin als großes "Epos der Psyche" fasst und in Verbindung zu den klassischen Vertretern des epischen Kanons - Homer, Vergil und Dante - setzt. Den Fluchtpunkt der narratologischen Perspektive stellt James Joyces Ulysses dar, ein epischer Text, der anhand des Motivs der Unterweltreise die Strategien des Erzählens vorführt und auch über dessen Grenzen hinausweist.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.09.2004Zur Hölle mit Joyce
Isabel Platthaus untergräbt die Katakomben der Moderne
Mit dem Mythos zu ringen ist das Geschäft von Giganten. Einer der letzten von ihnen war der Universalgelehrte Hans Blumenberg, dessen Lebensprojekt darin bestand, den zersplitterten Enden des abendländischen Mythos nachzuspüren, die über alle Geschichte hinweg in die Neuzeit hineinzüngeln. So luzid und anschlußfähig erscheinen Blumenbergs voluminöse Studien zur Genese unserer Hintergrundmetaphoriken, daß es wundernimmt, warum sie von aller studierten Welt geschätzt, doch von niemandem weitergeführt werden. Dafür mag die kaum zu erreichende Einstiegshöhe verantwortlich sein, aber ebenso ein kulturkonservativer Grundzug, der zumindest die Yale-Doktrinisten die Hände über den Allegorien zusammenschlagen ließ. In Einzelfragen allerdings findet eine Auseinandersetzung inzwischen statt. Isabel Platthaus hat sich nun in einer eleganten Untersuchung einem mythopoetischen Zentralmoment genähert: den Höllenfahrten. Dabei steht es in bester Tradition, daß sie mit dem ehemaligen Münsteraner Philosophieprofessor einen versierten Führer durch die Antischöpfung erwählt hat.
In einer metaphorologischen Analyse verfolgt Platthaus das Fortleben des Untergrunds nach dem "Kopernikanischen" Auseinandertreten seiner realen und symbolischen Bedeutung. Nicht zuletzt Galilei hat durch seine Vermessung von Dantes Inferno zur Urbarmachung der Hölle beigetragen. Doch hielt sich deren Suggestionsmacht, so die Ausgangshypothese, bis weit in die Moderne, idealtypisch ablesbar an der Bergwerksbegeisterung der Romantiker. Diesem kulturgeschichtlichen Auftakt folgt eine intensive Freudlektüre.
Tatsächlich gibt es gute Gründe, die "Tiefenpsychologie" als Epos einer Unterweltreise zu lesen. Den Abstieg zum Seelengrund erschwert dabei die unaufgelöste Spannung zwischen den beiden Metaphern "Archäologie" und "Unterwelt", Logos und Mythos. Dominiere im Frühwerk das entbergende Grabungsmotiv, so regiere im Jenseits des Lustprinzips eine Mythologie der Triebe, deren agonale Struktur - Todes- versus Lebenstrieb - eine mythosanaloge Zirkelstruktur bilde. Nun erkennt die Autorin just im "Wechselspiel von aufschiebendem Wiederholungszwang und zielstrebiger Endorientierung" das Grundmuster aller Epik. Von zwei Kräften zugleich, Zwang und Begehren, werde die Erzählung vorangetrieben. Das ist weder mit dem Umschlag von Mythos und Aufklärung zu verwechseln noch mit Blumenbergs Zurückweisung dieser Antithese zugunsten eines Logos des Mythos. Für Isabel Platthaus ist dieser "Kurzschluß" ebenfalls das Telos allen Erzählens, doch wird es niemals erreicht, so daß die Narration gut neostrukturalistisch mit dem permanenten Aufschub des Endes zusammenfällt.
Nirgends ließe sich dieses Umweg-Modell besser illustrieren als an der Unterweltreise selbst, die denn auch als Synekdoche der gesamten Epik fungiert. Auf der Höllenfahrt stiehlt sich das Ende als Andeutung in den Lauf der Erzählung, hat sich doch der Erzähler seine Autorität vom Tod geborgt. Die Vorwegnahme des Endes geschieht bereits durch das Aufrufen des Jenseits-Topos. Vor allem jedoch werden sub terra Verheißungen eingeholt: Odysseus konsultiert Teiresias, Aeneas Anchises. Beide großen Irrfahrer der Antike aber erreichen das prophezeite Ziel nicht, sei es der glückliche Tod des Odysseus, sei es die historische Tat des Aeneas. Anders scheint das im Fall der nächsten prominenten Visite im Ahnenreich zu sein. Doch auch in Dantes "Göttlicher Komödie" findet Isabel Platthaus, vielleicht etwas spitzfindig, das binäre Grundschema wieder, indem sie die Jenseitsreise mit ihrer Gottesschau lediglich als Vehikel auf der Rennbahn des Ruhms betrachtet.
Wichtig für das descensus-Motiv ist immer, an welcher Stelle der Begleiter zurückgelassen wird. Im vorliegenden Fall führt eine weitere Parallele zur "Arbeit am Mythos" über diese hinaus. Wie sich Blumenbergs Abhandlung auf dem Gipfel in eine Goethe-Studie verwandelt, mündet Platthaus' Höllenfahrtsszenario in eine Exegese des "Ulysses" von James Joyce. Das ist kein Zufall, bezeichnet doch die irische Odyssee präzise den Punkt, an dem sich der über sämtliche Textmeere gesegelte Gelehrte seine Rezeptoren mit Wachs verstopft hatte. Unter Aufbietung aller späthumanistischen, an der Mimesis festhaltenden Autorität - ähnlich, wenn auch vorsichtiger, hatte schließlich schon Erich Auerbach geurteilt - richtete der kauzige Mythologe sein Geschütz auf den kanonisierten Jahrhundertroman, in dem er nicht viel mehr erkannte als die "belanglose Tagestour und Heimkehr des Kleinbürgers Leopold Bloom", aufgeschwemmt durch sinnverweigernde Versatzstücke, irreführend, mystifizierend, kurz, ein überflüssiges Gebräu, das allenfalls Hermeneutiker trunken macht. Aber sollte es allein die nicht restlos auflösbare Verrätselung des neuen Nationalepos sein, die Blumenberg zu solchen Anwürfen reizte, oder doch vielmehr eine doppelte Abneigung gegen esoterische Leerstellengläubigkeit und genüßlich eingesetzten niederen Stil?
Die Tragfähigkeit von Platthaus' Szenario muß sich denn an der Einholung des "Ulysses" erweisen. Und es gelingt ihr, die Auseinandersetzung zwischen traditioneller und moderner katábasis in das Opus des Anstoßes hineinzuverlagern. Der Angelpunkt ihrer Interpretation ist die Feststellung, daß es im "Ulysses" nicht eine, sondern in ironischer Überbietung zwei Unterweltreisen samt ihrer internen Repetitionen gibt: das sich als Travestie der Tradition erweisende Hades-Kapitel und die in jeder Hinsicht entgrenzte Circe-Szene. Zeige die erste Höllenfahrt, wie in der Moderne nicht mehr erzählt werden könne, so referiere der zweite Abstieg - hier nun ein dekonstruktiver Schlenker: Detonation statt Denotation - auf die Bedingung der Möglichkeit des Erzählens. So kommt der Wiederholungszwang, dem die Autorin in bezug auf ihre These mitunter selbst unterliegt, gleich auf zwei Ebenen zur Geltung. Durch diese narratologische Ebenendifferenzierung läßt sich Blumenbergs Mythosinterpretation durchaus gewinnbringend mit der Lektüre des "Ulysses" vereinbaren.
Weniger die altbekannte Theorie, daß avantgardistische Texte vollziehen, wovon sie sprechen, und durch diese Performativität eine Hinwendung zur Materialität des Erzählten, zur Rhetorik, einhergeht, trägt die Arbeit, als die gelungene Fundierung dieses Gebarens auf der ihm vorausliegenden Tradition. Abschließend brilliert die Verfasserin noch mit einem weiteren Höllenritt durch die Unterwelten der Moderne, wobei sie dem Motiv in den Werken von T.S. Eliot, Thomas Mann, Jorge Luis Borges, vor allem aber Thomas Pynchon auf der Spur ist. Das Endkapitel über die im Untergrund lokalisierte Gegenwelt wünschte man sich - selbst auf Kosten von Joyce - gerne ausführlicher, blitzt doch eben hier der ganz andere Nimbus des "Underground" auf. Ein aus der Oberwelt vertriebener Wille besiedelt das verlassene Pandämonium, welches fortan als konspirativer Hort der Subversion vor sich hin brodelt. Pynchon, ein Name, den es bei Blumenberg nicht gibt: Er mochte diesem als der Antichrist höchstselbst erschienen sein.
OLIVER JUNGEN.
Isabel Platthaus: "Höllenfahrten". Die epische katábasis und die Unterwelten der Moderne. Wilhelm Fink Verlag, München 2004. 245 S., br., 32,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Isabel Platthaus untergräbt die Katakomben der Moderne
Mit dem Mythos zu ringen ist das Geschäft von Giganten. Einer der letzten von ihnen war der Universalgelehrte Hans Blumenberg, dessen Lebensprojekt darin bestand, den zersplitterten Enden des abendländischen Mythos nachzuspüren, die über alle Geschichte hinweg in die Neuzeit hineinzüngeln. So luzid und anschlußfähig erscheinen Blumenbergs voluminöse Studien zur Genese unserer Hintergrundmetaphoriken, daß es wundernimmt, warum sie von aller studierten Welt geschätzt, doch von niemandem weitergeführt werden. Dafür mag die kaum zu erreichende Einstiegshöhe verantwortlich sein, aber ebenso ein kulturkonservativer Grundzug, der zumindest die Yale-Doktrinisten die Hände über den Allegorien zusammenschlagen ließ. In Einzelfragen allerdings findet eine Auseinandersetzung inzwischen statt. Isabel Platthaus hat sich nun in einer eleganten Untersuchung einem mythopoetischen Zentralmoment genähert: den Höllenfahrten. Dabei steht es in bester Tradition, daß sie mit dem ehemaligen Münsteraner Philosophieprofessor einen versierten Führer durch die Antischöpfung erwählt hat.
In einer metaphorologischen Analyse verfolgt Platthaus das Fortleben des Untergrunds nach dem "Kopernikanischen" Auseinandertreten seiner realen und symbolischen Bedeutung. Nicht zuletzt Galilei hat durch seine Vermessung von Dantes Inferno zur Urbarmachung der Hölle beigetragen. Doch hielt sich deren Suggestionsmacht, so die Ausgangshypothese, bis weit in die Moderne, idealtypisch ablesbar an der Bergwerksbegeisterung der Romantiker. Diesem kulturgeschichtlichen Auftakt folgt eine intensive Freudlektüre.
Tatsächlich gibt es gute Gründe, die "Tiefenpsychologie" als Epos einer Unterweltreise zu lesen. Den Abstieg zum Seelengrund erschwert dabei die unaufgelöste Spannung zwischen den beiden Metaphern "Archäologie" und "Unterwelt", Logos und Mythos. Dominiere im Frühwerk das entbergende Grabungsmotiv, so regiere im Jenseits des Lustprinzips eine Mythologie der Triebe, deren agonale Struktur - Todes- versus Lebenstrieb - eine mythosanaloge Zirkelstruktur bilde. Nun erkennt die Autorin just im "Wechselspiel von aufschiebendem Wiederholungszwang und zielstrebiger Endorientierung" das Grundmuster aller Epik. Von zwei Kräften zugleich, Zwang und Begehren, werde die Erzählung vorangetrieben. Das ist weder mit dem Umschlag von Mythos und Aufklärung zu verwechseln noch mit Blumenbergs Zurückweisung dieser Antithese zugunsten eines Logos des Mythos. Für Isabel Platthaus ist dieser "Kurzschluß" ebenfalls das Telos allen Erzählens, doch wird es niemals erreicht, so daß die Narration gut neostrukturalistisch mit dem permanenten Aufschub des Endes zusammenfällt.
Nirgends ließe sich dieses Umweg-Modell besser illustrieren als an der Unterweltreise selbst, die denn auch als Synekdoche der gesamten Epik fungiert. Auf der Höllenfahrt stiehlt sich das Ende als Andeutung in den Lauf der Erzählung, hat sich doch der Erzähler seine Autorität vom Tod geborgt. Die Vorwegnahme des Endes geschieht bereits durch das Aufrufen des Jenseits-Topos. Vor allem jedoch werden sub terra Verheißungen eingeholt: Odysseus konsultiert Teiresias, Aeneas Anchises. Beide großen Irrfahrer der Antike aber erreichen das prophezeite Ziel nicht, sei es der glückliche Tod des Odysseus, sei es die historische Tat des Aeneas. Anders scheint das im Fall der nächsten prominenten Visite im Ahnenreich zu sein. Doch auch in Dantes "Göttlicher Komödie" findet Isabel Platthaus, vielleicht etwas spitzfindig, das binäre Grundschema wieder, indem sie die Jenseitsreise mit ihrer Gottesschau lediglich als Vehikel auf der Rennbahn des Ruhms betrachtet.
Wichtig für das descensus-Motiv ist immer, an welcher Stelle der Begleiter zurückgelassen wird. Im vorliegenden Fall führt eine weitere Parallele zur "Arbeit am Mythos" über diese hinaus. Wie sich Blumenbergs Abhandlung auf dem Gipfel in eine Goethe-Studie verwandelt, mündet Platthaus' Höllenfahrtsszenario in eine Exegese des "Ulysses" von James Joyce. Das ist kein Zufall, bezeichnet doch die irische Odyssee präzise den Punkt, an dem sich der über sämtliche Textmeere gesegelte Gelehrte seine Rezeptoren mit Wachs verstopft hatte. Unter Aufbietung aller späthumanistischen, an der Mimesis festhaltenden Autorität - ähnlich, wenn auch vorsichtiger, hatte schließlich schon Erich Auerbach geurteilt - richtete der kauzige Mythologe sein Geschütz auf den kanonisierten Jahrhundertroman, in dem er nicht viel mehr erkannte als die "belanglose Tagestour und Heimkehr des Kleinbürgers Leopold Bloom", aufgeschwemmt durch sinnverweigernde Versatzstücke, irreführend, mystifizierend, kurz, ein überflüssiges Gebräu, das allenfalls Hermeneutiker trunken macht. Aber sollte es allein die nicht restlos auflösbare Verrätselung des neuen Nationalepos sein, die Blumenberg zu solchen Anwürfen reizte, oder doch vielmehr eine doppelte Abneigung gegen esoterische Leerstellengläubigkeit und genüßlich eingesetzten niederen Stil?
Die Tragfähigkeit von Platthaus' Szenario muß sich denn an der Einholung des "Ulysses" erweisen. Und es gelingt ihr, die Auseinandersetzung zwischen traditioneller und moderner katábasis in das Opus des Anstoßes hineinzuverlagern. Der Angelpunkt ihrer Interpretation ist die Feststellung, daß es im "Ulysses" nicht eine, sondern in ironischer Überbietung zwei Unterweltreisen samt ihrer internen Repetitionen gibt: das sich als Travestie der Tradition erweisende Hades-Kapitel und die in jeder Hinsicht entgrenzte Circe-Szene. Zeige die erste Höllenfahrt, wie in der Moderne nicht mehr erzählt werden könne, so referiere der zweite Abstieg - hier nun ein dekonstruktiver Schlenker: Detonation statt Denotation - auf die Bedingung der Möglichkeit des Erzählens. So kommt der Wiederholungszwang, dem die Autorin in bezug auf ihre These mitunter selbst unterliegt, gleich auf zwei Ebenen zur Geltung. Durch diese narratologische Ebenendifferenzierung läßt sich Blumenbergs Mythosinterpretation durchaus gewinnbringend mit der Lektüre des "Ulysses" vereinbaren.
Weniger die altbekannte Theorie, daß avantgardistische Texte vollziehen, wovon sie sprechen, und durch diese Performativität eine Hinwendung zur Materialität des Erzählten, zur Rhetorik, einhergeht, trägt die Arbeit, als die gelungene Fundierung dieses Gebarens auf der ihm vorausliegenden Tradition. Abschließend brilliert die Verfasserin noch mit einem weiteren Höllenritt durch die Unterwelten der Moderne, wobei sie dem Motiv in den Werken von T.S. Eliot, Thomas Mann, Jorge Luis Borges, vor allem aber Thomas Pynchon auf der Spur ist. Das Endkapitel über die im Untergrund lokalisierte Gegenwelt wünschte man sich - selbst auf Kosten von Joyce - gerne ausführlicher, blitzt doch eben hier der ganz andere Nimbus des "Underground" auf. Ein aus der Oberwelt vertriebener Wille besiedelt das verlassene Pandämonium, welches fortan als konspirativer Hort der Subversion vor sich hin brodelt. Pynchon, ein Name, den es bei Blumenberg nicht gibt: Er mochte diesem als der Antichrist höchstselbst erschienen sein.
OLIVER JUNGEN.
Isabel Platthaus: "Höllenfahrten". Die epische katábasis und die Unterwelten der Moderne. Wilhelm Fink Verlag, München 2004. 245 S., br., 32,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.05.2005Schichten und Geschichten
Auch die Hölle ist nicht zeitlos: Eine Studie zur Unterweltreise in der Literatur
Die Unterweltreise ist ein klassischer Bestandteil des Epos, doch selbst in der literarischen Moderne, die den Glauben an den Mythos verloren hat, tritt das Motiv noch oft in Erscheinung. Die Komparatistin Isabel Platthaus hat es in einer klugen Studie, die das Thema von unterschiedlichen Seiten angeht, untersucht. Mit kulturhistorischem Interesse geht sie den Wandlungen nach, denen die Fantasien von der Unterwelt unterzogen waren. Wie sieht die Hölle aus? Und wo liegt sie? Ein Bruch mit Antworten, die das christliche Weltbild auf diese Fragen gegeben hatte, wird durch Galileis Unternehmung erkennbar, Dantes Hölle zu vermessen. Seit sich die Mathematik ihrer annimmt, ist die Unterwelt als sakraler Bereich nicht mehr brauchbar, später auch aufgrund von Industrialisierung und Geologie. Nach der Entzauberung der Welt durch die Moderne wird die Industrie jedoch metaphorisch als Hölle bezeichnet und in mythischen Bildern gefasst. Das Bergwerk mit seinen Flammen und Schatten erscheint der romantischen Epoche wie ein Pandämonium arbeitender Teufel. So erhält die moderne Unterwelt den ästhetischen Wert des Erhabenen, wie bei Burke und Schelling, aber auch schon bei Milton, der Satan als Ideal des Erhabenen sieht. Spätestens nach dem Boom der Geologie im 19. Jahrhundert ist der Untergrund kaum mehr interessant als Ort der Natur, sondern nur noch als Ort der Kultur.
Die Psychoanalyse kreiert zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Wissenschaft vom Unbewussten eine ganz neue Unterwelt. Sie löst das vormals flächige Bild von Bewusstsein durch das „tiefe” ab. Tatsächlich versteht sich Freud als Archäologe, wie aus seinen Briefen deutlich wird. Es geht ihm um das Abtragen von Schichten, aus denen sich Geschichten gewinnen lassen. Lässt sich die „Traumdeutung” noch als Konkurrenzunternehmen gegen die Archäologie lesen - Freud tritt, sein eigenes Unbewusstes analysierend, wie Vergil um des toten Vaters willen eine epische Unterweltfahrt an -, so triumphiert er Jahre später mit der kulturpsychologischen Schrift „Das Unbehagen in der Kultur” über sie. Denn entgegen der Archäologie, die den Mythos der Unterwelt als Hintergrund denkt, schreibt Freud hier einen ganz neuen Mythos: „Die Trieblehre ist sozusagen unsere Mythologie.” Und indem Freud den Todestrieb einführt, hält er sich die Möglichkeit einer Geschichte mit Anfang und Ende, eines abgeschlossenen Kreises in Form des Großen Mythos offen. Den wiederum braucht er, weil seine Fallstudien unabgeschlossen bleiben müssen, solange seine Patienten leben. Das Ende ihrer Seelengeschichte koinzidiert mit dem Tod. Die Aufnahme des Mythos in die Psychoanalyse erlaubt Freud ein hypothetisches Vorlaufen zum Tod und damit ein vorläufiges Abschließen der Analyse.
In diesem vorläufigen Abschließen steckt ein metapoetisches Programm. Ein Text, der sich innerhalb seiner selbst, nämlich in der Unterweltfahrt, selber als abgeschlossenen vorstellt, gibt seinen Bauplan preis. Isabel Platthaus zeigt das vor allem an der „Ulysses”-Episode „Circe”, die sie nicht nur als Unbewusstes Blooms, sondern auch des Textes selbst versteht. Freuds mythisches Konstrukt wird sichtbar, wenn die Autorin zeigt, dass nicht bloß Eros Movens von „Circe” ist, sondern auch Thanatos. Sie löst eine alte Crux der Joyce-Forschung in genau diesem Sinne. Die Phrase vom „word known to all men” wurde seit der kritischen Edition Hans Walter Gablers als Umschreibung für „Liebe” gelesen. Platthaus weist auf die zahlreichen Todes- und Verwesungsbilder in „Circe” hin und schlägt statt einem Lösungswort eine Leerstelle vor, die gleichzeitig „Liebe” und „Tod” verschluckt. Das ist plausibel, weil „Circe” wie ein Traum funktioniert, also auch Gegensätze in eins setzt.
Ähnlich, jedoch postmodern gewendet, stellt sich die abschließende Pynchon-Exegese dar. In „Die Enden der Parabel” werden Eros und Thanatos in der Unterwelt vereint, weil aus dem vormals positiv besetzten Himmel nun auch Böses kommt - die deutsche V2. In der Unterwelt vermischen sich nun die Kategorien; sie wird zum anarchischen Raum, in dem der Satz vom Widerspruch nicht gilt.
KAI WIEGANDT
ISABEL PLATTHAUS: Höllenfahrten. Die epische Katabasis und die Unterwelten der Moderne. Wilhelm Fink Verlag, München 2004. 245 Seiten, 32,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Auch die Hölle ist nicht zeitlos: Eine Studie zur Unterweltreise in der Literatur
Die Unterweltreise ist ein klassischer Bestandteil des Epos, doch selbst in der literarischen Moderne, die den Glauben an den Mythos verloren hat, tritt das Motiv noch oft in Erscheinung. Die Komparatistin Isabel Platthaus hat es in einer klugen Studie, die das Thema von unterschiedlichen Seiten angeht, untersucht. Mit kulturhistorischem Interesse geht sie den Wandlungen nach, denen die Fantasien von der Unterwelt unterzogen waren. Wie sieht die Hölle aus? Und wo liegt sie? Ein Bruch mit Antworten, die das christliche Weltbild auf diese Fragen gegeben hatte, wird durch Galileis Unternehmung erkennbar, Dantes Hölle zu vermessen. Seit sich die Mathematik ihrer annimmt, ist die Unterwelt als sakraler Bereich nicht mehr brauchbar, später auch aufgrund von Industrialisierung und Geologie. Nach der Entzauberung der Welt durch die Moderne wird die Industrie jedoch metaphorisch als Hölle bezeichnet und in mythischen Bildern gefasst. Das Bergwerk mit seinen Flammen und Schatten erscheint der romantischen Epoche wie ein Pandämonium arbeitender Teufel. So erhält die moderne Unterwelt den ästhetischen Wert des Erhabenen, wie bei Burke und Schelling, aber auch schon bei Milton, der Satan als Ideal des Erhabenen sieht. Spätestens nach dem Boom der Geologie im 19. Jahrhundert ist der Untergrund kaum mehr interessant als Ort der Natur, sondern nur noch als Ort der Kultur.
Die Psychoanalyse kreiert zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Wissenschaft vom Unbewussten eine ganz neue Unterwelt. Sie löst das vormals flächige Bild von Bewusstsein durch das „tiefe” ab. Tatsächlich versteht sich Freud als Archäologe, wie aus seinen Briefen deutlich wird. Es geht ihm um das Abtragen von Schichten, aus denen sich Geschichten gewinnen lassen. Lässt sich die „Traumdeutung” noch als Konkurrenzunternehmen gegen die Archäologie lesen - Freud tritt, sein eigenes Unbewusstes analysierend, wie Vergil um des toten Vaters willen eine epische Unterweltfahrt an -, so triumphiert er Jahre später mit der kulturpsychologischen Schrift „Das Unbehagen in der Kultur” über sie. Denn entgegen der Archäologie, die den Mythos der Unterwelt als Hintergrund denkt, schreibt Freud hier einen ganz neuen Mythos: „Die Trieblehre ist sozusagen unsere Mythologie.” Und indem Freud den Todestrieb einführt, hält er sich die Möglichkeit einer Geschichte mit Anfang und Ende, eines abgeschlossenen Kreises in Form des Großen Mythos offen. Den wiederum braucht er, weil seine Fallstudien unabgeschlossen bleiben müssen, solange seine Patienten leben. Das Ende ihrer Seelengeschichte koinzidiert mit dem Tod. Die Aufnahme des Mythos in die Psychoanalyse erlaubt Freud ein hypothetisches Vorlaufen zum Tod und damit ein vorläufiges Abschließen der Analyse.
In diesem vorläufigen Abschließen steckt ein metapoetisches Programm. Ein Text, der sich innerhalb seiner selbst, nämlich in der Unterweltfahrt, selber als abgeschlossenen vorstellt, gibt seinen Bauplan preis. Isabel Platthaus zeigt das vor allem an der „Ulysses”-Episode „Circe”, die sie nicht nur als Unbewusstes Blooms, sondern auch des Textes selbst versteht. Freuds mythisches Konstrukt wird sichtbar, wenn die Autorin zeigt, dass nicht bloß Eros Movens von „Circe” ist, sondern auch Thanatos. Sie löst eine alte Crux der Joyce-Forschung in genau diesem Sinne. Die Phrase vom „word known to all men” wurde seit der kritischen Edition Hans Walter Gablers als Umschreibung für „Liebe” gelesen. Platthaus weist auf die zahlreichen Todes- und Verwesungsbilder in „Circe” hin und schlägt statt einem Lösungswort eine Leerstelle vor, die gleichzeitig „Liebe” und „Tod” verschluckt. Das ist plausibel, weil „Circe” wie ein Traum funktioniert, also auch Gegensätze in eins setzt.
Ähnlich, jedoch postmodern gewendet, stellt sich die abschließende Pynchon-Exegese dar. In „Die Enden der Parabel” werden Eros und Thanatos in der Unterwelt vereint, weil aus dem vormals positiv besetzten Himmel nun auch Böses kommt - die deutsche V2. In der Unterwelt vermischen sich nun die Kategorien; sie wird zum anarchischen Raum, in dem der Satz vom Widerspruch nicht gilt.
KAI WIEGANDT
ISABEL PLATTHAUS: Höllenfahrten. Die epische Katabasis und die Unterwelten der Moderne. Wilhelm Fink Verlag, München 2004. 245 Seiten, 32,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Mit ihren "Höllenfahrten" hat sich die ehemalige Münsteraner Philosophieprofessorin nach Ansicht von Rezensent Oliver Jungen in einer eleganten metaphorologischen Untersuchung einem mythenpoetischen Zentralmoment genähert. In der Analyse, die der Rezensent in der Tradition des "letzten Universalgelehrten" Hans Blumenberg stehen sieht, untersuche Platthaus "das Fortleben des Untergrunds" nach dem Kopernikanischen Auseinandertreten seiner realen und symbolischen Bedeutung. Die Untersuchung beginnt Jungen zufolge mit der Ausgangshypothese, dass sich die Suggestionsmacht der Hölle bis weit in die Moderne gehalten hat, was für die Autorin "idealtypisch" an der Bergwerksbegeisterung der Romantiker ablesbar sei. Diesem "kulturgeschichtliche Auftakt" folge eine intensive Freud-Lektüre, und für den Rezensenten scheinen die Gründe der Autorin, Freuds Tiefenpsychologie als "Epos einer Unterweltreise" zu begreifen, mehr als plausibel zu sein. Auch die "Ulysses-Exegese", in die er Platthaus' Auseinandersetzung mit dem Mythos "Unterwelt" schließlich münden sieht, fand er spannend und überzeugend. Lediglich die in ihrer Argumentation unaufgelöste Spannung zwischen den Metaphern "Archäologie" und "Unterwelt" erschwerten ihm mitunter den Abstieg in den Mythos Untergrund. Manchmal findet er die Autorin außerdem eine Spur zu spitzfindig,, was jedoch insgesamt sein intellektuelles Lesevergnügen nicht beeinträchtigt hat.
© Perlentaucher Medien GmbH"
© Perlentaucher Medien GmbH"