In seinem Bestseller »Höllensturz« erzählt Ian Kershaw meisterhaft die dramatische Geschichte Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Das europäische zwanzigste Jahrhundert war geprägt von kriegerischen Auseinandersetzungen. Europa erlebte gewaltige Turbulenzen, die Hölle zweier Weltkriege in der ersten Jahrhunderthälfte und tiefgreifende Veränderungen.
Der britische Historiker Ian Kershaw erzählt in einem meisterhaften Panorama die Geschichte dieses Kontinents vom Vorabend des Ersten Weltkriegs bis in die Zeit des beginnenden Kalten Kriegs Ende der vierziger Jahre, nachdem die europäische Zivilisation an den Rand der Selbstzerstörung gelangt war. Ethnische Auseinandersetzungen, aggressiver Nationalismus und Gebietsstreitigkeiten, Klassenkonflikte und die tiefe Krise des Kapitalismus waren die treibenden Kräfte, die Kershaw dabei besonders in den Blick nimmt. Neben den großen Entwicklungslinien in Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft schildert er auch immer wieder Erlebnisse und Erfahrungen einzelner, die einen Eindruck geben vom Leben im Europa der ersten Jahrhunderthälfte.
Ausstattung: mit Abbildungen
Das europäische zwanzigste Jahrhundert war geprägt von kriegerischen Auseinandersetzungen. Europa erlebte gewaltige Turbulenzen, die Hölle zweier Weltkriege in der ersten Jahrhunderthälfte und tiefgreifende Veränderungen.
Der britische Historiker Ian Kershaw erzählt in einem meisterhaften Panorama die Geschichte dieses Kontinents vom Vorabend des Ersten Weltkriegs bis in die Zeit des beginnenden Kalten Kriegs Ende der vierziger Jahre, nachdem die europäische Zivilisation an den Rand der Selbstzerstörung gelangt war. Ethnische Auseinandersetzungen, aggressiver Nationalismus und Gebietsstreitigkeiten, Klassenkonflikte und die tiefe Krise des Kapitalismus waren die treibenden Kräfte, die Kershaw dabei besonders in den Blick nimmt. Neben den großen Entwicklungslinien in Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft schildert er auch immer wieder Erlebnisse und Erfahrungen einzelner, die einen Eindruck geben vom Leben im Europa der ersten Jahrhunderthälfte.
Ausstattung: mit Abbildungen
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Klaus Hillenbrand wünschte, Ian Kershaw würde von jenen gelesen werden, die in der Krise der EU, der Annexion der Krim und der Unterhöhlung der Demokratie nichts Unheilvolles erkennen können. Wenn der britische Historiker die europäischen Katastrophen analysiert, springen dem Rezensenten durchaus die Parallelen zu den aktuellen Krisen ins Auge. Voller Überzeugung und Bewunderung für Kershaws "glänzend geschriebenes" Geschichtswerk, stellt sich Hillenbrand hinter dessen Thesen und dankt ihm für die Erweiterung des Blickwinkels um eine "europäische Dimension"auf die Geschehnisse damals und heute, mit Erkenntnispotential.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2016Schlafwandler gab es überall
Die Fassungslosigkeit, aus der alle Europäer lernten: Der englische Historiker Ian Kershaw hat ein exzellentes Buch über den zerrissenen Kontinent zwischen 1914 und 1949 geschrieben.
Die Geschichte der Länder Europas im zwanzigsten Jahrhundert ist denkbar unterschiedlich verlaufen, und auch die Erfahrungen der Menschen waren von Land zu Land verschieden. Der Kontinent war vor allem durch seine Vielfalt gekennzeichnet und ist es noch. Gibt es unter diesen Voraussetzungen überhaupt so etwas wie eine europäische Geschichte? Kann man als Einheit erzählen, was sich vor allem durch Vielheit auszeichnet? Man kann, Ian Kershaw führt es auf ebenso eindrückliche wie elegante Weise vor.
Aber auch die Widersprüche und Disparitäten eines solchen Vorhabens treten dabei hervor. Kershaw geht nicht von einer fiktiven Einheit "Europa" aus, sondern nimmt den Begriff zunächst einmal geographisch und erzählt die Geschichte der einzelnen Länder zwar miteinander verwoben, aber doch für sich. Seine Leitfrage ist einfach und plausibel: Wie kam es dazu, dass sich Europa in den vierziger Jahren beinahe selbst zerstört hat? Und natürlich spielen bei einer solchen Frage manche Länder eine sehr große, andere gar keine Rolle. Kershaws Ausgangspunkt ist die sich herausbildende Konfrontation von Demokratie und Diktaturen als Signum der Epoche, wobei er sehr sorgfältig die Abstufungen von autoritären Regimes und faschistischen Diktaturen darlegt.
Auf dieser Grundlage entfaltet Kershaw ein weites Panorama, sprachlich ebenso zurückhaltend wie präzise. Immer wieder aufs Neue geht er dafür die Reihe der europäischen Länder durch. Dabei wird - oft nur auf einer halben oder ganzen Seite - das Spezifische mit großer Klarheit herausgearbeitet, werden nationale Unterschiede und Gemeinsamkeiten deutlich gemacht. Überraschend wenig Raum widmet er hingegen der Kolonialpolitik der Mächte, so dass die Frage nach der Bedeutung des Kolonialismus für die Entwicklung auf dem Kontinent etwas unbestimmt bleibt.
Die Grundstruktur des Buches ist konventionell. Die Politik steht im Vordergrund, es wird chronologisch erzählt, und nahezu die Hälfte des Buches ist Deutschland gewidmet, dessen Aufstieg, Fall, Wiederaufstieg und erneuten Sturz Kershaw mit großer Sorgfalt, geradezu mit Anteilnahme schildert. Bei der Frage nach der "Schuld" am Ersten Weltkrieg stellt er das Bild von den "Schlafwandlern" in Frage: Er lässt zwar keinen Zweifel daran, dass Deutschland in etwas höherem Maß für den Ausbruch des Krieges verantwortlich zu machen ist als die anderen Großmächte, doch die taten ihrerseits auch nichts, um den Konflikt zu entschärfen, im Gegenteil.
Der beschleunigte Aufstieg der politischen Rechten
Dieser Krieg ist für Kershaw der Ausgangspunkt jenes "Höllensturzes" als den er die Entwicklung Europas in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts versteht. Tatsächlich aber beginnt er das Buch mit einem Kapitel über die beiden Jahrzehnte vor 1914, das er "Das Goldene Zeitalter" nennt, in dem mit der modernen Industriegesellschaft all jene Widersprüche und politischen Bewegungen entstanden, die das Gesicht der Epoche prägen sollten, vom Aufstieg des Sozialismus und des völkischen Nationalismus bis zu Eugenik und Antisemitismus. Ist dann aber nicht der Erste Weltkrieg nicht doch eher Katalysator als Ausgangspunkt jener Entwicklungen, die dann zur Katastrophe des Zweiten Weltkriegs führten?
Im Mittelpunkt der Kapitel über die Zwischenkriegszeit steht der sich nach der kurzen Phase der Hegemonie der Linken rasch beschleunigende Aufstieg der politischen Rechten in allen Ländern. Dabei verweist Kershaw immer wieder darauf, dass sich die Demokratie abgesehen von den Neutralen nur in den Siegerländern des Ersten Weltkriegs halten oder durchsetzen konnte, während bei den Kriegsverlierern sich nach kurzer oder längerer Zeit Diktaturen herausbildeten. Die große Ausnahme war Italien, das zu den Siegern gehörte, sich aber schon in den frühen zwanziger Jahren in die Arme Mussolinis warf. Doch Italien war ein Land der gefühlten Niederlage, weil es im Krieg nur geringe Teile seiner territorialen Erweiterungsziele hatte durchsetzen können.
Der Aufstieg Hitlers in Deutschland war gewiss nicht alternativlos, das wird sehr deutlich. Nachdem die Republik die unzähligen Unruhen, Rebellionen, die Putsche von rechts und die Aufstände von links überstanden hatte, schließlich auch noch die Ruhr-Besetzung und die verheerende Inflation, wurde Weimar erst durch die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise zur Strecke gebracht. Mit Hitlers Machtübernahme aber waren die Aussichten auf eine friedliche Zukunft des Kontinents dahin, zu eindeutig setzte der Diktator auf die Revanche für die Niederlage 1918 und auf die Errichtung eines Kolonialraums im Osten.
Angesichts der gewaltigen Aufrüstung des Nazi-Reiches bot die Rheinland-Besetzung 1935 die letzte Gelegenheit, um Hitler in den Arm zu fallen. Aber eine gefährliche Krise, womöglich einen Krieg riskieren, wenn die Deutschen in Deutschland einmarschierten? "Appeasement" war der Versuch der Beschwichtigung, der friedlichen Beilegung der Konflikte, betont Kershaw, auch Ausdruck des schlechten Gewissens gegenüber Deutschland wegen der harschen Bedingungen von Versailles. Das führte zum Münchner Abkommen, das Kershaw als Kapitulation des Westens beschreibt, aber auch als Wendepunkt. Danach ging es nur noch um Zeitgewinn, um nachzurüsten.
Die schwierige Durchsetzung pluralistischer Werte
Den Krieg schildert Kershaw in allen Facetten, verweist immer wieder auf die Dynamik der Gewalt, die das nationalsozialistische Deutschland in Gang setzte und deren furchtbarster Ausdruck der Mord an den Juden war. Kershaw lässt keinen Zweifel daran, wie breit die Unterstützung Hitlers in der deutschen Bevölkerung war, auch während des Krieges, wenngleich er sich von vereinfachenden Erklärungsmustern wie der Vorstellung von einer homogenen "Volksgemeinschaft" absetzt.
Diese in ihrer Genauigkeit und Vielfalt außerordentlich beeindruckenden Passagen machen den Hauptteil des Buches aus. Ihnen schließt sich ein Kapitel an, in dem "Kontinuitäten langfristiger sozioökonomischer Wertesysteme, auch kulturelle Entwicklungslinien" skizziert werden, die im Verlaufe der Erzählung nicht berücksichtigt worden waren. Hier kommt vieles zusammen: Bevölkerungsentwicklung, Kriegswirtschaft, Ausbau der Sozialversicherungssysteme, die Stellung der Frauen, die Rolle der Kirchen und der Intellektuellen, schließlich die populäre Unterhaltung. Das ist im Einzelnen ebenso interessant wie bedeutsam, aber es wirkt zuweilen doch etwas ungeordnet. Man hätte sich gewünscht, die kulturellen oder wirtschaftlichen Entwicklungen wären direkt mit den politischen in Bezug gesetzt worden.
Kershaw beendet den ersten Teil seiner auf zwei Bände berichteten Darstellung nicht mit dem Jahr 1945, sondern mit einem Kapitel über die Nachkriegsjahre bis 1949. Eingehend beschreibt er die verschieden ausfallende Abrechnung mit Nazismus und Kollaboration in den europäischen Ländern. Die schwierige Durchsetzung pluralistischer, demokratischer Verhältnisse im Westen und die Errichtung neuer Tyrannei unter sowjetischer Besatzung stehen am Ende dieser Darstellung.
Wie kam es dazu, dass sich Europa in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts beinahe selbst zerstört hätte? Der Aufstieg des radikalen Nationalismus und des Kommunismus stalinistischer Prägung im Kontext des Ersten Weltkriegs steht bei Kershaw im Mittelpunkt. Die Tatsache, dass sich die liberale Demokratie in den Verliererländern des Ersten Weltkriegs nicht hatte durchsetzen können, dass insbesondere in Deutschland der Drang zur Revanche so breite Unterstützung und in Hitler schließlich die Person fand, die diesen Drang in ein massenmörderisches Programm einzigartiger Radikalität umsetzte: Darin, so zeigt uns Kershaw in eindrücklicher Weise, liegt die wesentliche Ursache für den "Höllensturz".
Gibt es nun eine europäische Geschichte? Nein, wenn man darunter eine homogenisierende, die extrem unterschiedlichen Entwicklungen einebnende Sichtweise verstünde. Ja, wenn man wie Kershaw die gemeinsamen ebenso wie die unterschiedlichen Erfahrungen der Europäer deutlich herausstellt, die spezifischen Wege einzelner, gerade kleinerer Länder berücksichtigt und etwas von der Fassungslosigkeit mitteilt, die nahezu alle Europäer ergriff, als sie das Ausmaß des Schreckens und der Vernichtung auf ihrem Kontinent erkannten.
Hier lag, das ist die Quintessenz dieses Buches, der Ausgangspunkt für die dann in weiten Teilen des Kontinents viel bessere zweite Hälfte des Jahrhunderts. Wenngleich wir gegenwärtig beobachten können, wie der Nachhall dieses Schreckens, der Europa auf einen besseren Weg brachte, sich zu verflüchtigen beginnt.
ULRICH HERBERT
Ian Kershaw: "Höllensturz". Europa 1914 bis 1949.
Aus dem Englischen von Klaus Binder, Bernd Leineweber, Britta Schröder. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2016. 768 S., geb., 34,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Fassungslosigkeit, aus der alle Europäer lernten: Der englische Historiker Ian Kershaw hat ein exzellentes Buch über den zerrissenen Kontinent zwischen 1914 und 1949 geschrieben.
Die Geschichte der Länder Europas im zwanzigsten Jahrhundert ist denkbar unterschiedlich verlaufen, und auch die Erfahrungen der Menschen waren von Land zu Land verschieden. Der Kontinent war vor allem durch seine Vielfalt gekennzeichnet und ist es noch. Gibt es unter diesen Voraussetzungen überhaupt so etwas wie eine europäische Geschichte? Kann man als Einheit erzählen, was sich vor allem durch Vielheit auszeichnet? Man kann, Ian Kershaw führt es auf ebenso eindrückliche wie elegante Weise vor.
Aber auch die Widersprüche und Disparitäten eines solchen Vorhabens treten dabei hervor. Kershaw geht nicht von einer fiktiven Einheit "Europa" aus, sondern nimmt den Begriff zunächst einmal geographisch und erzählt die Geschichte der einzelnen Länder zwar miteinander verwoben, aber doch für sich. Seine Leitfrage ist einfach und plausibel: Wie kam es dazu, dass sich Europa in den vierziger Jahren beinahe selbst zerstört hat? Und natürlich spielen bei einer solchen Frage manche Länder eine sehr große, andere gar keine Rolle. Kershaws Ausgangspunkt ist die sich herausbildende Konfrontation von Demokratie und Diktaturen als Signum der Epoche, wobei er sehr sorgfältig die Abstufungen von autoritären Regimes und faschistischen Diktaturen darlegt.
Auf dieser Grundlage entfaltet Kershaw ein weites Panorama, sprachlich ebenso zurückhaltend wie präzise. Immer wieder aufs Neue geht er dafür die Reihe der europäischen Länder durch. Dabei wird - oft nur auf einer halben oder ganzen Seite - das Spezifische mit großer Klarheit herausgearbeitet, werden nationale Unterschiede und Gemeinsamkeiten deutlich gemacht. Überraschend wenig Raum widmet er hingegen der Kolonialpolitik der Mächte, so dass die Frage nach der Bedeutung des Kolonialismus für die Entwicklung auf dem Kontinent etwas unbestimmt bleibt.
Die Grundstruktur des Buches ist konventionell. Die Politik steht im Vordergrund, es wird chronologisch erzählt, und nahezu die Hälfte des Buches ist Deutschland gewidmet, dessen Aufstieg, Fall, Wiederaufstieg und erneuten Sturz Kershaw mit großer Sorgfalt, geradezu mit Anteilnahme schildert. Bei der Frage nach der "Schuld" am Ersten Weltkrieg stellt er das Bild von den "Schlafwandlern" in Frage: Er lässt zwar keinen Zweifel daran, dass Deutschland in etwas höherem Maß für den Ausbruch des Krieges verantwortlich zu machen ist als die anderen Großmächte, doch die taten ihrerseits auch nichts, um den Konflikt zu entschärfen, im Gegenteil.
Der beschleunigte Aufstieg der politischen Rechten
Dieser Krieg ist für Kershaw der Ausgangspunkt jenes "Höllensturzes" als den er die Entwicklung Europas in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts versteht. Tatsächlich aber beginnt er das Buch mit einem Kapitel über die beiden Jahrzehnte vor 1914, das er "Das Goldene Zeitalter" nennt, in dem mit der modernen Industriegesellschaft all jene Widersprüche und politischen Bewegungen entstanden, die das Gesicht der Epoche prägen sollten, vom Aufstieg des Sozialismus und des völkischen Nationalismus bis zu Eugenik und Antisemitismus. Ist dann aber nicht der Erste Weltkrieg nicht doch eher Katalysator als Ausgangspunkt jener Entwicklungen, die dann zur Katastrophe des Zweiten Weltkriegs führten?
Im Mittelpunkt der Kapitel über die Zwischenkriegszeit steht der sich nach der kurzen Phase der Hegemonie der Linken rasch beschleunigende Aufstieg der politischen Rechten in allen Ländern. Dabei verweist Kershaw immer wieder darauf, dass sich die Demokratie abgesehen von den Neutralen nur in den Siegerländern des Ersten Weltkriegs halten oder durchsetzen konnte, während bei den Kriegsverlierern sich nach kurzer oder längerer Zeit Diktaturen herausbildeten. Die große Ausnahme war Italien, das zu den Siegern gehörte, sich aber schon in den frühen zwanziger Jahren in die Arme Mussolinis warf. Doch Italien war ein Land der gefühlten Niederlage, weil es im Krieg nur geringe Teile seiner territorialen Erweiterungsziele hatte durchsetzen können.
Der Aufstieg Hitlers in Deutschland war gewiss nicht alternativlos, das wird sehr deutlich. Nachdem die Republik die unzähligen Unruhen, Rebellionen, die Putsche von rechts und die Aufstände von links überstanden hatte, schließlich auch noch die Ruhr-Besetzung und die verheerende Inflation, wurde Weimar erst durch die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise zur Strecke gebracht. Mit Hitlers Machtübernahme aber waren die Aussichten auf eine friedliche Zukunft des Kontinents dahin, zu eindeutig setzte der Diktator auf die Revanche für die Niederlage 1918 und auf die Errichtung eines Kolonialraums im Osten.
Angesichts der gewaltigen Aufrüstung des Nazi-Reiches bot die Rheinland-Besetzung 1935 die letzte Gelegenheit, um Hitler in den Arm zu fallen. Aber eine gefährliche Krise, womöglich einen Krieg riskieren, wenn die Deutschen in Deutschland einmarschierten? "Appeasement" war der Versuch der Beschwichtigung, der friedlichen Beilegung der Konflikte, betont Kershaw, auch Ausdruck des schlechten Gewissens gegenüber Deutschland wegen der harschen Bedingungen von Versailles. Das führte zum Münchner Abkommen, das Kershaw als Kapitulation des Westens beschreibt, aber auch als Wendepunkt. Danach ging es nur noch um Zeitgewinn, um nachzurüsten.
Die schwierige Durchsetzung pluralistischer Werte
Den Krieg schildert Kershaw in allen Facetten, verweist immer wieder auf die Dynamik der Gewalt, die das nationalsozialistische Deutschland in Gang setzte und deren furchtbarster Ausdruck der Mord an den Juden war. Kershaw lässt keinen Zweifel daran, wie breit die Unterstützung Hitlers in der deutschen Bevölkerung war, auch während des Krieges, wenngleich er sich von vereinfachenden Erklärungsmustern wie der Vorstellung von einer homogenen "Volksgemeinschaft" absetzt.
Diese in ihrer Genauigkeit und Vielfalt außerordentlich beeindruckenden Passagen machen den Hauptteil des Buches aus. Ihnen schließt sich ein Kapitel an, in dem "Kontinuitäten langfristiger sozioökonomischer Wertesysteme, auch kulturelle Entwicklungslinien" skizziert werden, die im Verlaufe der Erzählung nicht berücksichtigt worden waren. Hier kommt vieles zusammen: Bevölkerungsentwicklung, Kriegswirtschaft, Ausbau der Sozialversicherungssysteme, die Stellung der Frauen, die Rolle der Kirchen und der Intellektuellen, schließlich die populäre Unterhaltung. Das ist im Einzelnen ebenso interessant wie bedeutsam, aber es wirkt zuweilen doch etwas ungeordnet. Man hätte sich gewünscht, die kulturellen oder wirtschaftlichen Entwicklungen wären direkt mit den politischen in Bezug gesetzt worden.
Kershaw beendet den ersten Teil seiner auf zwei Bände berichteten Darstellung nicht mit dem Jahr 1945, sondern mit einem Kapitel über die Nachkriegsjahre bis 1949. Eingehend beschreibt er die verschieden ausfallende Abrechnung mit Nazismus und Kollaboration in den europäischen Ländern. Die schwierige Durchsetzung pluralistischer, demokratischer Verhältnisse im Westen und die Errichtung neuer Tyrannei unter sowjetischer Besatzung stehen am Ende dieser Darstellung.
Wie kam es dazu, dass sich Europa in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts beinahe selbst zerstört hätte? Der Aufstieg des radikalen Nationalismus und des Kommunismus stalinistischer Prägung im Kontext des Ersten Weltkriegs steht bei Kershaw im Mittelpunkt. Die Tatsache, dass sich die liberale Demokratie in den Verliererländern des Ersten Weltkriegs nicht hatte durchsetzen können, dass insbesondere in Deutschland der Drang zur Revanche so breite Unterstützung und in Hitler schließlich die Person fand, die diesen Drang in ein massenmörderisches Programm einzigartiger Radikalität umsetzte: Darin, so zeigt uns Kershaw in eindrücklicher Weise, liegt die wesentliche Ursache für den "Höllensturz".
Gibt es nun eine europäische Geschichte? Nein, wenn man darunter eine homogenisierende, die extrem unterschiedlichen Entwicklungen einebnende Sichtweise verstünde. Ja, wenn man wie Kershaw die gemeinsamen ebenso wie die unterschiedlichen Erfahrungen der Europäer deutlich herausstellt, die spezifischen Wege einzelner, gerade kleinerer Länder berücksichtigt und etwas von der Fassungslosigkeit mitteilt, die nahezu alle Europäer ergriff, als sie das Ausmaß des Schreckens und der Vernichtung auf ihrem Kontinent erkannten.
Hier lag, das ist die Quintessenz dieses Buches, der Ausgangspunkt für die dann in weiten Teilen des Kontinents viel bessere zweite Hälfte des Jahrhunderts. Wenngleich wir gegenwärtig beobachten können, wie der Nachhall dieses Schreckens, der Europa auf einen besseren Weg brachte, sich zu verflüchtigen beginnt.
ULRICH HERBERT
Ian Kershaw: "Höllensturz". Europa 1914 bis 1949.
Aus dem Englischen von Klaus Binder, Bernd Leineweber, Britta Schröder. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2016. 768 S., geb., 34,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.09.2016Europas
Selbstzerstörung
Der Historiker Ian Kershaw erzählt virtuos von
den blutigen Jahrzehnten zwischen 1914 und 1949
VON KURT KISTER
Viele, die vielleicht noch nicht um die Zukunft des Abendlandes fürchten, aber dennoch das Gefühl haben, „die“ Leute, zumal die jüngeren, wüssten nicht genug und interessierten sich zu wenig, klagen gern. Zum Repertoire dieser besonderen Form der Düsterkeit gehören Sätze wie diese: Es werden kaum mehr Bücher gelesen, und gerade von der Historie will niemand mehr etwas wissen. Nun denn, der britische Historiker Ian Kershaw, seit geraumer Zeit Sir Ian, ist mit seiner Arbeit, die sich in etlichen Büchern zur Zeitgeschichte niederschlug, ein sehr gutes Argument gegen diesen Wahrnehmungspessimismus.
Kershaws zweibändige, dickleibige Hitler-Biografie, vor mehr als 15 Jahren erschienen, hat sich sehr gut verkauft; sie ist ein Maßstab für die moderne biografische Geschichtserzählung geworden. Auch seine nahezu spannend geschriebene Studie über das letzte Kriegsjahr in Europa („Das Ende“) gehört zu jenem Dutzend zeitgeschichtlicher Werke, die jene, die wissen wollen, was „der Krieg“ war und was er bis zuletzt bedeutete, unbedingt gelesen haben sollten – viele haben es auch gelesen. Kershaws Bücher, aber auch zum Beispiel die Werke von Christopher Clark oder Jörn Leonhard zum Ersten Weltkrieg, Peter Longerichs Himmler-Biografie und natürlich Heinrich August Winklers „Geschichte des Westens“ belegen höchst beeindruckend, dass die große Geschichtserzählung heute so sehr lebt wie kaum jemals zuvor in den letzten Jahrzehnten. „Die“ Leute interessieren sich für Geschichte.
„Höllensturz“, Kershaws jüngstes Monumentalwerk, passt zu dieser Entwicklung. Der zwischen Boulevard und Wagner changierende Titel sollte niemanden davon abhalten, sich mit dieser Geschichte Europas zwischen 1914 und 1949 zu beschäftigen. Im Original heißt der Wälzer „To Hell and Back: Europe 1914 – 1949“. Er ist Teil der herausragenden European-History-Reihe des britischen Penguin-Verlags, der zum Giganten Bertelsmann gehört. Sechs Bände unterschiedlicher Autoren sind bisher in dieser Reihe erschienen, „Höllensturz“ ist der vorerst letzte. Abgeschlossen werden soll das Projekt, wiederum von Ian Kershaw, mit einer Geschichte Europas seit 1949, an der der heute 73-Jährige gerade sitzt.
Kershaw erzählt und analysiert in seinem Buch die blutigsten 50 Jahre der europäischen Geschichte vor dem Hintergrund vier größerer Strömungen. Zum einen erläutert er die Rolle des aufkommenden Nationalismus, in freundlicheren Worten das Streben nach ethnischer Selbstbestimmung. Auch unter dem Druck der Nationalbewegungen zerbröseln die alten Imperien Österreich-Ungarn, Russland sowie das Osmanische Reich. Handlungsleitend und manchmal brandbeschleunigend sind zweitens eine Fülle territorialer Ansprüche und mehr oder weniger gewalttätig vorgetragener Wünsche nach der Revision von Grenzen – auf dem Balkan, in Osteuropa, aber auch im Herzen des alten Kontinents, zwischen Frankreich und Deutschland etwa, wo der französische Anspruch auf die Restitution des Elsass und Lothringens vor 1914 eine ähnliche Wirkung hatte wie später die deutschen Verletzungen und politischen Aufwallungen durch die im Versailler Vertrag oktroyierten Gebietsabtretungen im Osten.
Zu den großen Verwerfungen zählt der Historiker des Weiteren das, was er den „Klassenkampf“ nennt, der in den einzelnen Gesellschaften, aber auch zwischen Staaten wirkungsmächtig ist. Die Sowjetunion, die berücksichtigt wird, aber nicht im Zentrum dieses Buchs steht, ist das tragende Beispiel dafür, was passieren konnte, wenn dieser Klassenkampf gewaltsam entschieden wurde, aber dann in eine, wie Kershaw es nennt, „dynamische Diktatur“ umschlug. (Auch die Nazi-Herrschaft in Deutschland sowie Mussolinis Italien rechnet Kershaw unter diese dynamischen, weil expandierenden, sich verändernden, anpassungsfähigen Gewaltherrschaften.) Kershaw arbeitet die Gemeinsamkeiten der Diktaturen heraus, weiß aber sehr wohl und kundig zwischen den Spezifika der Gewaltherrschaftssysteme in Deutschland, Russland und Italien zu unterscheiden.
Zum Klassenkampf als dritter Bedingung für die europäische Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählt schließlich als viertes Phänomen die krisenhafte Entwicklung des Kapitalismus, die im Börsencrash 1929 und den Folgejahren des Elends kulminiert. Kershaw zeigt und beschreibt schlüssig, wie und warum diese Krise den Aufstieg der Diktatoren gefördert hat, sodass in der zweiten Hälfte der Dreißigerjahre mehr als 60 Prozent der Menschen in Europa unter autoritären, demokratiefeindlichen Regimes lebten.
Kershaws „Höllensturz“ ist gerade für das deutsche Publikum in doppelter Hinsicht interessant. Zum einen kann der Historiker, der sich so intensiv mit der Geschichte Deutschlands beschäftigt hat, dieses Vorleben nicht leugnen. Auch wenn Großbritannien und Frankreich relativ ausführlich berücksichtigt werden, rückt Deutschland doch immer wieder in den Vordergrund. Das hat den etwas nachteiligen Effekt, dass manches Wichtige, etwa Englands Verstrickung in die Probleme des Empire, eher blass bleibt. Anderes, zum Beispiel die Geschichte des Baltikums oder auch die Wirrungen auf dem Balkan, werden nur kursorisch gestreift. Dem Gang der Erzählung tut dies allerdings kaum Abbruch.
Zum anderen, und weil Kershaw so intensiv auf Deutschland unter Kaiser, Weimar und Hitler blickt, wird aber auch aufs Neue deutlich, wie und warum gerade das Reich ursächlich, mutwillig und heftigst den Höllensturz Europas herbeigeführt hat. Wer gerne mal denkt, irgendwie seien doch alle an allem schuld gewesen, der möge Kershaws Buch intensiv lesen. Die Fehler zum Beispiel, die in London und Paris zwischen 1933 und 1939 gemacht wurden, beschreibt Kershaw schonungslos. Dass und wie aber diese Fehler von einem zum Äußersten entschlossenen Deutschland unter der NS-Führung ausgenutzt wurden, zeigt er ebenso schonungslos auf. Ja, man weiß das. Und dennoch liest man es wieder mit Schaudern, wie die Nazis, nein: die Deutschen, nach und nach alles zerschlugen, was damals den Kulturraum Europa ausmachte. Notabene, blickt man aus dem heutigen, ziemlich wenig perfekten Europa nach Europa 1938, dann sieht man, wie viel Wert dieses Europa des Jahres 2016 doch hat.
Ian Kershaws Buch ist ein Lehrbuch im besten Sinne. Es lehrt, wie Geschichte erzählt werden kann, wie Geschichte erzählt werden sollte. Mit der Abschilderung von Feldzugsverläufen oder datenzentrierter Ereignisreihung hat diese Form der historischen Erzählung nichts zu tun. Die manchmal kühne Auswahl aus der Fülle des Geschehens, das gelegentliche Springen zu anderen Schauplätzen und Ebenen dient dem Fluss des Lesens, auch wenn dies Ansatzpunkte für Kritik öffnet: Weder betreibt Kershaw Gesellschaftsgeschichtsschreibung, noch erfährt man viel aus der berühmten Perspektive der „kleinen Leute“. Das aber sind angesichts des großen Bogens, der da gespannt wird, lässliche Sünden.
Kershaws Buch lehrt vor allem auch, dass Europas dunkelste Phase nur zwei Generationen von einer ziemlich hellen Zukunft des Kontinents „entfernt“ liegt. Und es macht Lust auf seine eigene Fortsetzung, auf den vorläufig letzten Band der Geschichte Europas, wiederum verfasst von Ian Kershaw.
„Höllensturz“ ist gerade
für das deutsche Publikum
in doppelter Hinsicht interessant
Das Buch lehrt, wie Geschichte
erzählt werden kann, wie
Geschichte erzählt werden sollte
Ian Kershaw:
Höllensturz. Europa 1914 bis 1949. Aus dem Englischen von Klaus Binder, Bernd Leineweber und Britta Schröder. DVA München 2016, 764 Seiten, 34,99 Euro.
E-Book: 28,99 Euro.
Drei Jahrzehnte Hass, Mord und Bomben:
Ian Kershaw schlägt den Bogen vom Ersten über den Zweiten Weltkrieg bis zum Kalten Krieg. Im Bild: Deutsche Soldaten in einem
Schützengraben bei Verdun (undatiert, wohl 1916, oben), zerstörtes
Dresden (1945, unten). Fotos: SZ Photo/Scherl, Getty Images
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Selbstzerstörung
Der Historiker Ian Kershaw erzählt virtuos von
den blutigen Jahrzehnten zwischen 1914 und 1949
VON KURT KISTER
Viele, die vielleicht noch nicht um die Zukunft des Abendlandes fürchten, aber dennoch das Gefühl haben, „die“ Leute, zumal die jüngeren, wüssten nicht genug und interessierten sich zu wenig, klagen gern. Zum Repertoire dieser besonderen Form der Düsterkeit gehören Sätze wie diese: Es werden kaum mehr Bücher gelesen, und gerade von der Historie will niemand mehr etwas wissen. Nun denn, der britische Historiker Ian Kershaw, seit geraumer Zeit Sir Ian, ist mit seiner Arbeit, die sich in etlichen Büchern zur Zeitgeschichte niederschlug, ein sehr gutes Argument gegen diesen Wahrnehmungspessimismus.
Kershaws zweibändige, dickleibige Hitler-Biografie, vor mehr als 15 Jahren erschienen, hat sich sehr gut verkauft; sie ist ein Maßstab für die moderne biografische Geschichtserzählung geworden. Auch seine nahezu spannend geschriebene Studie über das letzte Kriegsjahr in Europa („Das Ende“) gehört zu jenem Dutzend zeitgeschichtlicher Werke, die jene, die wissen wollen, was „der Krieg“ war und was er bis zuletzt bedeutete, unbedingt gelesen haben sollten – viele haben es auch gelesen. Kershaws Bücher, aber auch zum Beispiel die Werke von Christopher Clark oder Jörn Leonhard zum Ersten Weltkrieg, Peter Longerichs Himmler-Biografie und natürlich Heinrich August Winklers „Geschichte des Westens“ belegen höchst beeindruckend, dass die große Geschichtserzählung heute so sehr lebt wie kaum jemals zuvor in den letzten Jahrzehnten. „Die“ Leute interessieren sich für Geschichte.
„Höllensturz“, Kershaws jüngstes Monumentalwerk, passt zu dieser Entwicklung. Der zwischen Boulevard und Wagner changierende Titel sollte niemanden davon abhalten, sich mit dieser Geschichte Europas zwischen 1914 und 1949 zu beschäftigen. Im Original heißt der Wälzer „To Hell and Back: Europe 1914 – 1949“. Er ist Teil der herausragenden European-History-Reihe des britischen Penguin-Verlags, der zum Giganten Bertelsmann gehört. Sechs Bände unterschiedlicher Autoren sind bisher in dieser Reihe erschienen, „Höllensturz“ ist der vorerst letzte. Abgeschlossen werden soll das Projekt, wiederum von Ian Kershaw, mit einer Geschichte Europas seit 1949, an der der heute 73-Jährige gerade sitzt.
Kershaw erzählt und analysiert in seinem Buch die blutigsten 50 Jahre der europäischen Geschichte vor dem Hintergrund vier größerer Strömungen. Zum einen erläutert er die Rolle des aufkommenden Nationalismus, in freundlicheren Worten das Streben nach ethnischer Selbstbestimmung. Auch unter dem Druck der Nationalbewegungen zerbröseln die alten Imperien Österreich-Ungarn, Russland sowie das Osmanische Reich. Handlungsleitend und manchmal brandbeschleunigend sind zweitens eine Fülle territorialer Ansprüche und mehr oder weniger gewalttätig vorgetragener Wünsche nach der Revision von Grenzen – auf dem Balkan, in Osteuropa, aber auch im Herzen des alten Kontinents, zwischen Frankreich und Deutschland etwa, wo der französische Anspruch auf die Restitution des Elsass und Lothringens vor 1914 eine ähnliche Wirkung hatte wie später die deutschen Verletzungen und politischen Aufwallungen durch die im Versailler Vertrag oktroyierten Gebietsabtretungen im Osten.
Zu den großen Verwerfungen zählt der Historiker des Weiteren das, was er den „Klassenkampf“ nennt, der in den einzelnen Gesellschaften, aber auch zwischen Staaten wirkungsmächtig ist. Die Sowjetunion, die berücksichtigt wird, aber nicht im Zentrum dieses Buchs steht, ist das tragende Beispiel dafür, was passieren konnte, wenn dieser Klassenkampf gewaltsam entschieden wurde, aber dann in eine, wie Kershaw es nennt, „dynamische Diktatur“ umschlug. (Auch die Nazi-Herrschaft in Deutschland sowie Mussolinis Italien rechnet Kershaw unter diese dynamischen, weil expandierenden, sich verändernden, anpassungsfähigen Gewaltherrschaften.) Kershaw arbeitet die Gemeinsamkeiten der Diktaturen heraus, weiß aber sehr wohl und kundig zwischen den Spezifika der Gewaltherrschaftssysteme in Deutschland, Russland und Italien zu unterscheiden.
Zum Klassenkampf als dritter Bedingung für die europäische Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählt schließlich als viertes Phänomen die krisenhafte Entwicklung des Kapitalismus, die im Börsencrash 1929 und den Folgejahren des Elends kulminiert. Kershaw zeigt und beschreibt schlüssig, wie und warum diese Krise den Aufstieg der Diktatoren gefördert hat, sodass in der zweiten Hälfte der Dreißigerjahre mehr als 60 Prozent der Menschen in Europa unter autoritären, demokratiefeindlichen Regimes lebten.
Kershaws „Höllensturz“ ist gerade für das deutsche Publikum in doppelter Hinsicht interessant. Zum einen kann der Historiker, der sich so intensiv mit der Geschichte Deutschlands beschäftigt hat, dieses Vorleben nicht leugnen. Auch wenn Großbritannien und Frankreich relativ ausführlich berücksichtigt werden, rückt Deutschland doch immer wieder in den Vordergrund. Das hat den etwas nachteiligen Effekt, dass manches Wichtige, etwa Englands Verstrickung in die Probleme des Empire, eher blass bleibt. Anderes, zum Beispiel die Geschichte des Baltikums oder auch die Wirrungen auf dem Balkan, werden nur kursorisch gestreift. Dem Gang der Erzählung tut dies allerdings kaum Abbruch.
Zum anderen, und weil Kershaw so intensiv auf Deutschland unter Kaiser, Weimar und Hitler blickt, wird aber auch aufs Neue deutlich, wie und warum gerade das Reich ursächlich, mutwillig und heftigst den Höllensturz Europas herbeigeführt hat. Wer gerne mal denkt, irgendwie seien doch alle an allem schuld gewesen, der möge Kershaws Buch intensiv lesen. Die Fehler zum Beispiel, die in London und Paris zwischen 1933 und 1939 gemacht wurden, beschreibt Kershaw schonungslos. Dass und wie aber diese Fehler von einem zum Äußersten entschlossenen Deutschland unter der NS-Führung ausgenutzt wurden, zeigt er ebenso schonungslos auf. Ja, man weiß das. Und dennoch liest man es wieder mit Schaudern, wie die Nazis, nein: die Deutschen, nach und nach alles zerschlugen, was damals den Kulturraum Europa ausmachte. Notabene, blickt man aus dem heutigen, ziemlich wenig perfekten Europa nach Europa 1938, dann sieht man, wie viel Wert dieses Europa des Jahres 2016 doch hat.
Ian Kershaws Buch ist ein Lehrbuch im besten Sinne. Es lehrt, wie Geschichte erzählt werden kann, wie Geschichte erzählt werden sollte. Mit der Abschilderung von Feldzugsverläufen oder datenzentrierter Ereignisreihung hat diese Form der historischen Erzählung nichts zu tun. Die manchmal kühne Auswahl aus der Fülle des Geschehens, das gelegentliche Springen zu anderen Schauplätzen und Ebenen dient dem Fluss des Lesens, auch wenn dies Ansatzpunkte für Kritik öffnet: Weder betreibt Kershaw Gesellschaftsgeschichtsschreibung, noch erfährt man viel aus der berühmten Perspektive der „kleinen Leute“. Das aber sind angesichts des großen Bogens, der da gespannt wird, lässliche Sünden.
Kershaws Buch lehrt vor allem auch, dass Europas dunkelste Phase nur zwei Generationen von einer ziemlich hellen Zukunft des Kontinents „entfernt“ liegt. Und es macht Lust auf seine eigene Fortsetzung, auf den vorläufig letzten Band der Geschichte Europas, wiederum verfasst von Ian Kershaw.
„Höllensturz“ ist gerade
für das deutsche Publikum
in doppelter Hinsicht interessant
Das Buch lehrt, wie Geschichte
erzählt werden kann, wie
Geschichte erzählt werden sollte
Ian Kershaw:
Höllensturz. Europa 1914 bis 1949. Aus dem Englischen von Klaus Binder, Bernd Leineweber und Britta Schröder. DVA München 2016, 764 Seiten, 34,99 Euro.
E-Book: 28,99 Euro.
Drei Jahrzehnte Hass, Mord und Bomben:
Ian Kershaw schlägt den Bogen vom Ersten über den Zweiten Weltkrieg bis zum Kalten Krieg. Im Bild: Deutsche Soldaten in einem
Schützengraben bei Verdun (undatiert, wohl 1916, oben), zerstörtes
Dresden (1945, unten). Fotos: SZ Photo/Scherl, Getty Images
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»Ein flammendes Plädoyer für Europa, gerade in den Zeiten einer gefährlichen Erosion der europäischen Idee.« Der Spiegel