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Aus einer Fülle schriftlicher und bildlicher Quellen des europäischen Mittelalters rekonstruiert der Autor eine körpergebundene Gedächtniskultur, die sich an Höfen, im Raum des Rechts, der Theologie und der politischen Herrschaft neben der Schrift behauptet und mit der Schrift einhergeht. Die wechselseitige Beeinflussung, die Konkurrenz und die Verbindung von körpergebundener und schriftgestützter Erinnerung ist das Thema dieses Buches.

Produktbeschreibung
Aus einer Fülle schriftlicher und bildlicher Quellen des europäischen Mittelalters rekonstruiert der Autor eine körpergebundene Gedächtniskultur, die sich an Höfen, im Raum des Rechts, der Theologie und der politischen Herrschaft neben der Schrift behauptet und mit der Schrift einhergeht. Die wechselseitige Beeinflussung, die Konkurrenz und die Verbindung von körpergebundener und schriftgestützter Erinnerung ist das Thema dieses Buches.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.05.1995

Der Schatten des Körpers
Horst Wenzels sinnliche Kulturgeschichte des Mittelalters

Die menschliche Kultur und ihre Geschichte, alles Große und Bleibende, die Maßstäbe, an denen Vergangenes und Gegenwärtiges und jegliche Planung gemessen werden, entstehen aus der Erinnerung und durch das Gedächtnis. Dieser schlichte Umstand, jedermann zugänglich und leicht nachvollziehbar, genießt in seiner Trivialität freilich nicht den wissenschaftlichen Respekt, den er verdient. Wie anders ließe sich erklären, daß anthropologische Zugänge zur Geschichte die längste Zeit verpönt waren und noch heute auf Skepsis, nicht selten auf Ablehnung stoßen. Literatur aber im Zeitalter des natürlichen Gedächtnisses und während der langen Phase hoch- und spätmittelalterlicher Semiliteralität ist der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Der Berliner Germanist Horst Wenzel legt damit die imponierende Summe seiner zahlreichen Einzelstudien zum Thema vor.

Die höfische Literatur in ihrer nüchternen Schriftlichkeit sprach Augen und Ohren, Gefühl, Geschmack und Tastsinn an und appellierte immerfort an die Sinne. "Hoeret und seht". "Ihr könnt hören und sehen, schmecken und riechen: Das soll euch zur Klugheit führen", heißt es bei Wolfram von Eschenbach. Es lag nahe, die Ursache derartiger Appelle in der Vortragssituation solcher Texte zu suchen, mithin in der Ergötzung eines Publikums, das gewohnt war, Weltkenntnis und soziales Wissen über die Sinne zu erlangen, und dessen vorwiegendes Speichermedium das natürliche Gedächtnis war. Der menschliche Körper setzte die Maße; Körperorientierung und Mündlichkeit bestimmten die Kommunikation; Körpersignale - Mimik, Gestik und Gebärden, Musik oder Lärm, Kleider, Farben, Bewegungen, Blicke, Berührungen, Wohlgeruch oder Gestank - lenkten sie. Gebündelt erschienen sie im Ritual, im Herrschaftszeichen, als öffentliche Inszenierung von Status und Rang, von Religion und Kult, als Konfiguration in Schau- und sonstigen Räumen. Stereotype Menschenbilder, klare Polarisierung von Gut und Böse und vor allem: die unmittelbare Teilnahme und lernende Nachahmung waren die unerläßlichen Instrumentarien der Erziehung, der Bildung und des höfischen Lebens.

In dieser Welt zielte alles Lernen auf einen sinnenfälligen Traditionalismus, auf sinnenhafte Sinnstiftung und Sinnbewahrung und deren körperliche Vergegenwärtigung. Denn nur über die Sinne ließ sich das kulturelle Gedächtnis aktivieren und Traditionen sowie die Einübung in sie langfristig sichern. Mittelhochdeutsche Poesie und Epik hatten unmittelbar teil an diesem Prozeß und bewahrten weithin sichtbar und rekonstruierbar die Spuren derartiger Körperorientierung der Kultur. Der "Schatten der Mündlichkeit" lag lange auf ihnen. Erst der Buchdruck und die Reformation bewirkten einen tiefgreifenden Einschnitt, ohne deshalb die älteren Gedächtnisformen gänzlich zu beseitigen. Spezielle Mnemotechniken, zumal Reim und Rhythmus, Paarformeln oder Alliterationen, erleichterten die Erinnerung und steigerten die Gedächtnisleistung; Schrift, Bild, Text-Bild-Kombinationen entlasteten sie und stärkten ihr Abstraktions- und Differenzierungsvermögen, ohne deshalb ihre Sinnenhaftigkeit abzustreifen.

Wenzel begnügt sich freilich nicht mit der literarischen Spiegelung derartiger Sinnen- und Körperorientierung. Er kontrolliert sie, und das macht nicht zuletzt den Reiz seines Buches aus, an weiteren Wirklichkeiten, in denen vergleichbare Grundbedingungen faßbar werden. Er findet sie beispielsweise im romanischen und gotischen Kirchenraum (der als Schauraum und akustischer Raum vorgestellt wird), in der kirchlichen Meßliturgie, im Reliquienkult, in der mittelalterlichen Rechtspraxis und selbstverständlich an den realen Adels- und Fürstenhöfen der Zeit. Der Grad der Sinnenhaftigkeit gerät geradezu zum Maßstab des interinstitutionellen Vergleichs.

Der Autor hat sich auf verschiedensten Forschungsfeldern gründlich umgesehen. Er bemüht Literaturtheorien, Geschichtswissenschaft (ich vermisse freilich in der Bibliographie den Namen von Johan Huizinga) und Kunstgeschichte ebenso wie Theologie, Soziologie (zumal die Systemtheorie von Luhmann), Ethnologie und Anthropologie, Wahrnehmungspsychologie und manch eine andere Disziplin. Zeit, Ort und soziales Umfeld seiner Beispiele bleiben dabei in der Regel unberücksichtigt. Spätantike und frühneuzeitliche Texte, königliche, ministerialische, bürgerlische, klerikale oder schulische Herkunft stehen einträchtig nebeneinander. Die These, auf die dieses Verfahren zielt, ist klar: daß nämlich zeit- und ortlos gültig sei, was es hier zu erfassen gilt, daß mit anderen Worten die mittelhochdeutsche Literatur eine anthropologische Konstante menschlicher Kultur hervortreten lasse, die sich allenthalben und immer wieder, eben auch in der höfischen Welt, manifestiere; daß Kultur nicht zuletzt eine Variation des Bleibenden sei.

Wenzel greift auf einen reichen und weit zusammengetragenen Vorrat an Beispielen zurück, liefert vorbildliche Einzelanalysen, formuliert methodologische Einsichten und grundsätzliche Überlegungen; und er hat mit alldem ein anregendes, ein beneidenswert gutes, wenn auch nicht immer leicht zu goutierendes Buch vorgelegt, das in der künftigen Forschung eine erhebliche Rolle spielen dürfte. Die von ihm herausgearbeitete Dominanz des sinnenverhafteten Bildgedächtnisses vor dem abstrahierenden Begriffsgedächtnis in den teil- und illiteraten Gesellschaften des Mittelalters könnte sich als Schlüssel zu einem angemesseneren Verständnis der mittelalterlichen Gesellschaft und ihrer Leistungen erweisen. Die Folgen für die Geschichtswissenschaft, ihre Quellenkunde und Methodenkritik sind noch kaum abzuschätzen.

Das Buch mag Längen haben und manche Überzeichnung; man wird die Aussagekraft des einen oder anderen Einzelbeispiels bezweifeln und anfechten können, vielleicht auch bedauern, daß so viel von agierenden Körpern, von der "Kommunikation der Körper", den "Körpern einer Lese- und Hörergemeinschaft" und so wenig von Personen und Menschen die Rede ist, die sich ihrer Körper bedienten, daß neben "Imagination" und "Memoria" die beiden anderen Fähigkeiten des Kräfte-Quaternars, den antike und mittelalterliche Autoren (wie beispielsweise Thomasin von Zerclaere) so gerne zitierten, nämlich "Ratio" und "Intellectus", in den Hintergrund verbannt sind; das Ganze aber dürfte weit über den engen Bereich der Germanistik hinaus Gültigkeit besitzen.

Es schlägt die Brücke von tatsächlicher Erinnerung zur mittelalterlichen, höfischen Theorie der Erinnerung, liefert Bausteine zu einer "Poetik der Visualität", die auf Tropen, Metaphern, Personifikationen, auch auf christliche Allegorese und Typologie rekurrierten, sofern sie nur Lebensnähe, Bildlichkeit und Memorierbarkeit gewährleisteten, und bietet, das ist vielleicht am wichtigsten, Bausteine zur Konstruktion einer Vergangenheit im Übergang von ausschließlich mündlicher zu überwiegend schriftlicher Gedächtniskultur. Klug ausgewählte Abbildungen unterstützen den Gedankengang im visuellen Bereich. Eine neue auf Synthese und Integration der verschiedenen Wissenschaften aufbauende Kulturwissenschaft ist hier skizziert, eine umfassende Kulturgeschichte der Sinne. JOHANNES FRIED

Horst Wenzel: "Hören und Sehen, Schrift und Bild". Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. Verlag C. H. Beck, München 1995. 626 S., 73 Abb., geb., 98,- DM.

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