Sich dem Skandal stellen
Gmelchs Buch ist ein beeindruckender prophetischer Zwischenruf zu einem der größten Skandale in der katholischen Kirche. Die Rekordzahl von 359.000 Austritten aus der katholischen Kirche im Jahr 2021 zeigt, dass sich der Missbrauchsskandal geradezu existenzbedrohend für
die katholische Kirche in Deutschland auswirkt.
Michael Gmelch ist Priester und Militärdekan an der…mehrSich dem Skandal stellen
Gmelchs Buch ist ein beeindruckender prophetischer Zwischenruf zu einem der größten Skandale in der katholischen Kirche. Die Rekordzahl von 359.000 Austritten aus der katholischen Kirche im Jahr 2021 zeigt, dass sich der Missbrauchsskandal geradezu existenzbedrohend für die katholische Kirche in Deutschland auswirkt.
Michael Gmelch ist Priester und Militärdekan an der Universität der Bundeswehr München. Mit Promotionen in Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie ist er aus-gewiesener Fachmann für seelsorgliche Fragen. Er ist zusätzlich qualifiziert als Therapeut für Psychotraumatologie und verfügt über langjährige Erfahrungen in der Begleitung traumatisierter Menschen. Sein Buch unternimmt den Versuch, den Bischöfen „als Sehhilfe die Systembrille und die Traumabrille“ anzubieten (S.23).
Die Sackgasse eines klerikal geschlossenen Systems
Gmelch sieht die „Kirche am Nullpunkt“ und kritisiert den bisherigen Umgang der Bischöfe mit dem Systemversagen als halbherzig, verlogen und dem Evangelium widersprechend. Die Leugnung, Bagatellisierung oder Umdeutung der schrecklichen Verbrechen sei in Kirchenkreisen immer noch anzutreffen. Zu den Gründen des jahrzehntelangen Missbrauchs zählt er ein gestörtes Verhältnis zur Sexualität und besonders auch ein bestimmtes Kirchen- und Priesterbild, das dringend revidiert werden muss. Hier liefert er treffende Analysen und Belege. Beredtes Beispiel: das “Priesterjahr“ 2009/2010 mit der Wiederbelebung abstruser Bilder des Pfarrers Johannes von Ars zum Priestertum.
Michael Gmelch ist ein „Insider“ und beschreibt scharfzüngig und kenntnisreich die Mentalität und das Gebaren in Ordinariaten und im Klerus, jenes „männerbündisch-klerikale Geflecht“ (S. 65), das den Nährboden bildet für viele Missstände. Sein Fazit: „Der vorkonziliare Klerikalismus wird hofiert und gefördert. Das sacerdotale Priesterbild als kirchlich-hierarchisches Identitätsangebot wird weltweit wieder starkgemacht.“ (S. 61) Gmelch wird hier manchmal polemisch, übertreibt da und dort satirisch und schießt manchmal ungerecht über das Ziel hinaus, aber diese Zuspitzung legt den Finger auf Wunden, die nicht ignoriert werden können.
Ein eigenes Kapitel widmet der Autor der „Macht der Scham“, die Stress erzeugt und oft Vertuschung begünstigt.
Psychologische und theologische Deutungen
Einen anderen Zugang eröffnet Gmelch mit Hinweisen aus der Trauma- und Hirnforschung. Hier wird fachlich über hirnphysiologische und psychologische Hintergründe informiert.
Danach greift er wieder spirituelle und theologische Motive auf, um ein neues Den-ken anzubahnen. In einer auf das Thema angewandten Deutung des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter, in Reflexionen über das Absurde, die Gedanken von Camüs aufgreifen, und im Rückgriff auf die Befreiungstheologie plädiert er für einen konsequenten Perspektivenwechsel, der die Sicht der Opfer in den Mittelpunkt stellt.
Was ist zu tun?
Interessant sind Gmelchs „Handlungsimpulse“. So empfiehlt er etwa den Bischöfen, ein Jahr lang „Pause“ zu machen, um zu lernen. Er rät in militärischer Begrifflichkeit zu einer „Führung von vorne“: Die Bischöfe sollen sich aus den Ordinariaten heraus wagen und „an die Front“ gehen, weil jetzt der „Krisenmodus“ gefragt ist. Auch ein symbolisches Zeichen hält er für wichtig. Wie die Menschen in biblischen Zeiten in „Sack und Asche“ gegangen sind, um ihre Umkehrbereitschaft zu zeigen, so sollten auch jetzt die Bischöfe durch Symbolhandlungen deutlich machen, dass es so wie bisher nicht weiter geht.
Ich finde das Buch erfrischend geschrieben, anregend, informativ und hilfreich für den Umgang mit der Missbrauchsthematik in der Kirche und weit darüber hinaus. Dass der Autor kein Blatt vor den Mund nimmt, macht ihn angreifbar, zeigt aber auch seine Leidenschaft für das Thema – nicht zuletzt aus eigener Betroffenheit. Ob ein Bischof es lesen wird, wage ich nicht zu beurteilen.