Vor nun einhundert Jahren, 1902, erschien Hofmannsthals Prosatext Ein Brief. Sein Protagonist, Lord Chandos, unterrichtet darin Francis Bacon, den Begründer der neuzeitlichen Wissenschaften, von seiner Unfähigkeit, "über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen". Und dennoch: Chandos spricht, und zwar in so wohlgeformten Sätzen und gelungenen Metaphern, daß Ein Brief seit seiner Publikation zu den meistgelesenen Arbeiten Hofmannsthals und zu den kanonischen Texten der Moderne zählt. Die kaum noch überschaubare Forschung hat die vermeintlichen Widersprüche der geschilderten "Sprachkrise" vielfach wiederholt, doch fand die Sprache selbst des fiktiven Schreibens kaum je eingehende Beachtung. Hier setzt die vorliegende Untersuchung an. Erstmals wird der Chandos-Brief näher in dem von Hofmannsthal umrissenen Rahmen, der Philosophie Bacons, diskutiert. Die von Chandos geschilderte "Krise" ist weniger eine der Sprache an sich, sondern vielmehr eine der wissenschaftlichen Rationalität und ihres enzyklopädischen Anspruchs. Das von Bacon bekämpfte kulturelle Gedächtnis, die in den geschichtlich gewachsenen Sprachen angesammelten "Irrtümer" nehmen in den Reden des Protagonisten kontinuierlich Gestalt an. Die Worte des Lord Chandos führen in die Tiefen des Mythos und skizzieren Hofmannsthals an Nietzsche und Mauthner orientierte Poetik, die gleichermaßen den Extremen totaler Erinnerung wie völligen Gedächtnisverlusts begegnen will. Dichtung erscheint als Abfolge von Metamorphosen der Sprache, die ihre Lebendigkeit und Dauerhaftigkeit dadurch bezeugt, daß sie Vergänglichkeit zuläßt.
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