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  • ISBN-13: 9780440419525
  • Artikelnr.: 33579392
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.10.2000

Der große Daumen
Geheimnisvolle Spurensuche in der texanischen Wüste: Louis Sachars „Löcher”
Wo und wann, um Himmels Willen, soll man beginnen, wenn man etwas über Louis Sachars Löcher – Die Geheimnisse von Green Lake erzählen will? Die Geschichte bringt so viele Drunter – und Drübergeschichten, so viele erheiternde, komische, melancholische, traurige und skurrile Bilder, dass es verdammt schwer fällt, sich für einen Anfang zu entscheiden.
Beginnen wir mit den tödlichen gelb gefleckten Eidechsen? Mit Ururgroßvater Yelnats’ Schweinelied? Mit Vaters neuestem Plan, eine Recyclingmaschine für gebrauchte Turnschuhe zu bauen? Oder mit Urgroßvaters Börsengeschäften? Sollten wir die Schweißfüße des Baseballstars Clyde Livingston erwähnen oder die heilbringenden Zwiebelsäfte des schwarzen Sam? Beginnen wir mit Miss Kates eingemachten Pfirsichen oder mit Kissin’ Kate Barlows Todeskuss? Oder mit diesem seltsamen Felsgebilde am Rande der Wüste, das „Großer Daumen” genannt wird? Beginnen wir in Lettland, mit Madame Zeronis Flucht, oder lassen wir erst eine blühende Landschaft in Texas um 1890 entstehen? Beginnen wir mit unserem übergewichtigen 15-jährigen Helden Stanley Yelnats oder mit der Frage, was es mit seinem palindromischen Namen auf sich hat? Das Faszinierendste an Sachars Roman ist: Alle Einzelteile greifen – manchmal unerwartet, manchmal absehbar – im Lauf der Geschichte ineinander und fügen sich schließlich zu einem kleinen, wohlgeordneten Sonnensystem. Ein Sonnensystem, in dem jeder Geschichtenplanet, samt Satellitenmonden, gemächlich seine Bahnen zieht.
Wer noch nicht an wundersame Fügungen geglaubt hat, der tut es nun, wenigstens dieses eine Mal, zu Ehren der vom Schicksal gebeutelten Familie Yelnats. Das ist eine so liebenswert skurrile Geschichte zwischen Wirklichkeit und Fantasie, dass wir – von der realistischen Fraktion – ausnahmsweise beide Augen zudrücken und den Fluch, der seit vier Generationen auf Stanleys Familie lastet, fraglos hinnehmen. Schließlich muss unser unwissender Held ganz schön schwitzen, um das Leben der Yelnats’ ins Lot zu kriegen – oder die Planeten in ihre Bahn. Das heißt: Ohne Schufterei ist die Zukunft noch nicht geschrieben und weit und breit kein Fluch gebannt. (Dank an Doc Brown aus Robert Zemeckis’ Filmabenteuer Zurück in die Zukunft, der mir diese Weisheit inflüsterte.
Im Zentrum des Systems stehen der Familienfluch und seine Folgen. Hauptleidtragender ist augenblicklich Stanley Yelnats IV. Eben sitzt er, mit Handschellen gefesselt, im Fond eines klapprigen Überlandbusses, der ihn in ein Strafcamp für Jugendliche bringt, mitten in einem seit 100 Jahren ausgetrockneten texanischen See. Zehn Reihen vor ihm, neben dem Fahrer, lungert ein Wachmann, das Gewehr auf den Knien. Allein dieses Randbild möchte man lange festhalten. Wichtig zu wissen: Stanley ist unschuldig. Er hat Clyde Livingstons stinkende Turnschuhe, die für einen guten Zweck versteigert werden sollten, nicht geklaut. Nein, sie sind ihm einfach vom Himmel auf den Kopf gefallen. Stanley soll nun also – wie seine Leidensgenossen – in der Salzwüste Löcher graben, Tag für Tag eins, fünf Fuß tief und fünf Fuß breit. „Aus erzieherischen Gründen” heißt es. Wir, die Leser, wissen es bald besser: Im Boden dieses Ödlands muss ein Geheimnis vergraben sein, vielleicht sogar eins, das die Planeten wiederauf rechte Bahnen führen könnte.
Schon bis hierher ist das Geschehen bizarr. Und es wird noch seltsamer, als sich der schweigsame schwarze Zero aus dem Staub macht und Stanley ihm folgt, um ihn vor dem Verdursten zu retten. Aber, welch Wunder! Obwohl sich unser Held in der flirrenden Hitze zunächst aufzulösen scheint, klart sich der Blick. Nie sind wir Stanley und der Wahrheit seiner Geschichte näher als in jener Nacht am Fuß des Felsens, den man „Großer Daumen” nennt. Der Junge liegt und guckt in den mit Sternen übersäten Himmel, während sein Freund neben ihm ruhig atmet. Stanley ist zu glücklich, um einzuschlafen, weiß nicht warum und kann sich dennoch keinen Ort vorstellen, an dem er jetzt lieber wäre.
Wir wissen in diesem Augenblick am Fuß des Großen Daumens noch nicht, wie die Geschichte enden wird. Wir wissen nur, dass sie mit Fug und Recht die höchsten amerikanischen Jugendliteraturauszeichnungen bekommen hat. (ab 12 Jahre)
SIGGI SEUSS
LOUIS SACHAR: Löcher. Die Geheimnisse von Green Lake. Aus dem Amerikanischen von Birgitt Kollmann. Verlag Beltz & Gelberg 2000. 296 Seiten, 26 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000

Länge, Breite, Tiefe je einsfünfzig
Skurril, intelligent und trocken wie der Wüstensand: Louis Sachars Jugendroman "Löcher"

Das Lieblingswort aller Verlierer ist "wenn". Wenn, ja wenn, beginnt das Lied, das Stanley seinen Vater als Kind so gern singen hörte. Wenn in grauer Vorzeit nicht einer ihrer Urahnen dieses Schwein gestohlen hätte, zum Beispiel, wäre alles anders gekommen. Dann läge nicht dieser Fluch des Mißerfolgs auf der Familie, dann wäre Papa ein berühmter Erfinder und Stanley hätte man nicht wegen Diebstahls verknackt - unschuldig, versteht sich. Aber so sitzt Stanley in der Besserungsanstalt ein, und dort gräbt er Löcher. Einsfünfzig tief und einsfünfzig weit und jeden Tag genau eines. Abertausende solcher Löcher klaffen bereits am Green Lake, an dem gar nichts grün ist. Es gibt allerdings auch keinen See.

Wo Stanley und seine schwer erziehbaren Kumpel graben, gibt es in alle Himmelsrichtungen nichts als Wüste, flirrende Hitze und gelb gefleckte Eidechsen. Der Biß dieser Tiere ist tödlich, sie sind allergisch gegen Zwiebeln, und sie treiben sich gern in - na, wo wohl - tiefen Löchern herum. Graben, so rechtfertigen die Betreiber des Lagers die Existenz der Löcher, bildet den Charakter. Das ist natürlich Quatsch, denkt der Rezensent, da steckt mehr dahinter, und so macht er sich Gedanken über die Metaphysik des Loches und darüber, was Louis Sachar uns mit alldem scheinbar planlosen Geschaufel wohl sagen will. Glücklicherweise will Sachar hauptsächlich eines: uns mit einer Geschichte in Trance versetzen, die strahlt, anrührt und begeistert. Und deshalb läßt er Stanley beim Graben etwas finden.

"Löcher" ist eines jener Bücher, über deren Inhalt man kaum ein Wort verlieren darf, weil man sonst automatisch zum Spielverderber wird. Daher nur so viel: Hier geht es um Kostbareres als um den Schatz, den Stanley schließlich ausgräbt. Es geht um die ganz großen, schicksalhaften Dinge.

"Löcher" erzählt eine Geschichte, die vor mehr als hundert Jahren begann, eine Geschichte von Ehre und Gewissen, von Schuld und Sühne, von Liebe und Tod, Bestimmung und Erlösung. Eine ganz und gar altmodische Sache also. Ein Märchen, eine Familiensaga mit mythologischen Zügen. Weil ein Märchen alles darf, kommt der Leser gar nicht auf den Gedanken, sich über die vielen Löcher zu wundern. Oder über die vielen Zwiebeln. Noch nicht einmal über diese Frau, die sich die Nägel mit Klapperschlangengift lackiert, um damit ihren Schutzbefohlenen das Gesicht zu zerkratzen. Überhaupt gibt es hier jede Menge Groteskes, Absurdes, Grausames, Skurriles. Die wunderbare Schlußszene des Buches liest sich, als hätte Quentin Tarantino eine seiner bitterbösen Geschichten für eine Schülerzeitung verfaßt (und darin alle Waffen durch gelb gefleckte Eidechsen ersetzt.)

Man mag gar nicht daran denken, was daraus hätte werden können: vermeintlich böse Jungen mit goldenen Herzen in der Besserungsanstalt, pädagogisch betüddelt von einem gutmenschelnden RobinWilliams-Verschnitt - nach genau diesem Muster sind derlei Erzählungen sonst gern zugeschnitten. Tatsächlich gibt es sie auch hier, die sattsam bekannten Mannbarkeitsrituale, die Freundschaft mit dem berühmten Außenseiter, die bösen, bösen Lagerleiter. Doch Sachar handelt all das wie nebenher ab; was schon tausendmal erzählt wurde, nimmt er einfach mit und stellt es geschickt in den Dienst seiner Geschichte. Seiner Hauptfigur Stanley fehlt wirklich alles, was amerikanische Helden normalerweise ausmacht. Er ist zu dick, von eher intuitiver als analytischer Intelligenz, und wo andere gegen ihr Schicksal aufbegehren würden, läßt er einen vorsichtigen, aber überaus gesunden Pragmatismus walten. Er versteht es, die Dinge des Lebens von mehr als nur einer Seite zu sehen - wundert es da, daß ihm die Rolle desjenigen zufällt, der die Familie von ihrem Fluch erlöst?

"Löcher" ist spannend, romantisch und von einer unaufdringlichen, feingesponnenen Weisheit. Sachar versteht es, die Wüste mit drei Sätzen so zu beschreiben, daß dem Leser noch Seiten später die Zunge am Gaumen klebt. Mit knappen Mitteln baut er eine Atmosphäre auf, die nur einem Ziel verpflichtet ist: Sein Held hat darin zu arbeiten, zu leben, zu atmen. Da ist nichts Prätentiöses, da ist kein Wort zuviel. Als Dreingabe findet sich ein Humor, der so fein wie Wüstensand ist und mindestens ebenso trocken. Einziger Vorwurf: Etwas knapper bemessene Fußmärsche durch die Wüste hätten es auch getan. Aber sonst: fünf von fünf Schaufeln. Löchern. Echsen. Sternen.

ANDREAS STEINHÖFEL.

Louis Sachar: "Löcher - Die Geheimnisse von Green Lake". Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann. Verlag Beltz & Gelberg, Weinheim 2000. 296 S., geb., 26,- DM. Ab 12 Jahre.

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