Not content with being the master of horror and fantasy, in recent years Stephen King has earned a place among America's finest crime writers Sunday Express
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.09.2023Zu Hause im Kingversum
Je älter Stephen King wird, desto stärker zeigt sich, was sein erzählerisches Werk zusammenhält - auch jetzt in "Holly".
Seit vergangenem Donnerstag ist der amerikanische Schriftsteller Stephen King 76 Jahre alt. Und er schreibt weiter, wie seit Langem, ein Buch nach dem anderen. Hat er das jeweils letzte beendet, ist das nächste meist auch so gut wie fertig. Im März 2022, als der letzte Roman, das dystopisch-brutale Märchen "Fairy Tale", gerade in Druck ging, verriet King im Gespräch mit dem Fan-Podcast "Kingcast" schon den Titel seines nächsten Projekts: "Holly". Jetzt, in diesen Septembertagen rund um Kings Geburtstag, erscheint der Roman auch auf Deutsch.
"Holly": Dass es einen ganzen Roman um die Figur der Holly Gibney geben würde, war im März 2022 eine wunderbare Nachricht gewesen. Holly hatte zuletzt in fünf anderen Büchern Kings mitgespielt und war jedes Mal die stärkste Figur: eine scheue, intuitiv außerordentlich begabte Privatdetektivin, irgendwo zwischen Stig Larsons coolem Nerd Lisbeth Salander und der freundlichen Landpolizistin Marge Gunderson aus "Fargo". So zuverlässig King es schafft, immer wieder neue männliche Figuren zu erfinden, die sein Ideal des aufrechten Amerikaners mit angeknackster Seele und robuster Vergangenheit verkörpern, so besonders ist diese Holly Gibney. Zwar nicht die erste starke weibliche Hauptfigur in Kings Werk. Aber die modernste von allen. Und die sperrigste.
Stephen King ist ein äußerst produktiver Schriftsteller. Er hat mit "Carrie" oder "Es" das Horrorgenre von Anfang an für amerikanische Gegenwartsdiagnosen genutzt. King war immer politisch. In der Terminologie von heute würde man schon seine frühen Figurenkonstellationen divers, sein soziales Bewusstsein in aller Vorsicht "woke" nennen. Liest man die alten Bücher mit den Augen von heute, wird das immer klarer.
Lange ist Kings literarische Kraft unterschätzt worden - was sich an der schwankenden Qualität der deutschen Übersetzungen zeigt, je weiter man in der Zeit zurückgeht. Anfangs sind Kings Bücher von seinen wechselnden deutschen Verlagen oft lieblos behandelt worden. Das ist heute definitiv nicht mehr der Fall. Inzwischen berufen sich aber eben auch Autorinnen wie Ottessa Moshfegh oder Autoren wie Colson Whitehead laut und deutlich auf Stephen King. In diesen Lobpreisungen geht es dann meist um Kings Erfindungskraft und erzählerische Wucht, aber selten darüber hinaus. King galt nie als Intellektueller des Erzählens, er würde sich selbst, bei aller Belesenheit, auch nie so bezeichnen.
Und doch - das zeigt auch der neue Roman wieder - ist Stephen King ein durch und durch selbstreflexiver Erzähler. Ein Postmoderner. Das ist zum Beispiel daran zu erkennen, wie er seine Geschichten öffnet für Figuren und Motive und Orte, die mal hier, mal dort wieder auftauchen und so eine Art Kingversum erschaffen. Die Privatdetektivin Holly Gibney hat sich über fünf Bücher hinweg in dieser Welt festgesetzt, hat sich vom Rand in die Mitte bewegt. Sie begann als Nebenfigur im übersinnlichen Krimi "Mr. Mercedes" von 2014, erschien dann erneut in der grausamen Gestaltwandlergeschichte "Outsider", im neuen Roman ermittelt sie jetzt auf den Spuren eines betagten akademischen Ehepaars, das in Serie mordet, um sein eigenes Leben zu verlängern.
Holly Gibney hat viele Geschwister. Denn diese Wiederbesetzung alter Figuren in neuen Geschichten kennt man auch aus Klassikern von Stephen King. Die Vorgeschichte des Kochs aus "Shining" (1977) wird in "Es" (1986) erzählt. Der fiese Ace Merrill aus der Erzählung "Die Leiche" (1982), weltberühmt geworden in der Verfilmung "Stand by Me", kehrt als nicht weniger fieser Typ 1991 wieder in dem Roman "In einer kleinen Stadt". Und so weiter. Dann gibt es auch noch die Orte - das verwunschene Hotel Overlook in den Rocky Mountains, die verrottete Kleinstadt Derry - und Motive wie die Zahl 217, die durch viele Geschichten geistern. King tut das nicht, um Kunststückchen vorzuführen, so etwas wäre ihm fremd und zuwider. Das Recycling gibt seinem Werk einen Halt. Andererseits bindet es das Publikum fest daran, denn wer freute sich nicht, Anspielungen, Verbindungen, Unterströme wiederzuerkennen. Stephen King hat das Selbstreflexive seiner Erzählkunst ganz in den Dienst der Leseglücks gestellt. Es geht um uns, nicht um ihn.
Das Ensemblehafte an seinem Gesamtwerk ist das Eine. Das andere aber, und das macht King dann wirklich postmodern, ist, wie sich seine Geschichten permanent mit dem Geschichtenerzählen selbst beschäftigen. Und mit Sprache. In "Love" von 2006 wie in "Fairy Tale" von 2022 sind Sprache, Kommunikation und Codes zentrale Themen. Immer wieder spielen beim Schriftsteller King Schriftsteller die Hauptrolle, in Klassikern wie "Shining" oder "Sie" natürlich, in "Es", in "Stand by Me". Im neuen Roman sind es jetzt zwei Dichterinnen, die sich im Laufe des Buchs anfreunden. Die beiden, Olivia und Barbara, tragen zur Mordgeschichte eigentlich nicht mehr bei, als ihre Lösung gewaltig aufzuhalten, was natürlich ein Trick ist, um Spannung zu erzeugen. King könnte die Seiten zu diesem Zweck mit allem Möglichen füllen. Je älter er aber wird, desto mehr Zeit verwendet er aufs Ausmalen sozialer Realitäten. Und sei es, wie in "Holly", die Realität einer gefeierten alten Dichterin zu beschreiben, die einer unbekannten jungen Dichterin dabei hilft, einen renommierten Poetik-Preis zu gewinnen - dessen Regularien in allen Details ausgemalt werden. Fast könnte man denken, in um sich selbst kreisender deutscher Gegenwartsprosa gelandet zu sein: Autorenzweifel, Sprachkrisen, Erlebniskrisen, Autofiktion. Aber hier schreibt Stephen King, der Monster liebt und Horror und Elvis und Hamburger. Aber vor allem und am meisten: eine gute Geschichte.
"Holly" ist das, bei aller Vorfreude auf die Figur, leider nicht geworden. Den größten Spaß bereitet im neuen Roman die Beschreibung der Vereinigten Staaten in der Pandemie. Holly trägt Maske (und raucht Kette) und trifft ständig auf Landsleute, die das nicht tun, die ihr aber sofort erklären können, warum das ganze Covid-Ding ein einziger großer, marxistischer Betrug sei. Die letzten Romane Kings haben alle die polarisierten Verhältnisse der Vereinigten Staaten unter Obama, Trump und jetzt Biden festgehalten. Kaum ein anderer amerikanischer Bestsellerautor hat das so früh getan wie King, der auch auf Twitter leidenschaftlich gegen die ins Rechtsextreme gewanderte, verantwortungsverwahrloste Republikanische Partei anschreibt (wenn er nicht gerade Fotos seines Hundes postet oder sehr schlechte, gute Flachwitze reißt.)
Kings Kampf gegen Rechts zeigt sich in "Holly" im Serienkillerpaar Emily und Roddy Harris: zwei älter gewordene, privilegierte Liberale, die mit jedem Jahr tiefer ins Ressentiment gegen Schwule, Schwarze, Schwache abgerutscht sind, falls sie nicht immer schon dringesteckt haben. In den frühen Romanen Kings waren in aller Selbstverständlichkeit weiße und schwarze Amerikanerinnen und Amerikaner im Kampf gegen das Böse vereint. Das war einfach so, so war King. Jetzt rückt genau diese Vorbildfunktion direkt in den Blick.
Auch wenn Stephen King seiner Figur Holly im neuen Buch eine große Bühne bereitet - sie steht oft etwas ratlos in der detailliert ausgemalten Szene herum. Man liest das trotzdem in einem Rutsch, ahnt früh, zu welchem Showdown es kommen muss, freut sich deswegen mehr darüber, wie es King gelingt, Nebenfiguren so geschickt einzuführen, dass erst spät zu ahnten ist, welche Hautfarbe sie haben.
King hat, je älter er wird, nicht aufgehört, an sich zu arbeiten. Das über die Jahre zu beobachten, in der Hoffnung, dass dieser einzigartige Autor noch viele davon haben wird, ist auch: Leseglück. TOBIAS RÜTHER
Stephen King, "Holly". Aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Kleinschmidt. Heyne, 640 Seiten, 28 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Je älter Stephen King wird, desto stärker zeigt sich, was sein erzählerisches Werk zusammenhält - auch jetzt in "Holly".
Seit vergangenem Donnerstag ist der amerikanische Schriftsteller Stephen King 76 Jahre alt. Und er schreibt weiter, wie seit Langem, ein Buch nach dem anderen. Hat er das jeweils letzte beendet, ist das nächste meist auch so gut wie fertig. Im März 2022, als der letzte Roman, das dystopisch-brutale Märchen "Fairy Tale", gerade in Druck ging, verriet King im Gespräch mit dem Fan-Podcast "Kingcast" schon den Titel seines nächsten Projekts: "Holly". Jetzt, in diesen Septembertagen rund um Kings Geburtstag, erscheint der Roman auch auf Deutsch.
"Holly": Dass es einen ganzen Roman um die Figur der Holly Gibney geben würde, war im März 2022 eine wunderbare Nachricht gewesen. Holly hatte zuletzt in fünf anderen Büchern Kings mitgespielt und war jedes Mal die stärkste Figur: eine scheue, intuitiv außerordentlich begabte Privatdetektivin, irgendwo zwischen Stig Larsons coolem Nerd Lisbeth Salander und der freundlichen Landpolizistin Marge Gunderson aus "Fargo". So zuverlässig King es schafft, immer wieder neue männliche Figuren zu erfinden, die sein Ideal des aufrechten Amerikaners mit angeknackster Seele und robuster Vergangenheit verkörpern, so besonders ist diese Holly Gibney. Zwar nicht die erste starke weibliche Hauptfigur in Kings Werk. Aber die modernste von allen. Und die sperrigste.
Stephen King ist ein äußerst produktiver Schriftsteller. Er hat mit "Carrie" oder "Es" das Horrorgenre von Anfang an für amerikanische Gegenwartsdiagnosen genutzt. King war immer politisch. In der Terminologie von heute würde man schon seine frühen Figurenkonstellationen divers, sein soziales Bewusstsein in aller Vorsicht "woke" nennen. Liest man die alten Bücher mit den Augen von heute, wird das immer klarer.
Lange ist Kings literarische Kraft unterschätzt worden - was sich an der schwankenden Qualität der deutschen Übersetzungen zeigt, je weiter man in der Zeit zurückgeht. Anfangs sind Kings Bücher von seinen wechselnden deutschen Verlagen oft lieblos behandelt worden. Das ist heute definitiv nicht mehr der Fall. Inzwischen berufen sich aber eben auch Autorinnen wie Ottessa Moshfegh oder Autoren wie Colson Whitehead laut und deutlich auf Stephen King. In diesen Lobpreisungen geht es dann meist um Kings Erfindungskraft und erzählerische Wucht, aber selten darüber hinaus. King galt nie als Intellektueller des Erzählens, er würde sich selbst, bei aller Belesenheit, auch nie so bezeichnen.
Und doch - das zeigt auch der neue Roman wieder - ist Stephen King ein durch und durch selbstreflexiver Erzähler. Ein Postmoderner. Das ist zum Beispiel daran zu erkennen, wie er seine Geschichten öffnet für Figuren und Motive und Orte, die mal hier, mal dort wieder auftauchen und so eine Art Kingversum erschaffen. Die Privatdetektivin Holly Gibney hat sich über fünf Bücher hinweg in dieser Welt festgesetzt, hat sich vom Rand in die Mitte bewegt. Sie begann als Nebenfigur im übersinnlichen Krimi "Mr. Mercedes" von 2014, erschien dann erneut in der grausamen Gestaltwandlergeschichte "Outsider", im neuen Roman ermittelt sie jetzt auf den Spuren eines betagten akademischen Ehepaars, das in Serie mordet, um sein eigenes Leben zu verlängern.
Holly Gibney hat viele Geschwister. Denn diese Wiederbesetzung alter Figuren in neuen Geschichten kennt man auch aus Klassikern von Stephen King. Die Vorgeschichte des Kochs aus "Shining" (1977) wird in "Es" (1986) erzählt. Der fiese Ace Merrill aus der Erzählung "Die Leiche" (1982), weltberühmt geworden in der Verfilmung "Stand by Me", kehrt als nicht weniger fieser Typ 1991 wieder in dem Roman "In einer kleinen Stadt". Und so weiter. Dann gibt es auch noch die Orte - das verwunschene Hotel Overlook in den Rocky Mountains, die verrottete Kleinstadt Derry - und Motive wie die Zahl 217, die durch viele Geschichten geistern. King tut das nicht, um Kunststückchen vorzuführen, so etwas wäre ihm fremd und zuwider. Das Recycling gibt seinem Werk einen Halt. Andererseits bindet es das Publikum fest daran, denn wer freute sich nicht, Anspielungen, Verbindungen, Unterströme wiederzuerkennen. Stephen King hat das Selbstreflexive seiner Erzählkunst ganz in den Dienst der Leseglücks gestellt. Es geht um uns, nicht um ihn.
Das Ensemblehafte an seinem Gesamtwerk ist das Eine. Das andere aber, und das macht King dann wirklich postmodern, ist, wie sich seine Geschichten permanent mit dem Geschichtenerzählen selbst beschäftigen. Und mit Sprache. In "Love" von 2006 wie in "Fairy Tale" von 2022 sind Sprache, Kommunikation und Codes zentrale Themen. Immer wieder spielen beim Schriftsteller King Schriftsteller die Hauptrolle, in Klassikern wie "Shining" oder "Sie" natürlich, in "Es", in "Stand by Me". Im neuen Roman sind es jetzt zwei Dichterinnen, die sich im Laufe des Buchs anfreunden. Die beiden, Olivia und Barbara, tragen zur Mordgeschichte eigentlich nicht mehr bei, als ihre Lösung gewaltig aufzuhalten, was natürlich ein Trick ist, um Spannung zu erzeugen. King könnte die Seiten zu diesem Zweck mit allem Möglichen füllen. Je älter er aber wird, desto mehr Zeit verwendet er aufs Ausmalen sozialer Realitäten. Und sei es, wie in "Holly", die Realität einer gefeierten alten Dichterin zu beschreiben, die einer unbekannten jungen Dichterin dabei hilft, einen renommierten Poetik-Preis zu gewinnen - dessen Regularien in allen Details ausgemalt werden. Fast könnte man denken, in um sich selbst kreisender deutscher Gegenwartsprosa gelandet zu sein: Autorenzweifel, Sprachkrisen, Erlebniskrisen, Autofiktion. Aber hier schreibt Stephen King, der Monster liebt und Horror und Elvis und Hamburger. Aber vor allem und am meisten: eine gute Geschichte.
"Holly" ist das, bei aller Vorfreude auf die Figur, leider nicht geworden. Den größten Spaß bereitet im neuen Roman die Beschreibung der Vereinigten Staaten in der Pandemie. Holly trägt Maske (und raucht Kette) und trifft ständig auf Landsleute, die das nicht tun, die ihr aber sofort erklären können, warum das ganze Covid-Ding ein einziger großer, marxistischer Betrug sei. Die letzten Romane Kings haben alle die polarisierten Verhältnisse der Vereinigten Staaten unter Obama, Trump und jetzt Biden festgehalten. Kaum ein anderer amerikanischer Bestsellerautor hat das so früh getan wie King, der auch auf Twitter leidenschaftlich gegen die ins Rechtsextreme gewanderte, verantwortungsverwahrloste Republikanische Partei anschreibt (wenn er nicht gerade Fotos seines Hundes postet oder sehr schlechte, gute Flachwitze reißt.)
Kings Kampf gegen Rechts zeigt sich in "Holly" im Serienkillerpaar Emily und Roddy Harris: zwei älter gewordene, privilegierte Liberale, die mit jedem Jahr tiefer ins Ressentiment gegen Schwule, Schwarze, Schwache abgerutscht sind, falls sie nicht immer schon dringesteckt haben. In den frühen Romanen Kings waren in aller Selbstverständlichkeit weiße und schwarze Amerikanerinnen und Amerikaner im Kampf gegen das Böse vereint. Das war einfach so, so war King. Jetzt rückt genau diese Vorbildfunktion direkt in den Blick.
Auch wenn Stephen King seiner Figur Holly im neuen Buch eine große Bühne bereitet - sie steht oft etwas ratlos in der detailliert ausgemalten Szene herum. Man liest das trotzdem in einem Rutsch, ahnt früh, zu welchem Showdown es kommen muss, freut sich deswegen mehr darüber, wie es King gelingt, Nebenfiguren so geschickt einzuführen, dass erst spät zu ahnten ist, welche Hautfarbe sie haben.
King hat, je älter er wird, nicht aufgehört, an sich zu arbeiten. Das über die Jahre zu beobachten, in der Hoffnung, dass dieser einzigartige Autor noch viele davon haben wird, ist auch: Leseglück. TOBIAS RÜTHER
Stephen King, "Holly". Aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Kleinschmidt. Heyne, 640 Seiten, 28 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.09.2023Im Keller
Stephen Kings neuer Roman „Holly“ ist ein fieser Kannibalenkrimi und eine Abrechnung
mit den Pandemiejahren unter Donald Trump
VON DAVID STEINITZ
Veganer sind natürlich die Schlimmsten. Bei ihnen dauert es ewig, bis man sie zum Essen der rohen Kalbsleber bringt, und je länger es dauert, desto schwieriger wird’s für sie: Dann gerinnt der Blutsaft um das Fleisch zu einer zähen Masse, die Leber wird grau und schrumpelig und zäh, irgendwann kommen Fliegen, Maden. Aber es muss sein. Das Kannibalenpärchen in dieser bösen Fleischfressergeschichte hat es sich zum Ritual gemacht: Jedes seiner menschlichen Opfer muss, bevor es selbst verspeist wird, ein Stück rohe Leber essen. Das kitzelt angeblich besonders viel Geschmack und Nährstoffe hervor.
Der Ekelfaktor in diesem Roman wirkt fast schon ein bisschen überroutiniert, als wäre es Stephen King peinlich, ein Buch ohne eine gewisse Mindestliterzahl an Blut abzugeben. Aber von der Leber und auch dem älteren Kannibalenpärchen, das sich im Keller seines Vorstadthäuschens einen Käfig für das menschliche Zuchtvieh gebaut hat, darf man sich nicht täuschen lassen. Der Horrorautor King hat mit „Holly“ vor allem einen astreinen Krimi geschrieben.
Das hat ihn in den letzten Jahren oft mehr interessiert als die klassischen Gruselgeschichten um übernatürliche Phänomene und Wesen, mit denen er in den Siebzigern- und Achtzigern seine beispiellose Bestsellerkarriere begründet hat. Stephen King wird am 21. September 76 Jahre alt, und im nächsten Jahr ist es stolze 50 Jahre her, dass sein erster Roman erschien: „Carrie“.
Dieses Buch, mit dem alles anfing, fischte laut vielfach kolportierter Legende seine Frau Tabitha aus dem Müll. Sie zwang ihn, das Manuskript, an das er selbst nicht mehr glaubte, einzusenden. Das war, vorsichtig formuliert, eine gute Idee. Allein für die Taschenbuchrechte bekam King die fürs Jahr 1974 vollkommen irrsinnige Summe von 400 000 Dollar, und die Familie mit kleinen Kindern, die bis dahin nur sehr knapp über der Armutsgrenze gelebt hatte, war mit einem Schlag reich. Das führte über viele Jahre auch zu einer veritablen Kokain- und Alkoholsucht des Schriftstellers. Später gab er in seinen fantastischen Minimemoiren „On Writing“, in denen alles steht, was man über Alkoholismus und Adverbien wissen muss, zu Protokoll, er habe sich gegen Ende der Achtzigerjahre nicht mal mehr erinnern können, Besteller wie „Cujo“ geschrieben zu haben.
Aber auch – oder gerade – nach dem erfolgreichen Entzug (King geht bis heute regelmäßig zu den Anonymen Alkoholikern) hatte er noch einen Output wie ein Berserker. Er hat über 60 Romane (sowie eine vermutlich nur noch von der NASA technisch erfassbare Menge an Kurzgeschichten) geschrieben und laut Verlagsangaben weltweit über 400 Millionen Bücher verkauft. Und kaum hat man eins durch, liegt auch schon wieder das nächste Rezensionsexemplar auf dem Tisch, das diesmal mit gut 600 Seiten eine für King-Verhältnisse sagen wir mal mittlere Länge hat.
Holly, die Frau aus dem Buchtitel, kam schon in mehreren Büchern vor, meist als Nebenfigur, zum Beispiel in „Mr. Mercedes“ und „Der Outsider“. Vorkenntnisse sind für das neue Buch nett, aber nicht notwendig. Holly ist mittlerweile Ko-Besitzerin der privaten Ermittlungsagentur „Finders Keepers“ und bearbeitet kleinere Fälle um Versicherungsbetrug und Ausreißer. Sie bekommt Besuch von einer Mutter, die ihre Tochter vermisst, seit Wochen schon. Das hübsche Mädchen Mitte zwanzig ist einfach von einem Tag auf den anderen wie vom Erdboden verschwunden. Die Polizei, die bislang mäßig hilfreich war, hat lediglich ihr Fahrrad gefunden, daran eine Notiz: „Ich habe genug“. Aber warum sollte die junge, lebensfrohe Frau einfach abhauen?
Holly übernimmt den Fall, obwohl sie gerade selbst an einem Tiefpunkt ist. Ihre Mutter, überzeugte Trump-Anhängerin und Corona-Leugnerin mit „Make America Great Again“-Käppie, ist nach mehreren Tagen am Beatmungsgerät an dem Virus gestorben, dessen Existenz sie geleugnet hat. Aber natürlich wird Holly trotzdem die Spur des verschwundenen Mädchens aufnehmen, die sie schließlich zu dem Kannibalenpärchen führen wird. Das ist kein Spoiler, denn Stephen King führt die Schurken dieser Story von Anfang an ein. Ihm geht es nicht ums Wer, sondern ums Wie, und wie Holly den Serienmördern schließlich auf die Spur kommt – und ob sie das verschwundene Mädchen noch retten kann – daraus speist sich die Spannung.
Neben dieser Krimihandlung ist „Holly“ aber auch ein Pandemieroman und eine düstere Abrechnung mit den Covid-Jahren unter Donald Trump. Früher hat Stephen King seine Geschichten nicht so stark in den Problemfeldern der Gegenwart verankert, mittlerweile macht er das immer öfter – aber noch nie so explizit wie diesmal. King ist Demokrat, lebt aber seit Jahrzehnten in der Kleinstadt Bangor im US-Bundesstaat Maine. Ländliches Neuengland also, weit weg von den hysterischen Showbusiness-Epizentren New York und Los Angeles, mit denen King ungefähr genauso viel anfangen kann wie mit Trump-Anhängern. So, wie er sich in Interviews gibt, und so wie er schreibt, dürfte man ihn vermutlich als konservativen Demokraten beschreiben. Aber auch dem konservativen Demokraten King ist während Trumps Amtszeit wohl die Hutschnur geplatzt. Unter den amerikanischen Bestsellerautoren ist vermutlich nur noch Don Winslow aktiver in der Bekämpfung des Trumpismus als King.
Im neuen Buch speist sich das Grauen neben den fiktiven Bösewichten also auch aus der realen Spaltung des Landes, die sich durch Familien und Freundeskreise zieht, durch Nachbarschaften und Bowlingvereine. Diesen Horror kann auch der stets an einem halbwegs gütlichen Happy End interessierte Monsterbändiger Stephen King seine Heldin nicht besiegen lassen. Aber immerhin kann er sie in ihrem Fall auf die richtige Fährte führen. Der entscheidende Hinweis kommt schließlich durch eine nächtliche TV-Wiederholung von „The Big Lebowski“.
Bald ist es stolze 50 Jahre
her, dass sein erster Roman
„Carrie“ erschien
Der Weltbestsellerautor Stephen King ist 1947 in Maine geboren und lebt dort nach wie vor.
Foto: Shane Leonard
Stephen King:
Holly. Roman. Aus dem Amerikanischen von
Bernhard Kleinschmidt. Heyne, München 2023.
640 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Stephen Kings neuer Roman „Holly“ ist ein fieser Kannibalenkrimi und eine Abrechnung
mit den Pandemiejahren unter Donald Trump
VON DAVID STEINITZ
Veganer sind natürlich die Schlimmsten. Bei ihnen dauert es ewig, bis man sie zum Essen der rohen Kalbsleber bringt, und je länger es dauert, desto schwieriger wird’s für sie: Dann gerinnt der Blutsaft um das Fleisch zu einer zähen Masse, die Leber wird grau und schrumpelig und zäh, irgendwann kommen Fliegen, Maden. Aber es muss sein. Das Kannibalenpärchen in dieser bösen Fleischfressergeschichte hat es sich zum Ritual gemacht: Jedes seiner menschlichen Opfer muss, bevor es selbst verspeist wird, ein Stück rohe Leber essen. Das kitzelt angeblich besonders viel Geschmack und Nährstoffe hervor.
Der Ekelfaktor in diesem Roman wirkt fast schon ein bisschen überroutiniert, als wäre es Stephen King peinlich, ein Buch ohne eine gewisse Mindestliterzahl an Blut abzugeben. Aber von der Leber und auch dem älteren Kannibalenpärchen, das sich im Keller seines Vorstadthäuschens einen Käfig für das menschliche Zuchtvieh gebaut hat, darf man sich nicht täuschen lassen. Der Horrorautor King hat mit „Holly“ vor allem einen astreinen Krimi geschrieben.
Das hat ihn in den letzten Jahren oft mehr interessiert als die klassischen Gruselgeschichten um übernatürliche Phänomene und Wesen, mit denen er in den Siebzigern- und Achtzigern seine beispiellose Bestsellerkarriere begründet hat. Stephen King wird am 21. September 76 Jahre alt, und im nächsten Jahr ist es stolze 50 Jahre her, dass sein erster Roman erschien: „Carrie“.
Dieses Buch, mit dem alles anfing, fischte laut vielfach kolportierter Legende seine Frau Tabitha aus dem Müll. Sie zwang ihn, das Manuskript, an das er selbst nicht mehr glaubte, einzusenden. Das war, vorsichtig formuliert, eine gute Idee. Allein für die Taschenbuchrechte bekam King die fürs Jahr 1974 vollkommen irrsinnige Summe von 400 000 Dollar, und die Familie mit kleinen Kindern, die bis dahin nur sehr knapp über der Armutsgrenze gelebt hatte, war mit einem Schlag reich. Das führte über viele Jahre auch zu einer veritablen Kokain- und Alkoholsucht des Schriftstellers. Später gab er in seinen fantastischen Minimemoiren „On Writing“, in denen alles steht, was man über Alkoholismus und Adverbien wissen muss, zu Protokoll, er habe sich gegen Ende der Achtzigerjahre nicht mal mehr erinnern können, Besteller wie „Cujo“ geschrieben zu haben.
Aber auch – oder gerade – nach dem erfolgreichen Entzug (King geht bis heute regelmäßig zu den Anonymen Alkoholikern) hatte er noch einen Output wie ein Berserker. Er hat über 60 Romane (sowie eine vermutlich nur noch von der NASA technisch erfassbare Menge an Kurzgeschichten) geschrieben und laut Verlagsangaben weltweit über 400 Millionen Bücher verkauft. Und kaum hat man eins durch, liegt auch schon wieder das nächste Rezensionsexemplar auf dem Tisch, das diesmal mit gut 600 Seiten eine für King-Verhältnisse sagen wir mal mittlere Länge hat.
Holly, die Frau aus dem Buchtitel, kam schon in mehreren Büchern vor, meist als Nebenfigur, zum Beispiel in „Mr. Mercedes“ und „Der Outsider“. Vorkenntnisse sind für das neue Buch nett, aber nicht notwendig. Holly ist mittlerweile Ko-Besitzerin der privaten Ermittlungsagentur „Finders Keepers“ und bearbeitet kleinere Fälle um Versicherungsbetrug und Ausreißer. Sie bekommt Besuch von einer Mutter, die ihre Tochter vermisst, seit Wochen schon. Das hübsche Mädchen Mitte zwanzig ist einfach von einem Tag auf den anderen wie vom Erdboden verschwunden. Die Polizei, die bislang mäßig hilfreich war, hat lediglich ihr Fahrrad gefunden, daran eine Notiz: „Ich habe genug“. Aber warum sollte die junge, lebensfrohe Frau einfach abhauen?
Holly übernimmt den Fall, obwohl sie gerade selbst an einem Tiefpunkt ist. Ihre Mutter, überzeugte Trump-Anhängerin und Corona-Leugnerin mit „Make America Great Again“-Käppie, ist nach mehreren Tagen am Beatmungsgerät an dem Virus gestorben, dessen Existenz sie geleugnet hat. Aber natürlich wird Holly trotzdem die Spur des verschwundenen Mädchens aufnehmen, die sie schließlich zu dem Kannibalenpärchen führen wird. Das ist kein Spoiler, denn Stephen King führt die Schurken dieser Story von Anfang an ein. Ihm geht es nicht ums Wer, sondern ums Wie, und wie Holly den Serienmördern schließlich auf die Spur kommt – und ob sie das verschwundene Mädchen noch retten kann – daraus speist sich die Spannung.
Neben dieser Krimihandlung ist „Holly“ aber auch ein Pandemieroman und eine düstere Abrechnung mit den Covid-Jahren unter Donald Trump. Früher hat Stephen King seine Geschichten nicht so stark in den Problemfeldern der Gegenwart verankert, mittlerweile macht er das immer öfter – aber noch nie so explizit wie diesmal. King ist Demokrat, lebt aber seit Jahrzehnten in der Kleinstadt Bangor im US-Bundesstaat Maine. Ländliches Neuengland also, weit weg von den hysterischen Showbusiness-Epizentren New York und Los Angeles, mit denen King ungefähr genauso viel anfangen kann wie mit Trump-Anhängern. So, wie er sich in Interviews gibt, und so wie er schreibt, dürfte man ihn vermutlich als konservativen Demokraten beschreiben. Aber auch dem konservativen Demokraten King ist während Trumps Amtszeit wohl die Hutschnur geplatzt. Unter den amerikanischen Bestsellerautoren ist vermutlich nur noch Don Winslow aktiver in der Bekämpfung des Trumpismus als King.
Im neuen Buch speist sich das Grauen neben den fiktiven Bösewichten also auch aus der realen Spaltung des Landes, die sich durch Familien und Freundeskreise zieht, durch Nachbarschaften und Bowlingvereine. Diesen Horror kann auch der stets an einem halbwegs gütlichen Happy End interessierte Monsterbändiger Stephen King seine Heldin nicht besiegen lassen. Aber immerhin kann er sie in ihrem Fall auf die richtige Fährte führen. Der entscheidende Hinweis kommt schließlich durch eine nächtliche TV-Wiederholung von „The Big Lebowski“.
Bald ist es stolze 50 Jahre
her, dass sein erster Roman
„Carrie“ erschien
Der Weltbestsellerautor Stephen King ist 1947 in Maine geboren und lebt dort nach wie vor.
Foto: Shane Leonard
Stephen King:
Holly. Roman. Aus dem Amerikanischen von
Bernhard Kleinschmidt. Heyne, München 2023.
640 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de