Aus der Nacht der sprichwörtlichen Dunklen Jahrhunderte bricht im 8. Jahrhundert v. Chr. die strahlende Morgenröte der griechischen Literatur hervor. Zwei gewaltige Epen - Ilias und Odyssee - erzählen von Göttern, Helden und Menschen und bergen gleichermaßen Mythen der Vergangenheit wie auch Geschichte der Zeitgenossen. Der Name des Dichters, unter dem sie überliefert werden, ist unvergänglicher Bestandteil unseres kulturellen Gedächtnisses geworden - Homer.
Thomas A. Szlezák erschließt mit seinem wunderbaren Buch Ilias und Odyssee als zwei Hauptwerke der Weltliteratur. Zunächst erläutert er, was wir über Homer wissen können, und wendet sich dann den beiden Epen zu. Er beschreibt, wie sie aufgebaut und mit welchen literarischen Mitteln sie gestaltet sind, bietet dann jeweils eine Einführung in den Handlungsablauf, stellt die Protagonisten vor, zeichnet die Konfliktlinien nach, erhellt das kulturelle und lebensweltliche Umfeld, in dem die Epen entstanden, und macht deutlich, welche religiösen und ethischen Vorstellungen sie durchziehen. Kurzum: Thomas A. Szlezák lehrt uns, Homer zu lesen - eine Freude für jeden Homer-Liebhaber, eine Einladung für jeden, der es werden möchte.
Thomas A. Szlezák erschließt mit seinem wunderbaren Buch Ilias und Odyssee als zwei Hauptwerke der Weltliteratur. Zunächst erläutert er, was wir über Homer wissen können, und wendet sich dann den beiden Epen zu. Er beschreibt, wie sie aufgebaut und mit welchen literarischen Mitteln sie gestaltet sind, bietet dann jeweils eine Einführung in den Handlungsablauf, stellt die Protagonisten vor, zeichnet die Konfliktlinien nach, erhellt das kulturelle und lebensweltliche Umfeld, in dem die Epen entstanden, und macht deutlich, welche religiösen und ethischen Vorstellungen sie durchziehen. Kurzum: Thomas A. Szlezák lehrt uns, Homer zu lesen - eine Freude für jeden Homer-Liebhaber, eine Einladung für jeden, der es werden möchte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2012Als im schöngebildeten Bette die Pfosten wackelten
So viel Welthaltigkeit ist schwer zu übertreffen: Thomas Szlezák durchkämmt das Werk Homers - und erschließt damit Grundtexte unserer Kultur.
Von Uwe Walter
Für Homer ist gut gesorgt. Man hat die Wahl zwischen mehreren, sehr verschiedenen Übersetzungen von Johann Heinrich Voss bis Raoul Schrott, die Kontroversen um Existenz, Lage und Bedeutung des heiligen Ilios haben auch den Epen vermehrte Aufmerksamkeit beschert, und Studierende können sich nicht nur in etlichen "Companions", sondern neuerdings auch in einem "Homer-Handbuch" orientieren. Doch Homer versteht sich immer noch nicht und wohl weniger denn je von selbst.
Während in den vergangenen Troia-Debatten oftmals - und keineswegs nur aus dem Munde von Archäologen - von sensationellen Entdeckungen die Rede war, die vorgeblich ein ganz neues Bild zu entwerfen nötigen, hat sich Thomas Szlezák das Wissen um ein Hauptmerkmal seiner Disziplin, der griechischen Philologie, bewahrt: Die Homer-Exegese reicht um einige Jahrhunderte weiter zurück als die Texte des Neuen Testaments und deren Erklärung. Ein so langes Leben ist allemal interessanter als die Neuigkeit. Hier liegt die Pointe der zunächst überraschenden und auch riskanten Disposition, die der Tübinger Gelehrte vornimmt. Er beginnt nämlich mit antiken und modernen Urteilen über Homer.
"Ilias" und "Odyssee" wurden zu Grundtexten zunächst der Hellenen, an deren erzieherischer Wirkung sich freilich schon bald Kritik entzündete. Dass ein Werk aus archaischer Zeit, in dem eine technisch und ökonomisch wenig entwickelte Welt geschildert wird, in sehr viel höher organisierten Formationen und bis in die Moderne hinein gleichwohl als maßstabsetzend gelten konnte, erscheint hier als "das eigentliche Wunder der europäischen Geistes- und Literaturgeschichte". In der Skizze der modernen Homer-Philologie bietet Szlezák das Gegenteil einer neutralen Chronik. Für die mit Friedrich August Wolf um 1800 einsetzende sogenannte analytische Richtung, die anhand von tatsächlichen oder angeblichen Widersprüchen und Bruchstellen die beiden Epen in einst selbständige Teile zerlegen und ,Homer' zu einem mehr oder minder beschränkten Redaktor stempeln wollte, hat er keinerlei Verständnis. Auch die in der Mitte des vorigen Jahrhunderts aufgekommene Oral-poetry-Forschung habe beide Werke verkannt: Die eigentliche Leistung in der Charakterzeichnung, dem Spiel mit Motiven, der Handlungsführung und der Deutung der menschlichen Existenz könne nicht erkennen, wer sich die Dichter als finale Vertreter eines mit Traditionsund Versbausteinen gespeisten, letztlich mechanischen Versschmiedehandwerks vorstelle. Interessant wäre es, etwas über die Gründe für die Verirrungen zumal der Analyse zu erfahren. Wollte eine sich erneuernde, fortschrittliche akademische Disziplin ihre Eigenständigkeit gegenüber dem ästhetischen Zugriff auf die Epen erweisen?
Nicht zufällig zitiert Szlezák immer wieder zustimmend Goethe, der zweifellos ein intuitiver Unitarier war, aber mit seinem im Wortsinn dilettantischen Zugang gleichsam von Dichter zu Dichter keinen Weg zur Philologie als einer lehrbaren Wissenschaft wies. Oder hielt man es im Fahrwasser romantischer Vorstellungen für unmöglich, dass so komplexe Dichtungen zugleich den Anfang der griechischen Poesie darstellten, wo doch viel einfachere Formen zu erwarten gewesen wären? Szlezák deutet das beiläufig an, verfolgt den Gedanken aber leider nicht weiter. Ungestellt bleibt auch die Frage, warum der Umbruch von der zergliedernden Analyse zur verstehenden Interpretation nach dem Ersten Weltkrieg begann, parallel zum sogenannten Dritten Humanismus.
Keinen Homer-Forscher zitiert der Autor so oft und so zustimmend wie Wolfgang Schadewaldt, doch die wissenschaftsgeschichtliche Stellung dieses Gelehrten (F.A.Z. vom 7. Juni 2000) wird nicht erörtert. Für Szlezák ist es nur "eine merkwürdige Ironie der Geschichte, dass die Klassische Philologie in der Zeit, in der sie eine der führenden Geisteswissenschaften war, in einem Maße an Strukturblindheit und interpretatorischer Unfähigkeit litt, das heute nachgerade peinlich wirkt". Aber diese Blindstelle fällt nicht ins Gewicht, dafür sorgt die reiche Belehrung zur Sache. Den möglichen historischen Hintergrund des Epos skizziert Szlezák fast provozierend knapp und stellt die völlig berechtigte Frage, was denn die "Ilias" gewinne, wenn man einen historischen Kern des darin Erzählten erweisen und den vermeintlichen Schauplatz besichtigen könne. Homers Welthaltigkeit braucht in der Tat den Hügel Hisarlik nicht.
In der Datierung der Epen, die er wie die meisten Forscher zwei verschiedenen Dichtern zuweist, entscheidet sich der Autor mit guten Gründen für einen gemäßigt frühen Ansatz: um 700 vor Christus oder etwas später für die "Ilias"; Mitte des siebten Jahrhunderts, etwa eine Generation danach, für die "Odyssee".
Den Kern des Buches machen zwei große Kapitel aus, in denen die "Ilias" ausführlich, die "Odyssee" etwas knapper vorgestellt wird. Szlezák trägt wie ein sorgfältiger Lackierer mehrere Schichten auf. Zunächst skizziert er den Inhalt, um dann die literarische Form und die Gestaltungsmittel zu besprechen. Das Thema des älteren Werkes - nicht etwa der Krieg um Ilios, sondern der Zorn des Achilleus und seine Folgen -, die Konzentration der Handlung, die dramatische Gestaltung, die Einteilung in sieben Akte und die Vorliebe des Dichters für dreiteilige Strukturen, die Verklammerung durch Motive und Ringkomposition, all dies findet sich schlüssig herausgearbeitet, ebenso bauliche Mittel wie Fernbezüge, Aufsparungen, parallele Handlungslinien, typische Szenen, Motivwiederholungen, Reden und Gleichnisse.
Den dritten Farbauftrag bilden Interpretationen ausgewählter Szenen. Darunter finden sich auch weniger bekannte, etwa die Sequenz mit dem Zweikampf zwischen Menelaos und Paris, den Letzterer verliert. Helena sucht, von Aphrodite genötigt, den geretteten Entführer im Schlafzimmer auf und beschimpft ihn, doch kurz danach kommen beide zur Sache: "Beide ruheten dann im schöngebildeten Bette" (Voss), "während sich die beiden liebten, daß die bettpfosten wackelten" (Schrott). Szlezák hält die ganze Liebesszene für die tiefgründigste, bösartigste, aber wohl auch psychologisch ,wahrste' der antiken Literatur - dargestellt sei "das abgründige Phänomen der sexuellen Hörigkeit". Die vierte Schicht bringt das Weltbild der "Ilias" zum Leuchten. Auch hier bezieht der Autor wieder klar Position, etwa in der alten Frage, ob die Helden frei entscheiden konnten. Die plakativen Verdikte, die Christa Wolf ("Achill das Vieh") oder Caroline Alexander ausgesprochen haben, erwähnt er nicht, doch seine Interpretationen der homerischen Ethik, zumal in der Versöhnungsszene zwischen Priamos und Achilleus am Ende des Epos, entlarven diese Lesarten als selektiv und oberflächlich. Die "Odyssee" erhellt Szlezák aus den Bezügen auf die "Ilias" und den Unterschieden zwischen beiden. Sie scheint ihn weit weniger zu faszinieren, doch auch hier finden sich lesenswerte Interpretationen. Vor allem das in Odysseus und Penelope verdichtete Ideal der lebenslangen Monogamie hat es ihm angetan.
Die zuletzt vieldiskutierte Frage nach den ,orientalischen' Einflüssen auf Homer wird erst zum Schluss und - methodisch konsequent - in Form eines Vergleichs zwischen dem Gilgamesch-Epos und den griechischen Epen aufgegriffen. Die Aufzählung gleicher Motive beeindruckt Szlezák nicht - in den für ihn entscheidenden Kriterien wie Personenzeichnung, Komposition, Welthaltigkeit und Ethik gibt es keine Gemeinsamkeiten. In der Tat: Ohne Kenntnis Homers kann kein brauchbares Buch über Vergil geschrieben werden. Aber niemand, der die vorderasiatischen ,Wurzeln' Homers ignoriere, müsse befürchten, deshalb auch nicht erfassen zu können, was die beiden Epen literarisch ausmacht.
Kleinigkeiten lassen sich immer bemängeln. So bleibt eingangs die Allegorese unerklärt, und die "Freite" gehört wohl zu den Wörtern, die nur noch Altphilologen der älteren Generation benutzen, ebenso die gruselige Wendung, "sie vollziehen das Beilager". Doch so, wie sie vorliegt, gründlich, kenntnisreich, ökonomisch in der Darstellung und entschieden in den Akzenten, dürfte Szlezáks Einführung - die der Verlag in der alten Rechtschreibung herauszubringen den Mut hatte - bis auf weiteres schwer zu übertreffen sein.
Und was sagt das Buch über die Klassische Philologie und ihre Zukunft? An einer Stelle zeigt sich der Tübinger Emeritus, wohl unbewusst, als Kampfgefährte eines völlig anders gestrickten Gelehrten wie Luciano Canfora (F.A.Z. vom 4. Juni 2012): Die Beschäftigung mit Homer führte in hellenistischer Zeit zum Entstehen eines reflektierten und methodischen Umgangs mit Texten, und ein Blick auf die christliche Welt vor dem achtzehnten Jahrhundert oder den modernen Islamismus zeige, dass "ohne einen methodisch-kritischen Umgang mit den Grundtexten einer Kultur wirkliche geistige Freiheit nicht möglich ist". Fürwahr, ein großes Wort entfloh da dem Gehege seiner Zähne!
Thomas A. Szlezák: "Homer oder Die Geburt der abendländischen Dichtung".
Verlag C. H. Beck, München 2012. 255 S., Abb., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
So viel Welthaltigkeit ist schwer zu übertreffen: Thomas Szlezák durchkämmt das Werk Homers - und erschließt damit Grundtexte unserer Kultur.
Von Uwe Walter
Für Homer ist gut gesorgt. Man hat die Wahl zwischen mehreren, sehr verschiedenen Übersetzungen von Johann Heinrich Voss bis Raoul Schrott, die Kontroversen um Existenz, Lage und Bedeutung des heiligen Ilios haben auch den Epen vermehrte Aufmerksamkeit beschert, und Studierende können sich nicht nur in etlichen "Companions", sondern neuerdings auch in einem "Homer-Handbuch" orientieren. Doch Homer versteht sich immer noch nicht und wohl weniger denn je von selbst.
Während in den vergangenen Troia-Debatten oftmals - und keineswegs nur aus dem Munde von Archäologen - von sensationellen Entdeckungen die Rede war, die vorgeblich ein ganz neues Bild zu entwerfen nötigen, hat sich Thomas Szlezák das Wissen um ein Hauptmerkmal seiner Disziplin, der griechischen Philologie, bewahrt: Die Homer-Exegese reicht um einige Jahrhunderte weiter zurück als die Texte des Neuen Testaments und deren Erklärung. Ein so langes Leben ist allemal interessanter als die Neuigkeit. Hier liegt die Pointe der zunächst überraschenden und auch riskanten Disposition, die der Tübinger Gelehrte vornimmt. Er beginnt nämlich mit antiken und modernen Urteilen über Homer.
"Ilias" und "Odyssee" wurden zu Grundtexten zunächst der Hellenen, an deren erzieherischer Wirkung sich freilich schon bald Kritik entzündete. Dass ein Werk aus archaischer Zeit, in dem eine technisch und ökonomisch wenig entwickelte Welt geschildert wird, in sehr viel höher organisierten Formationen und bis in die Moderne hinein gleichwohl als maßstabsetzend gelten konnte, erscheint hier als "das eigentliche Wunder der europäischen Geistes- und Literaturgeschichte". In der Skizze der modernen Homer-Philologie bietet Szlezák das Gegenteil einer neutralen Chronik. Für die mit Friedrich August Wolf um 1800 einsetzende sogenannte analytische Richtung, die anhand von tatsächlichen oder angeblichen Widersprüchen und Bruchstellen die beiden Epen in einst selbständige Teile zerlegen und ,Homer' zu einem mehr oder minder beschränkten Redaktor stempeln wollte, hat er keinerlei Verständnis. Auch die in der Mitte des vorigen Jahrhunderts aufgekommene Oral-poetry-Forschung habe beide Werke verkannt: Die eigentliche Leistung in der Charakterzeichnung, dem Spiel mit Motiven, der Handlungsführung und der Deutung der menschlichen Existenz könne nicht erkennen, wer sich die Dichter als finale Vertreter eines mit Traditionsund Versbausteinen gespeisten, letztlich mechanischen Versschmiedehandwerks vorstelle. Interessant wäre es, etwas über die Gründe für die Verirrungen zumal der Analyse zu erfahren. Wollte eine sich erneuernde, fortschrittliche akademische Disziplin ihre Eigenständigkeit gegenüber dem ästhetischen Zugriff auf die Epen erweisen?
Nicht zufällig zitiert Szlezák immer wieder zustimmend Goethe, der zweifellos ein intuitiver Unitarier war, aber mit seinem im Wortsinn dilettantischen Zugang gleichsam von Dichter zu Dichter keinen Weg zur Philologie als einer lehrbaren Wissenschaft wies. Oder hielt man es im Fahrwasser romantischer Vorstellungen für unmöglich, dass so komplexe Dichtungen zugleich den Anfang der griechischen Poesie darstellten, wo doch viel einfachere Formen zu erwarten gewesen wären? Szlezák deutet das beiläufig an, verfolgt den Gedanken aber leider nicht weiter. Ungestellt bleibt auch die Frage, warum der Umbruch von der zergliedernden Analyse zur verstehenden Interpretation nach dem Ersten Weltkrieg begann, parallel zum sogenannten Dritten Humanismus.
Keinen Homer-Forscher zitiert der Autor so oft und so zustimmend wie Wolfgang Schadewaldt, doch die wissenschaftsgeschichtliche Stellung dieses Gelehrten (F.A.Z. vom 7. Juni 2000) wird nicht erörtert. Für Szlezák ist es nur "eine merkwürdige Ironie der Geschichte, dass die Klassische Philologie in der Zeit, in der sie eine der führenden Geisteswissenschaften war, in einem Maße an Strukturblindheit und interpretatorischer Unfähigkeit litt, das heute nachgerade peinlich wirkt". Aber diese Blindstelle fällt nicht ins Gewicht, dafür sorgt die reiche Belehrung zur Sache. Den möglichen historischen Hintergrund des Epos skizziert Szlezák fast provozierend knapp und stellt die völlig berechtigte Frage, was denn die "Ilias" gewinne, wenn man einen historischen Kern des darin Erzählten erweisen und den vermeintlichen Schauplatz besichtigen könne. Homers Welthaltigkeit braucht in der Tat den Hügel Hisarlik nicht.
In der Datierung der Epen, die er wie die meisten Forscher zwei verschiedenen Dichtern zuweist, entscheidet sich der Autor mit guten Gründen für einen gemäßigt frühen Ansatz: um 700 vor Christus oder etwas später für die "Ilias"; Mitte des siebten Jahrhunderts, etwa eine Generation danach, für die "Odyssee".
Den Kern des Buches machen zwei große Kapitel aus, in denen die "Ilias" ausführlich, die "Odyssee" etwas knapper vorgestellt wird. Szlezák trägt wie ein sorgfältiger Lackierer mehrere Schichten auf. Zunächst skizziert er den Inhalt, um dann die literarische Form und die Gestaltungsmittel zu besprechen. Das Thema des älteren Werkes - nicht etwa der Krieg um Ilios, sondern der Zorn des Achilleus und seine Folgen -, die Konzentration der Handlung, die dramatische Gestaltung, die Einteilung in sieben Akte und die Vorliebe des Dichters für dreiteilige Strukturen, die Verklammerung durch Motive und Ringkomposition, all dies findet sich schlüssig herausgearbeitet, ebenso bauliche Mittel wie Fernbezüge, Aufsparungen, parallele Handlungslinien, typische Szenen, Motivwiederholungen, Reden und Gleichnisse.
Den dritten Farbauftrag bilden Interpretationen ausgewählter Szenen. Darunter finden sich auch weniger bekannte, etwa die Sequenz mit dem Zweikampf zwischen Menelaos und Paris, den Letzterer verliert. Helena sucht, von Aphrodite genötigt, den geretteten Entführer im Schlafzimmer auf und beschimpft ihn, doch kurz danach kommen beide zur Sache: "Beide ruheten dann im schöngebildeten Bette" (Voss), "während sich die beiden liebten, daß die bettpfosten wackelten" (Schrott). Szlezák hält die ganze Liebesszene für die tiefgründigste, bösartigste, aber wohl auch psychologisch ,wahrste' der antiken Literatur - dargestellt sei "das abgründige Phänomen der sexuellen Hörigkeit". Die vierte Schicht bringt das Weltbild der "Ilias" zum Leuchten. Auch hier bezieht der Autor wieder klar Position, etwa in der alten Frage, ob die Helden frei entscheiden konnten. Die plakativen Verdikte, die Christa Wolf ("Achill das Vieh") oder Caroline Alexander ausgesprochen haben, erwähnt er nicht, doch seine Interpretationen der homerischen Ethik, zumal in der Versöhnungsszene zwischen Priamos und Achilleus am Ende des Epos, entlarven diese Lesarten als selektiv und oberflächlich. Die "Odyssee" erhellt Szlezák aus den Bezügen auf die "Ilias" und den Unterschieden zwischen beiden. Sie scheint ihn weit weniger zu faszinieren, doch auch hier finden sich lesenswerte Interpretationen. Vor allem das in Odysseus und Penelope verdichtete Ideal der lebenslangen Monogamie hat es ihm angetan.
Die zuletzt vieldiskutierte Frage nach den ,orientalischen' Einflüssen auf Homer wird erst zum Schluss und - methodisch konsequent - in Form eines Vergleichs zwischen dem Gilgamesch-Epos und den griechischen Epen aufgegriffen. Die Aufzählung gleicher Motive beeindruckt Szlezák nicht - in den für ihn entscheidenden Kriterien wie Personenzeichnung, Komposition, Welthaltigkeit und Ethik gibt es keine Gemeinsamkeiten. In der Tat: Ohne Kenntnis Homers kann kein brauchbares Buch über Vergil geschrieben werden. Aber niemand, der die vorderasiatischen ,Wurzeln' Homers ignoriere, müsse befürchten, deshalb auch nicht erfassen zu können, was die beiden Epen literarisch ausmacht.
Kleinigkeiten lassen sich immer bemängeln. So bleibt eingangs die Allegorese unerklärt, und die "Freite" gehört wohl zu den Wörtern, die nur noch Altphilologen der älteren Generation benutzen, ebenso die gruselige Wendung, "sie vollziehen das Beilager". Doch so, wie sie vorliegt, gründlich, kenntnisreich, ökonomisch in der Darstellung und entschieden in den Akzenten, dürfte Szlezáks Einführung - die der Verlag in der alten Rechtschreibung herauszubringen den Mut hatte - bis auf weiteres schwer zu übertreffen sein.
Und was sagt das Buch über die Klassische Philologie und ihre Zukunft? An einer Stelle zeigt sich der Tübinger Emeritus, wohl unbewusst, als Kampfgefährte eines völlig anders gestrickten Gelehrten wie Luciano Canfora (F.A.Z. vom 4. Juni 2012): Die Beschäftigung mit Homer führte in hellenistischer Zeit zum Entstehen eines reflektierten und methodischen Umgangs mit Texten, und ein Blick auf die christliche Welt vor dem achtzehnten Jahrhundert oder den modernen Islamismus zeige, dass "ohne einen methodisch-kritischen Umgang mit den Grundtexten einer Kultur wirkliche geistige Freiheit nicht möglich ist". Fürwahr, ein großes Wort entfloh da dem Gehege seiner Zähne!
Thomas A. Szlezák: "Homer oder Die Geburt der abendländischen Dichtung".
Verlag C. H. Beck, München 2012. 255 S., Abb., geb., 24,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Wer detailliert mit der Homer-Forschung und mit den historischen Hintergründen von "Ilias" und "Odyssee" vertraut gemacht werden will, dem empfiehlt Hellmut Flashar eher das 2011 erschienene Homer-Handbuch von Antonios Rengakos und Bernhard Zimmermann. Der vorliegende Band des Gräzisten Thomas A. Szelak eignet sich laut Rezensent besser zur Einführung in die beiden großen Epen. Szelaks subtile Interpretationen und Formanalysen zu den Texten, seine sprachlich klaren Ausführungen zu den altorientalischen Einflüssen und zur Frage nach dem fiktionalen Charakter der Dichtungen scheinen ihm auch für Laien gut geeignet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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