Mit seinen Studien zu 'Homers Heimat' hat Raoul Schrott die literarische Welt gleichsam elektrisiert und begeistert. Es gelingt ihm nicht nur, den antiken Seher als kilikischen Schreiber neu zu entdecken, sondern ebenso die revolutionäre Verortung von Troja in Kleinasien.Mit Engagement, Inspiration und Mut begibt er sich auf die Fährte nach Hinweisen zu den Hintergründen der 'Ilias', dem unvergleichlichen Zeugnis der Anfänge der abendländischen Kultur. Er führt uns anhand neuester Quellen und Bezüge in den orientalischen Raum und erschließt dem Leser unzählige neue Horizonte dieses legendären Textes - ein wunderbares Plädoyer für den wahren Homer.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.03.2008Also steht ihr jetzo betäubt, und starrt vor der Feldschlacht
Schon vorab gab es viel Streit um Raoul Schrotts Behauptung, den Dichter der Ilias und ihren Schauplatz identifiziert zu haben – jetzt erscheint sein Buch „Homers Heimat”
Der Dichter und Komparatist Raoul Schrott ist ein sehr liebenswürdiger Österreicher, der sich seit einigen Jahren schon um die Vergegenwärtigung großer alter Weltliteratur verdient macht, etwa des altbabylonischen Gilgamesch-Epos. Aus diesem sympathischen Antrieb heraus hat sich Schrott an eine neue Gesamtübertragung von Homers „Ilias” gemacht, der vierundzwanzig Gesänge umfassenden Hexameter-Erzählung vom Groll des Achill und vom Kampf um Troja. Diese Dichtung gehört einerseits in ihrer Formelhaftigkeit und in der Verwendung überkommener mythischer Motive einer auslaufenden mündlichen Sängertradition an; andererseits aber weist sie als Literatur eine erzählerische Komplexität, Kohärenz und schiere Größe auf, die – das ist inzwischen die überwiegende Ansicht der Forschung – nur unter Verwendung der Alphabetschrift zustande gekommen sein kann, welche die Griechen der entstehenden Polis-Welt von den handeltreibenden Phöniziern übernommen haben. Diese Schrift-Übernahme fand kurz nach 800 vor Christus statt, die Abfassung der homerischen „Ilias” (und der jüngeren „Odyssee”) dann später im achten oder, wie immer mehr Fachleute annehmen, im siebten Jahrhundert vor Christus.
Im Laufe der Erarbeitung seiner Übersetzung – die vorab in Portionen im Rundfunk zu hören ist und im Herbst als Buch erscheinen soll – hat sich Raoul Schrott die alten homerischen Fragen gestellt: Wer war „Homer”, über den schon die Antike nur Legendäres zu berichten wusste? Oder, da es über diesen „Homer”nichts Verlässliches außerhalb seiner Dichtung gibt, vorsichtiger gefragt: Was an Gesellschafts- und Kulturvorstellungen im Text der „Ilias” gehört eher in die Entstehungszeit der Dichtung als in die mythische Heldenzeit, von der sie zu wissen vorgibt? Und: Enthält der Literatur gewordene Mythos von der zehnjährigen Belagerung Trojas durch ein riesiges Griechenheer irgendwelche Reste historischer Auseinandersetzungen?
Die orientalisierende Epoche
Auf alle diese Fragen glaubt Raoul Schrott Antworten geben zu können. Er geht dabei von einem Perspektivwechsel in der neueren Homer-Forschung aus: nämlich davon, dass die homerischen Epen nicht nur als Anfang der griechischen und damit der europäischen Literatur, sondern auch als Empfänger zahlreicher orientalischer Motive zu betrachten sind, wie sie im archaischen Griechenland, das intensive Kontakte mit dem Osten pflegte, auch in der übrigen Kultur zu beobachten sind. Schon seit längerem spricht man im Anschluss an Walter Burkert von der „orientalisierenden Epoche”, und der Oxforder Gräzist Martin L. West hat seit seinem Hesiod-Kommentar von 1966 die Parallelen zwischen der frühgriechischen und der altorientalischen Dichtung gründlich aufgearbeitet. Markant etwa ist die Ähnlichkeit, die Gilgamesch und seinen Freund Enkidu mit Achill und seinem Freund Patroklos bei Homer verbindet.
In den letzten Jahren hat sich diese Kontaktsuche über die Grenzen der Kulturen und der Wissenschaftsdisziplinen hinweg auch realhistorisch ausgeweitet; dies lässt sich etwa in dem neuen Band „Getrennte Wege?” nachlesen, den der Innsbrucker Historiker Robert Rollinger herausgegeben hat (Verlag Antike, 655 S., 79,90 Euro), einer von Raoul Schrotts Einflüsterern, der sich allerdings von dessen konkreten Thesen schon distanziert hat. Es besteht kein Zweifel, dass die frühen Griechen Impulse von der Völkerbegegnung im östlichen Mittelmeer erhalten haben, wo sich Assyrer, Spät-Hethiter, Luwier, Hurriter, Phönizier und Griechen in einem teilweise mehrsprachigen Milieu trafen; wichtig waren hier Zypern und das gegenüberliegende Festland der südanatolischen Küste, also die Region Kilikien rund um die heutige türkische Millionenstadt Adana.
Vor diesem Hintergrund hat sich Raoul Schrott von Wissenschaftlern anregen und beraten lassen, ist dann aber seinen Weg ganz allein weitergegangen: hin zu der These, dass die Griechen nicht nur Motive übernahmen, sondern dass Homer ein griechischer Schreiber im Dienste assyrischer Statthalter in Kilikien gewesen sei, der direkt, ohne mündliche Tradition, aus den Keilschrift-Archiven abgeschrieben habe (erste Sensation), und dass zweitens der imaginierte Schauplatz der Trojakämpfer gar nicht Troja an der Nordwestküste der heutigen Türkei sei, sondern der Hafen von Tarsos und die spät-hethitische Burg von Karatepe in Kilikien; die dortigen Aufstände gegen die Assyrer hätten das zeitgeschichtliche Material und das geographische Modell für die Kampfhandlungen der „Ilias” geliefert (zweite Sensation).
Jeder, der auch nur mit einem rudimentären Rüstzeug historisch-kritischen Lesens ausgestattet ist, wird nach der Lektüre von Raoul Schrotts 400-Seiten-Buch „Homers Heimat” sagen müssen, dass seine Argumentation nicht nur nicht beweisbar, sondern vollkommen unhaltbar ist. Schrott arbeitet mit abenteuerlichen angeblichen Namensverwandtschaften (bei Alanya gab es eine Stadt namens Laertes: heißt so nicht auch der Vater des Odysseus? – und so weiter . . .). Er findet auf der Burg von Karatepe Reliefs, die an Homer erinnern (Vergleich von Kriegshandlungen mit Tierjagd), und meint, wegen dieser reizvollen Motivparallele müsse Homer auf dieser Burg herumgelaufen sein.
Er meint, das im homerischen Vers metrisch nachweisbare, im späteren Griechisch verschwundene „W” komme aus Kilikien – obwohl dieser Buchstabe (das „Digamma”) in den frühen griechischen Inschriften nicht nur Kleinasiens, sondern auch des griechischen Festlands, also weit im Westen, nachweisbar ist. Und er hat bei seinen Prämissen generell nicht die geringste Erklärung für die massiven Unterschiede zwischen der frühgriechischen und der altorientalischen Dichtung und Gesellschaft. Nein, keine Parallele bei Schrott ist so zwingend, dass man jetzt einen einzigen Ort und einen einzigen Zeitpunkt der Übernahme östlicher Motive, eben Schrotts kilikisches Nadelöhr, dingfest machen könnte.
Das wehrlose Publikum
Dieser Einschätzung müssen sich gleichermaßen zwei ansonsten zerstrittene Lager der wissenschaftlichen Troja-Diskussion anschließen: einerseits diejenigen Forscher, die zwar ebenso wie Schrott dem geographischem Positivismus huldigen – also im Mythos die lokalisierbare Geschichte auffinden wollen –, die aber ihr Troja längst am Hellespont gefunden haben und davon ausgehen, dass Homer einen Jahrhunderte zuvor erfolgten Angriff von Griechen auf diese bronzezeitliche Stadt spiegele, deren mächtige damalige Stellung sich archäologisch beweisen lasse. Und andererseits diejenigen Forscher, die das Eigenrecht der Fiktion im Mythos und der poetischen gegenüber der realen Geographie im Epos betonen. Tatsächlich hat bisher auch kein namhafter Homerforscher oder Altorientalist Schrotts konkreten Behauptungen seine Zustimmung gegeben. In Schrotts Buch erfährt man viel Interessantes über die Assyrer und einen wichtigen Kulturraum. Aber nichts Stichhaltiges über den griechischen Dichter der „Ilias”.
Der Münchner Hanser Verlag hat die zu rühmende Eigenschaft, sehr treu zu seinen Autoren zu stehen. In diesem Fall ist es aber, milde gesagt, recht mutig, „Homers Heimat” zu publizieren. Denn im Unterschied zur Wochenendbeilage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die Schrotts Thesen kurz vor Weihnachten 2007 unter der Überschrift „Homers Geheimnis ist gelüftet” vorabdruckte, hat der Hanser Verlag nicht nur einen literarischen, sondern auch einen wissenschaftlichen Ruf zu verspielen. Dass niemand Raoul Schrott zurückgehalten hat, dass er jetzt so ernsthaft diskutiert werden muss, kann neben der Treue des Verlags nur noch mit der Wehrlosigkeit des Publikums in Sachen Altertum erklärt werden. Wer Andromache und wer Diomedes ist, ist nicht mehr allgemeines Bildungsgut; und daher geht es uns wie den griechischen Truppen vor Troja: „Also steht ihr jetzo betäubt, und starrt vor der Feldschlacht.” JOHAN SCHLOEMANN
RAOUL SCHROTT: Homers Heimat. Der Kampf um Troja und seine realen Hintergründe. Carl Hanser Verlag, München 2008. 431 Seiten, 24,90 Euro.
„Denn viel sanken der Troer, und viel der Danaer vorwärts / Jenes Tags in den Staub, und bluteten nebeneinander”, heißt es in Homers „Ilias”: Szenen aus dem Computerspiel „Gates of Troy”. Foto: Slitherine Strategies
lit.Cologne 2008: Claus Peymann und Charlotte Roche (oben); die in Finnland geborene Autorin Marjaleena Lembcke auf einem Rheinschiff. Fotos: dpa
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Schon vorab gab es viel Streit um Raoul Schrotts Behauptung, den Dichter der Ilias und ihren Schauplatz identifiziert zu haben – jetzt erscheint sein Buch „Homers Heimat”
Der Dichter und Komparatist Raoul Schrott ist ein sehr liebenswürdiger Österreicher, der sich seit einigen Jahren schon um die Vergegenwärtigung großer alter Weltliteratur verdient macht, etwa des altbabylonischen Gilgamesch-Epos. Aus diesem sympathischen Antrieb heraus hat sich Schrott an eine neue Gesamtübertragung von Homers „Ilias” gemacht, der vierundzwanzig Gesänge umfassenden Hexameter-Erzählung vom Groll des Achill und vom Kampf um Troja. Diese Dichtung gehört einerseits in ihrer Formelhaftigkeit und in der Verwendung überkommener mythischer Motive einer auslaufenden mündlichen Sängertradition an; andererseits aber weist sie als Literatur eine erzählerische Komplexität, Kohärenz und schiere Größe auf, die – das ist inzwischen die überwiegende Ansicht der Forschung – nur unter Verwendung der Alphabetschrift zustande gekommen sein kann, welche die Griechen der entstehenden Polis-Welt von den handeltreibenden Phöniziern übernommen haben. Diese Schrift-Übernahme fand kurz nach 800 vor Christus statt, die Abfassung der homerischen „Ilias” (und der jüngeren „Odyssee”) dann später im achten oder, wie immer mehr Fachleute annehmen, im siebten Jahrhundert vor Christus.
Im Laufe der Erarbeitung seiner Übersetzung – die vorab in Portionen im Rundfunk zu hören ist und im Herbst als Buch erscheinen soll – hat sich Raoul Schrott die alten homerischen Fragen gestellt: Wer war „Homer”, über den schon die Antike nur Legendäres zu berichten wusste? Oder, da es über diesen „Homer”nichts Verlässliches außerhalb seiner Dichtung gibt, vorsichtiger gefragt: Was an Gesellschafts- und Kulturvorstellungen im Text der „Ilias” gehört eher in die Entstehungszeit der Dichtung als in die mythische Heldenzeit, von der sie zu wissen vorgibt? Und: Enthält der Literatur gewordene Mythos von der zehnjährigen Belagerung Trojas durch ein riesiges Griechenheer irgendwelche Reste historischer Auseinandersetzungen?
Die orientalisierende Epoche
Auf alle diese Fragen glaubt Raoul Schrott Antworten geben zu können. Er geht dabei von einem Perspektivwechsel in der neueren Homer-Forschung aus: nämlich davon, dass die homerischen Epen nicht nur als Anfang der griechischen und damit der europäischen Literatur, sondern auch als Empfänger zahlreicher orientalischer Motive zu betrachten sind, wie sie im archaischen Griechenland, das intensive Kontakte mit dem Osten pflegte, auch in der übrigen Kultur zu beobachten sind. Schon seit längerem spricht man im Anschluss an Walter Burkert von der „orientalisierenden Epoche”, und der Oxforder Gräzist Martin L. West hat seit seinem Hesiod-Kommentar von 1966 die Parallelen zwischen der frühgriechischen und der altorientalischen Dichtung gründlich aufgearbeitet. Markant etwa ist die Ähnlichkeit, die Gilgamesch und seinen Freund Enkidu mit Achill und seinem Freund Patroklos bei Homer verbindet.
In den letzten Jahren hat sich diese Kontaktsuche über die Grenzen der Kulturen und der Wissenschaftsdisziplinen hinweg auch realhistorisch ausgeweitet; dies lässt sich etwa in dem neuen Band „Getrennte Wege?” nachlesen, den der Innsbrucker Historiker Robert Rollinger herausgegeben hat (Verlag Antike, 655 S., 79,90 Euro), einer von Raoul Schrotts Einflüsterern, der sich allerdings von dessen konkreten Thesen schon distanziert hat. Es besteht kein Zweifel, dass die frühen Griechen Impulse von der Völkerbegegnung im östlichen Mittelmeer erhalten haben, wo sich Assyrer, Spät-Hethiter, Luwier, Hurriter, Phönizier und Griechen in einem teilweise mehrsprachigen Milieu trafen; wichtig waren hier Zypern und das gegenüberliegende Festland der südanatolischen Küste, also die Region Kilikien rund um die heutige türkische Millionenstadt Adana.
Vor diesem Hintergrund hat sich Raoul Schrott von Wissenschaftlern anregen und beraten lassen, ist dann aber seinen Weg ganz allein weitergegangen: hin zu der These, dass die Griechen nicht nur Motive übernahmen, sondern dass Homer ein griechischer Schreiber im Dienste assyrischer Statthalter in Kilikien gewesen sei, der direkt, ohne mündliche Tradition, aus den Keilschrift-Archiven abgeschrieben habe (erste Sensation), und dass zweitens der imaginierte Schauplatz der Trojakämpfer gar nicht Troja an der Nordwestküste der heutigen Türkei sei, sondern der Hafen von Tarsos und die spät-hethitische Burg von Karatepe in Kilikien; die dortigen Aufstände gegen die Assyrer hätten das zeitgeschichtliche Material und das geographische Modell für die Kampfhandlungen der „Ilias” geliefert (zweite Sensation).
Jeder, der auch nur mit einem rudimentären Rüstzeug historisch-kritischen Lesens ausgestattet ist, wird nach der Lektüre von Raoul Schrotts 400-Seiten-Buch „Homers Heimat” sagen müssen, dass seine Argumentation nicht nur nicht beweisbar, sondern vollkommen unhaltbar ist. Schrott arbeitet mit abenteuerlichen angeblichen Namensverwandtschaften (bei Alanya gab es eine Stadt namens Laertes: heißt so nicht auch der Vater des Odysseus? – und so weiter . . .). Er findet auf der Burg von Karatepe Reliefs, die an Homer erinnern (Vergleich von Kriegshandlungen mit Tierjagd), und meint, wegen dieser reizvollen Motivparallele müsse Homer auf dieser Burg herumgelaufen sein.
Er meint, das im homerischen Vers metrisch nachweisbare, im späteren Griechisch verschwundene „W” komme aus Kilikien – obwohl dieser Buchstabe (das „Digamma”) in den frühen griechischen Inschriften nicht nur Kleinasiens, sondern auch des griechischen Festlands, also weit im Westen, nachweisbar ist. Und er hat bei seinen Prämissen generell nicht die geringste Erklärung für die massiven Unterschiede zwischen der frühgriechischen und der altorientalischen Dichtung und Gesellschaft. Nein, keine Parallele bei Schrott ist so zwingend, dass man jetzt einen einzigen Ort und einen einzigen Zeitpunkt der Übernahme östlicher Motive, eben Schrotts kilikisches Nadelöhr, dingfest machen könnte.
Das wehrlose Publikum
Dieser Einschätzung müssen sich gleichermaßen zwei ansonsten zerstrittene Lager der wissenschaftlichen Troja-Diskussion anschließen: einerseits diejenigen Forscher, die zwar ebenso wie Schrott dem geographischem Positivismus huldigen – also im Mythos die lokalisierbare Geschichte auffinden wollen –, die aber ihr Troja längst am Hellespont gefunden haben und davon ausgehen, dass Homer einen Jahrhunderte zuvor erfolgten Angriff von Griechen auf diese bronzezeitliche Stadt spiegele, deren mächtige damalige Stellung sich archäologisch beweisen lasse. Und andererseits diejenigen Forscher, die das Eigenrecht der Fiktion im Mythos und der poetischen gegenüber der realen Geographie im Epos betonen. Tatsächlich hat bisher auch kein namhafter Homerforscher oder Altorientalist Schrotts konkreten Behauptungen seine Zustimmung gegeben. In Schrotts Buch erfährt man viel Interessantes über die Assyrer und einen wichtigen Kulturraum. Aber nichts Stichhaltiges über den griechischen Dichter der „Ilias”.
Der Münchner Hanser Verlag hat die zu rühmende Eigenschaft, sehr treu zu seinen Autoren zu stehen. In diesem Fall ist es aber, milde gesagt, recht mutig, „Homers Heimat” zu publizieren. Denn im Unterschied zur Wochenendbeilage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die Schrotts Thesen kurz vor Weihnachten 2007 unter der Überschrift „Homers Geheimnis ist gelüftet” vorabdruckte, hat der Hanser Verlag nicht nur einen literarischen, sondern auch einen wissenschaftlichen Ruf zu verspielen. Dass niemand Raoul Schrott zurückgehalten hat, dass er jetzt so ernsthaft diskutiert werden muss, kann neben der Treue des Verlags nur noch mit der Wehrlosigkeit des Publikums in Sachen Altertum erklärt werden. Wer Andromache und wer Diomedes ist, ist nicht mehr allgemeines Bildungsgut; und daher geht es uns wie den griechischen Truppen vor Troja: „Also steht ihr jetzo betäubt, und starrt vor der Feldschlacht.” JOHAN SCHLOEMANN
RAOUL SCHROTT: Homers Heimat. Der Kampf um Troja und seine realen Hintergründe. Carl Hanser Verlag, München 2008. 431 Seiten, 24,90 Euro.
„Denn viel sanken der Troer, und viel der Danaer vorwärts / Jenes Tags in den Staub, und bluteten nebeneinander”, heißt es in Homers „Ilias”: Szenen aus dem Computerspiel „Gates of Troy”. Foto: Slitherine Strategies
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.07.2008Die Anfängerfehler des Herrn Homer
Raoul Schrott hat allerhand Gelehrtenstaub aufgewirbelt mit seinen Thesen zur Herkunft Homers. Jetzt sollte er aber langsam wieder in den Kreis der seriösen Forscher zurückkehren.
Von Thomas Poiss
Schon die Griechen stritten über Homers Herkunft, und seit Raoul Schrott erneut die Homerische Frage mit einem großen Coup lanciert hat, für den ihm klassische Philologen und Altorientalisten dankbar sein müssen, wird nicht mehr nur in Fachzirkeln, sondern auf großen Podien über Homer und die Geschichte des Vorderen Orients diskutiert. Was ist von Schrotts Thesen zu halten?
Schrott übersetzt seit einiger Zeit für den Hessischen Rundfunk Homers "Ilias", fuhr nach Hisarlik an den Dardanellen, wo man in der Antike und seit Schliemann Troja lokalisiert hat, und gewann dort den Eindruck, dass die Landschaft nicht zum Text passe. Der Burghügel sei zu klein, ebenso die Bucht für die griechischen Schiffe. Zudem stieß Schrott, der 2001 eine Version des Gilgamesch-Epos vorgelegt hat, auf "wörtliche Zitate" daraus, die ihn an der Entstehung der "Ilias" aus mündlicher Tradition zweifeln ließen. All dies führte zur Versenkung in moderne Forschungsliteratur und zu einem Besuch in Kilikien im Südosten der Türkei. Dort, in der Nordwestecke des Reiches der Assyrer, habe ein griechisch-aramäischer Schreiber in assyrischen Diensten, gestützt auf assyrische Annalen und unter Anlehnung an die schriftlich verfassten orientalischen Epen, die "Ilias" komponiert. Im Kampf um Troja spiegele sich der "zeitgenössische Hintergrund" der kilikischen Revolten gegen die Assyrer im frühen siebten Jahrhundert vor Christus. Troia sei die kilikische Bergfestung Karatepe.
Man stutzt, denn Griechenland und die Ägäis kommen in Schrotts "Ilias" praktisch nicht vor; auch werden die Erzählstruktur des Werks und die von Schrott selbst noch vor kurzem (Hanser Akzente 3/2006) mit Nachdruck vertretene Mündlichkeit des Epos ausgeblendet. Akzeptiert man diese Verfremdung, stellt sich die Frage nach der Basis von Schrotts "kumulativer Beweisführung". Gab es in Kilikien überhaupt Griechen? Casabonne, Schrotts primäre Autorität für Kilikien, stellte 2004 fest: Ja, es gab dort Griechen, doch die Annahme einer griechischen Kolonisation "bleibt illusorisch". Schrott weiß das und gibt selbst zu: "Von griechischen Kolonien kann eigentlich kaum gesprochen werden" - was ihn nicht hindert, sehr oft von griechischer Kolonisation zu sprechen. Ebenso heikel ist die Ionier-Frage: In orientalischen Quellen werden "Iawones" erwähnt, die man mit den griechischen Ioniern in Verbindung bringt. Leider zählten die Assyrer auch Phöniker und Angehörige anderer Völker zu den "Ioniern". Rollinger, Schrotts wichtigste Referenz in dieser Sache, hat betont, dass das also nicht Ionier in modernem oder antikem Sinn seien, sondern "Ionier" aus Sicht der Assyrer. Schrott lässt diese Warnung weg, tilgt die Anführungszeichen, hat plötzlich Ionier - und verformt den weitgehend von Rollinger übernommenen Text entscheidend.
Dieser Thesenfinder hat ein ganz und gar
abenteuerliches Herz
Das Kapitel über den Namen "Homer" ist großteils einem Aufsatz Martin Wests (2001) entnommen, der die These verficht, Homer sei ein von der Rhapsodengilde der "Homeridae" erfundener Namenspatron. Schrott kehrt allerdings zu Wests früherer, von ihm selbst als "zu abenteuerlich" verworfener These zurück, "Homer" beziehe seinen Namen von einer phönizischen Wendung "bene omerim" ("Söhne der Sprecher/Sänger"), und fügt noch aus Eigenem hinzu, weil "homer" auf Aramäisch "Eselslast" bedeute, hätte sich Homer in einem Gleichnis als Knabe, der auf einen Esel einschlägt, "ein Denkmal gesetzt". Schrotts Argumente sind, gelinde gesagt, oft schwer nachvollziehbar. Noch schwerer sind seine theoretischen Prämissen zu akzeptieren. Schrott liest Homer mit den verstaubtesten Verfahren der Literaturwissenschaft: Abbildrealismus, Allegorese und Vermutungen zur Autorpsychologie. Wer aber wie Schrott nach dem Realismus-Kriterium befindet, die Landschaft um Hisarlik/Troia passe nicht zur "Ilias", muss eine perfekte Alternative bieten. Schrott kommt nun anhand einiger plausibler und vieler zweifelhafter Namensähnlichkeiten auf Kilikien und entdeckt dort die Bergfestung Karatepe. Zugegeben, die Landschaft ist atemberaubend; wo aber liegt das griechische Schiffslager? Schrott lokalisiert es in Tarsos. Diese Stadt liegt weder direkt am Meer noch bei Karatepe, sondern ist etwa einhundert Kilometer von dort entfernt. Mag es in Details schwierig sein, die "Ilias" an den Dardanellen zu lokalisieren - in Schrotts Kilikien ist es nach seinem eigenen Realismus-Kriterium ausgeschlossen. Denn aus verschiedenen Orten eine Szene zusammensetzen kann man überall, auch im herkömmlichen Troja. Warum sollte man aber überhaupt um die abgelegene Bergfestung Karatepe kämpfen? Weil, so Schrott, die Ilias "Danaer und Achaier in die Rolle der Assyrer schlüpfen" lässt. Verständlicher formuliert: Die Griechen der "Ilias" meinen eigentlich die Assyrer, die Troianer sind die "späthethitischen Kilikier"!
Die verwegene Landschaftsverschiebung ist an einen kompletten Rollen- und Völkertausch gekoppelt, der von Schrott detailliert zu Ende gespielt wird. Priamos hat im Kilikerführer Azatiwada sein "historisches Vorbild" und liefert dessen "Porträt"; dessen Nachfolger Sanduarri ist der "kilikische Hektor", der assyrische König Asarhaddon übernimmt die Rolle Achills, und Sanduarri, der sich geschlagen in die (etwa zweihundert Kilometer von Karatepe entfernten!) Berge zurückzieht, "liefert Homer die Idee der Verfolgungsjagd", an deren Ende Hektor von Achill getötet wird.
Schrott betreibt psychologisierende Allegorese, um schemenhaft aus propagandistischen Annalen und Inschriften bekannte Namen auf ein ganz anders motiviertes Erzählgeschehen zu projizieren. Homer soll "die Realgeschichte seiner Zeit anhand der Annalen aufgearbeitet" und ein "nationales Epos" der Kilikier geschaffen haben, das letztlich an den neuen assyrischen König Assurbanipal gerichtet sei, um zu Ausgleich und Völkerverständigung zu mahnen. Wer Homer attestiert, dass er "ein typisches Anfängerwerk" vorgelegt habe, das seine Spannung "eher aus dem Anekdotischen" beziehe, muss sich fragen lassen, ob das eigene Konstrukt auch nur zum Plot eines Fantasy-Films taugt. Schrotts Thesen sind ein zusammengesponnenes Gedankenspiel, das mit der "Ilias" nur entfernt zu tun hat.
Die Illias wird hier zum Schlüsselroman, der Autor zum Weichei
Und das ist, sofern es sich nicht um Wissenschaftsparodie handelt, tragisch. Denn jeder, der in den letzten Monaten Schrott begegnet ist, wurde angesteckt von seiner Begeisterung, bewunderte seine stupende Belesenheit und fragt sich nun, ob dieser heroische Elan nicht Schrott wie Achill in eine Art Verblendung geführt hat. Verstörend ist nicht allein Schrotts Umgang mit den Quellen, sondern auch, wie er die "Ilias" auf das Niveau eines Schlüsselromans zieht. Aus assyrischer Quelle wissen wir, dass der Assyrerkönig Sargon dem Kilikerfürsten Amaris seine Tochter zur Frau gegeben hatte und dieser sich später gegen die Assyrer erhob. Schrott glaubt in dieser Frau Helena zu erkennen - und ihr Mann wird ihm zu Paris, dem "Weichei", das "unter der Fuchtel seiner assyrischen Gattin" gestanden habe. Das trägt weder zum Verständnis assyrischer Geschichte bei, noch hat es mit Homer zu tun.
Es ist zum Verzweifeln, mitansehen zu müssen, welche Energie hier verpufft, aber auch, mit welcher Überhebung jemand die Gewährsleute auszustechen versucht, denen er alle Informationen verdankt: West, Burkert, Rollinger und viele andere. Denn Schrott fragt wie sie nach dem Schnittbereich der griechischen und der vorderasiatischen Kulturen, dem die homerischen Epen entstammen. Kilikien, Nordsyrien und Zypern gelten seit langem als wichtiger Raum für die Entwicklung der griechischen Schrift. West, Burkert, Rollinger und andere haben zudem seit Jahrzehnten die Parallelen aus den orientalischen Texten gesammelt und bereitgestellt. Von der Fülle dieser Materialien ließ sich Schrott aber offenbar so weit hinreißen, dass er die "Ilias" aus dem Blick verloren hat. Was die These vom "assimilierten" griechisch-aramäischen Schreiber, der in Flickschustertechnik disparates Material "eingearbeitet" haben soll, nicht im mindesten erklärt, ist die Qualität des Textes, die nur aus einer langen mündlichen Sängertradition stammen kann, die souverän über Sprachschichten, Formeln, Motive und szenische Kompositionsformen verfügt. Alle Gräzisten und auch Schrott bis 2006 waren sich darin einig. West hat 1997 auch bereits ein sehr plausibles Bild gezeichnet, wie die Griechen mit dem Orient interagierten: Es geht auch ohne Völker-Charade. Wer aber Schrotts Buch zuschlägt, wundert sich, dass die "Ilias" überhaupt auf Griechisch geschrieben ist, und auch Schrott muss ja zuletzt vermuten, dass dem Assyrerkönig Assurbanipal die Ilias vielleicht aus dem Griechischen übersetzt worden sei.
Lieber, verehrter Raoul Schrott, kehren Sie in die Gemeinschaft der Homer-Forscher zurück! Die Eroberung Trojas durch die Wissenschaft braucht weiterhin enthusiastische Vorkämpfer wie Sie, aber noch viel mehr Geduld und besonnenes Zusammenspiel. Achills Unsterblichkeit gibt es kein zweites Mal.
- Raoul Schrott: "Homers Heimat".
Der Kampf um Troia und seine realen Hintergründe. Carl Hanser Verlag, München 2008. 422 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Raoul Schrott hat allerhand Gelehrtenstaub aufgewirbelt mit seinen Thesen zur Herkunft Homers. Jetzt sollte er aber langsam wieder in den Kreis der seriösen Forscher zurückkehren.
Von Thomas Poiss
Schon die Griechen stritten über Homers Herkunft, und seit Raoul Schrott erneut die Homerische Frage mit einem großen Coup lanciert hat, für den ihm klassische Philologen und Altorientalisten dankbar sein müssen, wird nicht mehr nur in Fachzirkeln, sondern auf großen Podien über Homer und die Geschichte des Vorderen Orients diskutiert. Was ist von Schrotts Thesen zu halten?
Schrott übersetzt seit einiger Zeit für den Hessischen Rundfunk Homers "Ilias", fuhr nach Hisarlik an den Dardanellen, wo man in der Antike und seit Schliemann Troja lokalisiert hat, und gewann dort den Eindruck, dass die Landschaft nicht zum Text passe. Der Burghügel sei zu klein, ebenso die Bucht für die griechischen Schiffe. Zudem stieß Schrott, der 2001 eine Version des Gilgamesch-Epos vorgelegt hat, auf "wörtliche Zitate" daraus, die ihn an der Entstehung der "Ilias" aus mündlicher Tradition zweifeln ließen. All dies führte zur Versenkung in moderne Forschungsliteratur und zu einem Besuch in Kilikien im Südosten der Türkei. Dort, in der Nordwestecke des Reiches der Assyrer, habe ein griechisch-aramäischer Schreiber in assyrischen Diensten, gestützt auf assyrische Annalen und unter Anlehnung an die schriftlich verfassten orientalischen Epen, die "Ilias" komponiert. Im Kampf um Troja spiegele sich der "zeitgenössische Hintergrund" der kilikischen Revolten gegen die Assyrer im frühen siebten Jahrhundert vor Christus. Troia sei die kilikische Bergfestung Karatepe.
Man stutzt, denn Griechenland und die Ägäis kommen in Schrotts "Ilias" praktisch nicht vor; auch werden die Erzählstruktur des Werks und die von Schrott selbst noch vor kurzem (Hanser Akzente 3/2006) mit Nachdruck vertretene Mündlichkeit des Epos ausgeblendet. Akzeptiert man diese Verfremdung, stellt sich die Frage nach der Basis von Schrotts "kumulativer Beweisführung". Gab es in Kilikien überhaupt Griechen? Casabonne, Schrotts primäre Autorität für Kilikien, stellte 2004 fest: Ja, es gab dort Griechen, doch die Annahme einer griechischen Kolonisation "bleibt illusorisch". Schrott weiß das und gibt selbst zu: "Von griechischen Kolonien kann eigentlich kaum gesprochen werden" - was ihn nicht hindert, sehr oft von griechischer Kolonisation zu sprechen. Ebenso heikel ist die Ionier-Frage: In orientalischen Quellen werden "Iawones" erwähnt, die man mit den griechischen Ioniern in Verbindung bringt. Leider zählten die Assyrer auch Phöniker und Angehörige anderer Völker zu den "Ioniern". Rollinger, Schrotts wichtigste Referenz in dieser Sache, hat betont, dass das also nicht Ionier in modernem oder antikem Sinn seien, sondern "Ionier" aus Sicht der Assyrer. Schrott lässt diese Warnung weg, tilgt die Anführungszeichen, hat plötzlich Ionier - und verformt den weitgehend von Rollinger übernommenen Text entscheidend.
Dieser Thesenfinder hat ein ganz und gar
abenteuerliches Herz
Das Kapitel über den Namen "Homer" ist großteils einem Aufsatz Martin Wests (2001) entnommen, der die These verficht, Homer sei ein von der Rhapsodengilde der "Homeridae" erfundener Namenspatron. Schrott kehrt allerdings zu Wests früherer, von ihm selbst als "zu abenteuerlich" verworfener These zurück, "Homer" beziehe seinen Namen von einer phönizischen Wendung "bene omerim" ("Söhne der Sprecher/Sänger"), und fügt noch aus Eigenem hinzu, weil "homer" auf Aramäisch "Eselslast" bedeute, hätte sich Homer in einem Gleichnis als Knabe, der auf einen Esel einschlägt, "ein Denkmal gesetzt". Schrotts Argumente sind, gelinde gesagt, oft schwer nachvollziehbar. Noch schwerer sind seine theoretischen Prämissen zu akzeptieren. Schrott liest Homer mit den verstaubtesten Verfahren der Literaturwissenschaft: Abbildrealismus, Allegorese und Vermutungen zur Autorpsychologie. Wer aber wie Schrott nach dem Realismus-Kriterium befindet, die Landschaft um Hisarlik/Troia passe nicht zur "Ilias", muss eine perfekte Alternative bieten. Schrott kommt nun anhand einiger plausibler und vieler zweifelhafter Namensähnlichkeiten auf Kilikien und entdeckt dort die Bergfestung Karatepe. Zugegeben, die Landschaft ist atemberaubend; wo aber liegt das griechische Schiffslager? Schrott lokalisiert es in Tarsos. Diese Stadt liegt weder direkt am Meer noch bei Karatepe, sondern ist etwa einhundert Kilometer von dort entfernt. Mag es in Details schwierig sein, die "Ilias" an den Dardanellen zu lokalisieren - in Schrotts Kilikien ist es nach seinem eigenen Realismus-Kriterium ausgeschlossen. Denn aus verschiedenen Orten eine Szene zusammensetzen kann man überall, auch im herkömmlichen Troja. Warum sollte man aber überhaupt um die abgelegene Bergfestung Karatepe kämpfen? Weil, so Schrott, die Ilias "Danaer und Achaier in die Rolle der Assyrer schlüpfen" lässt. Verständlicher formuliert: Die Griechen der "Ilias" meinen eigentlich die Assyrer, die Troianer sind die "späthethitischen Kilikier"!
Die verwegene Landschaftsverschiebung ist an einen kompletten Rollen- und Völkertausch gekoppelt, der von Schrott detailliert zu Ende gespielt wird. Priamos hat im Kilikerführer Azatiwada sein "historisches Vorbild" und liefert dessen "Porträt"; dessen Nachfolger Sanduarri ist der "kilikische Hektor", der assyrische König Asarhaddon übernimmt die Rolle Achills, und Sanduarri, der sich geschlagen in die (etwa zweihundert Kilometer von Karatepe entfernten!) Berge zurückzieht, "liefert Homer die Idee der Verfolgungsjagd", an deren Ende Hektor von Achill getötet wird.
Schrott betreibt psychologisierende Allegorese, um schemenhaft aus propagandistischen Annalen und Inschriften bekannte Namen auf ein ganz anders motiviertes Erzählgeschehen zu projizieren. Homer soll "die Realgeschichte seiner Zeit anhand der Annalen aufgearbeitet" und ein "nationales Epos" der Kilikier geschaffen haben, das letztlich an den neuen assyrischen König Assurbanipal gerichtet sei, um zu Ausgleich und Völkerverständigung zu mahnen. Wer Homer attestiert, dass er "ein typisches Anfängerwerk" vorgelegt habe, das seine Spannung "eher aus dem Anekdotischen" beziehe, muss sich fragen lassen, ob das eigene Konstrukt auch nur zum Plot eines Fantasy-Films taugt. Schrotts Thesen sind ein zusammengesponnenes Gedankenspiel, das mit der "Ilias" nur entfernt zu tun hat.
Die Illias wird hier zum Schlüsselroman, der Autor zum Weichei
Und das ist, sofern es sich nicht um Wissenschaftsparodie handelt, tragisch. Denn jeder, der in den letzten Monaten Schrott begegnet ist, wurde angesteckt von seiner Begeisterung, bewunderte seine stupende Belesenheit und fragt sich nun, ob dieser heroische Elan nicht Schrott wie Achill in eine Art Verblendung geführt hat. Verstörend ist nicht allein Schrotts Umgang mit den Quellen, sondern auch, wie er die "Ilias" auf das Niveau eines Schlüsselromans zieht. Aus assyrischer Quelle wissen wir, dass der Assyrerkönig Sargon dem Kilikerfürsten Amaris seine Tochter zur Frau gegeben hatte und dieser sich später gegen die Assyrer erhob. Schrott glaubt in dieser Frau Helena zu erkennen - und ihr Mann wird ihm zu Paris, dem "Weichei", das "unter der Fuchtel seiner assyrischen Gattin" gestanden habe. Das trägt weder zum Verständnis assyrischer Geschichte bei, noch hat es mit Homer zu tun.
Es ist zum Verzweifeln, mitansehen zu müssen, welche Energie hier verpufft, aber auch, mit welcher Überhebung jemand die Gewährsleute auszustechen versucht, denen er alle Informationen verdankt: West, Burkert, Rollinger und viele andere. Denn Schrott fragt wie sie nach dem Schnittbereich der griechischen und der vorderasiatischen Kulturen, dem die homerischen Epen entstammen. Kilikien, Nordsyrien und Zypern gelten seit langem als wichtiger Raum für die Entwicklung der griechischen Schrift. West, Burkert, Rollinger und andere haben zudem seit Jahrzehnten die Parallelen aus den orientalischen Texten gesammelt und bereitgestellt. Von der Fülle dieser Materialien ließ sich Schrott aber offenbar so weit hinreißen, dass er die "Ilias" aus dem Blick verloren hat. Was die These vom "assimilierten" griechisch-aramäischen Schreiber, der in Flickschustertechnik disparates Material "eingearbeitet" haben soll, nicht im mindesten erklärt, ist die Qualität des Textes, die nur aus einer langen mündlichen Sängertradition stammen kann, die souverän über Sprachschichten, Formeln, Motive und szenische Kompositionsformen verfügt. Alle Gräzisten und auch Schrott bis 2006 waren sich darin einig. West hat 1997 auch bereits ein sehr plausibles Bild gezeichnet, wie die Griechen mit dem Orient interagierten: Es geht auch ohne Völker-Charade. Wer aber Schrotts Buch zuschlägt, wundert sich, dass die "Ilias" überhaupt auf Griechisch geschrieben ist, und auch Schrott muss ja zuletzt vermuten, dass dem Assyrerkönig Assurbanipal die Ilias vielleicht aus dem Griechischen übersetzt worden sei.
Lieber, verehrter Raoul Schrott, kehren Sie in die Gemeinschaft der Homer-Forscher zurück! Die Eroberung Trojas durch die Wissenschaft braucht weiterhin enthusiastische Vorkämpfer wie Sie, aber noch viel mehr Geduld und besonnenes Zusammenspiel. Achills Unsterblichkeit gibt es kein zweites Mal.
- Raoul Schrott: "Homers Heimat".
Der Kampf um Troia und seine realen Hintergründe. Carl Hanser Verlag, München 2008. 422 S., geb., 24,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Mit diesem "Thesenbuch" habe Raoul Schott ein "kleines deutsches Wunder" vollbracht, freut sich Rezensent Wolfgang Büscher diebisch: nämlich ein Skandalbuch verfasst, in dem kein einziger Nazi vorkommen würde. Stattdessen würde der östereichische Schriftsteller Generationen von Altphilologen entgegenschleudern: euer Lieblingsgrieche ist gar kein Grieche gewesen und der trojanische Krieg fand ganz woanders statt. Aber weil der Rezensent nicht bloß ein Rezensent, sondern selber Schriftsteller und die Welt zu Fuß erkundender Reiseautor ist, muss er natürlich auch ein paar Kränze für den Kollegen winden, den er bei einer Lesung aus seinem Buch näher beobachtet hat. Auch informiert Büscher in seinem seitenfüllenden Text über die stürmischen Debatten, die das Buch in Fachkreisen ausgelöst hat. Um dem Buch dann schließlich zu bescheinigen, fest auf altphilologischem Terrain zu stehen, minutiös recherchiert und ein ebenso wild entschlossener wie hoch überzeugender Versuch zu sein, Homers "über aller Historizität stehenden Geist" neu zu verorten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Raoul Schrott kann stundenlang begeistert, besessen mit assyrischen, luwischen, hethitischen, phönizischen, babylonischen Zungen reden und gebärdenreich einen Turm von Argumenten bis zu den Tiroler Alpengipfeln bauen." Peter von Becker, Der Tagesspiegel, 09.03.08
"Wer war Homer? Der 'Ilias'-Dichter ein östlicher Schreiber? Raoul Schrott, Universalgelehrter, Reisender und Geistestheoretiker, stellt Thesen auf, die das kulturelle Selbstbild der Europäer verändern könnten." Peter von Becker, Der Tagesspiegel, 09.03.08
"Wer war Homer? Der 'Ilias'-Dichter ein östlicher Schreiber? Raoul Schrott, Universalgelehrter, Reisender und Geistestheoretiker, stellt Thesen auf, die das kulturelle Selbstbild der Europäer verändern könnten." Peter von Becker, Der Tagesspiegel, 09.03.08