Die Welt steht kopf: die Firma, in der der holländische Familienvater Kees Popinga arbeitete, geht bankrott, und Popingas bewunderter Chef Julius de Coster verschwindet mit der Firmenkasse. Auch für den braven Popinga fallen in diesem Moment die moralischen Schranken, er bricht aus und nimmt den nächsten Zug via Amsterdam nach Paris. Einmal richtig leben und lieben - dafür geht Kees Popinga sogar über Leichen.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.08.2004 Band 24
Das nackte Monster
Georges Simenons Roman „Der Mann, der den Zügen nachsah”
Georges Simenon sagte oft, Antrieb für sein Schreiben sei die Angst davor, als raté, als Versager und Clochard an den Rändern der Gesellschaft zu stranden. Wie groß diese Furcht war, lässt sich schon daraus ersehen, wie häufig solche verkrachten Existenzen durch seine Romane geistern. Er selbst führte seine manische Schaffenskraft auf diese dunkle Angst zurück. Geradezu eruptiv entstanden seine Bücher, sechs bis elf Tage schrieb er daran im Zustand der „Gnade”, einem Zustand, in dem er scheinbar in die Haut eines Anderen zu schlüpfen vermochte: „Ich neutralisiere mich, vergesse mein eigenes Ich”, schreibt er 1938 an Gide, im Jahr, da „Der Mann, der den Zügen nachsah”, entstand.
Ist Kees Popinga ein Gescheiterter? Oder ist er ein mutiger Mensch, weil er aus den Zwängen eines bürgerlichen Lebens ausbricht, um radikal seine Lust zu leben? So wurde der Roman oft gedeutet. Aber das ist deshalb falsch, weil es zu eindeutig ist: In dem Versuch, seinem bisherigen Leben zu entfliehen, wird Popinga zum gehetzten Outlaw, der nach und nach alles verliert, wirklich alles, bis er splitternackt gefangen genommen und in die Psychiatrie gesperrt wird. „Der Mann, der den Zügen nachsah” ist deshalb so unheimlich, weil Simenon in der Schwebe lässt, inwieweit Popinga nur scheitert oder in diesem Scheitern doch auch eine Art von Freiheit gewinnt; und inwieweit er in dem Bestreben, die festgezurrten Verhältnisse in seinem Leben zu verrücken, tatsächlich verrückt wird.
Popinga ist ein unauffälliger Biedermann: Eigenheim im holländischen Hafenstädtchen Groningen, Frau und Kinder, ein Job in der alteingesessenen Firma „Coster und Sohn”. Eines Abends aber eröffnet ihm sein betrunkener Chef, die Firma sei pleite, er, Coster, werde sich noch diese Nacht absetzen. Für den korrekten Buchhalter Popinga müsste eine Welt zusammenbrechen. Zu seinem eigenen Erstaunen aber wird er ganz ruhig und erkennt, als er die Bilanzfälschungen seines Chefs durchschaut, wie sehr sein bisheriges Leben von einem Bluff bestimmt wurde, von dem Bestreben zu gefallen, irgendwelchen Konventionen zu gehorchen. Er verlässt Groningen, um die Geliebte des Chefs zu erobern - und bringt sie (versehentlich?) um.
Ähnlich wie sein Autor einige Jahre zuvor, nimmt Popinga den Nachtzug von Amsterdam nach Paris. Anders aber als Simenon, der dort als rasender Reporter und Romanmaschine zum „Phänomen” aufstieg, wird Popinga zum „Monster” und obdachlosen Gejagten. Kommissar Lucas ist ihm auf den Fersen, die Zeitungen berichten gierig vom „Ungeheuer aus Amsterdam”, das irgendwo im Bauch von Paris sein Unwesen treibe. Popinga, der aufgebrochen war, um keinerlei Vorstellungen mehr genügen zu müssen, versucht nun verzweifelt in Leserbriefen, das Image, das die Zeitungen von ihm entwerfen, zu korrigieren. Zwar zeichnet er dabei ein scharfsichtiges Bild seiner selbst, zugleich aber steigert er sich in grotesken Größenwahn hinein.
Am Ende sitzt er in der Irrenanstalt, spielt ab und zu eine Partie Schach gegen seinen Psychiater und bittet diesen um ein Heft: Er, Popinga, wolle sein Leben aufschreiben. Nach einigen Wochen schaut der Psychiater, was aus den Aufzeichnungen wurde. Das Heft enthält nur sieben Wörter: „Die Wahrheit über den Fall Kees Popinga”.
ALEX RÜHLE
Georges Simenon
Foto: Diogenes Verlag
Das nackte Monster
Georges Simenons Roman „Der Mann, der den Zügen nachsah”
Georges Simenon sagte oft, Antrieb für sein Schreiben sei die Angst davor, als raté, als Versager und Clochard an den Rändern der Gesellschaft zu stranden. Wie groß diese Furcht war, lässt sich schon daraus ersehen, wie häufig solche verkrachten Existenzen durch seine Romane geistern. Er selbst führte seine manische Schaffenskraft auf diese dunkle Angst zurück. Geradezu eruptiv entstanden seine Bücher, sechs bis elf Tage schrieb er daran im Zustand der „Gnade”, einem Zustand, in dem er scheinbar in die Haut eines Anderen zu schlüpfen vermochte: „Ich neutralisiere mich, vergesse mein eigenes Ich”, schreibt er 1938 an Gide, im Jahr, da „Der Mann, der den Zügen nachsah”, entstand.
Ist Kees Popinga ein Gescheiterter? Oder ist er ein mutiger Mensch, weil er aus den Zwängen eines bürgerlichen Lebens ausbricht, um radikal seine Lust zu leben? So wurde der Roman oft gedeutet. Aber das ist deshalb falsch, weil es zu eindeutig ist: In dem Versuch, seinem bisherigen Leben zu entfliehen, wird Popinga zum gehetzten Outlaw, der nach und nach alles verliert, wirklich alles, bis er splitternackt gefangen genommen und in die Psychiatrie gesperrt wird. „Der Mann, der den Zügen nachsah” ist deshalb so unheimlich, weil Simenon in der Schwebe lässt, inwieweit Popinga nur scheitert oder in diesem Scheitern doch auch eine Art von Freiheit gewinnt; und inwieweit er in dem Bestreben, die festgezurrten Verhältnisse in seinem Leben zu verrücken, tatsächlich verrückt wird.
Popinga ist ein unauffälliger Biedermann: Eigenheim im holländischen Hafenstädtchen Groningen, Frau und Kinder, ein Job in der alteingesessenen Firma „Coster und Sohn”. Eines Abends aber eröffnet ihm sein betrunkener Chef, die Firma sei pleite, er, Coster, werde sich noch diese Nacht absetzen. Für den korrekten Buchhalter Popinga müsste eine Welt zusammenbrechen. Zu seinem eigenen Erstaunen aber wird er ganz ruhig und erkennt, als er die Bilanzfälschungen seines Chefs durchschaut, wie sehr sein bisheriges Leben von einem Bluff bestimmt wurde, von dem Bestreben zu gefallen, irgendwelchen Konventionen zu gehorchen. Er verlässt Groningen, um die Geliebte des Chefs zu erobern - und bringt sie (versehentlich?) um.
Ähnlich wie sein Autor einige Jahre zuvor, nimmt Popinga den Nachtzug von Amsterdam nach Paris. Anders aber als Simenon, der dort als rasender Reporter und Romanmaschine zum „Phänomen” aufstieg, wird Popinga zum „Monster” und obdachlosen Gejagten. Kommissar Lucas ist ihm auf den Fersen, die Zeitungen berichten gierig vom „Ungeheuer aus Amsterdam”, das irgendwo im Bauch von Paris sein Unwesen treibe. Popinga, der aufgebrochen war, um keinerlei Vorstellungen mehr genügen zu müssen, versucht nun verzweifelt in Leserbriefen, das Image, das die Zeitungen von ihm entwerfen, zu korrigieren. Zwar zeichnet er dabei ein scharfsichtiges Bild seiner selbst, zugleich aber steigert er sich in grotesken Größenwahn hinein.
Am Ende sitzt er in der Irrenanstalt, spielt ab und zu eine Partie Schach gegen seinen Psychiater und bittet diesen um ein Heft: Er, Popinga, wolle sein Leben aufschreiben. Nach einigen Wochen schaut der Psychiater, was aus den Aufzeichnungen wurde. Das Heft enthält nur sieben Wörter: „Die Wahrheit über den Fall Kees Popinga”.
ALEX RÜHLE
Georges Simenon
Foto: Diogenes Verlag