Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.03.1996Griechische Passion
Walter Burkerts Anthropologie des Opfers in der Antike
Walter Burkert ist in den gegenwärtigen Geisteswissenschaften eine singuläre Figur. Geleitet von Intuitionen, die tief in die Romantik zurückreichen, und zugleich inspiriert von der modernen Verhaltensbiologie, späthistoristisch gelehrt und begabt mit visionärer Suggestivität, ein Verfremder des Griechentums, der durch die Rücknahme der Antike in die Anthropologie aber auch den verbrauchten Gedanken des "Allgemeinmenschlichen" der Alten zu neuen, unheimlichen Ehren gebracht hat - wenn man Burkert den größten lebenden Gräzisten nennt, ist damit wenig gesagt.
Sein Buch über den "Homo Necans" (1972), den tötenden Menschen, erkannte hinter dem Opferritual der Griechen die Ängste und Schuldgefühle der steinzeitlichen Jäger, die töten müssen, um leben zu können, und denen doch dabei graut. Im Opfer, nach dem man das Fleisch des geschlachteten Tieres im Festmahl ißt, während Knochen, Fett und Eingeweide für die Götter verbrannt werden, ist der gewaltsame Ursprung der Kultur festgehalten: die Entstehung der Gemeinschaft durch das gemeinsame Töten und die Verteilung der Beute; die Schuldgefühle, die beschwichtigt werden, indem man dem Opfertier ein Zeichen des Einverständnisses mit seinem Schicksal ablistet (etwa durch das Besprengen seines Kopfes, damit es nickt); schließlich die Angst vor der Erschöpfung der Natur durch den Menschen, die ihn das geschlachtete Tier in Gestalt seiner Knochen symbolisch in den Lebenskreislauf zurückerstatten läßt.
Denken vom Ursprung her
Wie schon Bachofen, Burckhardt und Nietzsche hat Walter Burkert, seit 1969 Ordinarius in Zürich, ein Bild des Griechentums von seiner dunklen Seite her entworfen; es ist, mit dem Kontrast zwischen den lichten Tempeln und dem blutigen Tun an ihren Altären, wohl das einzige moderne wissenschaftliche Griechenbild, das es an Intensität mit dem klassischen Antikenideal aufnehmen kann. Auf dem Symposion, das ihm seine Schüler Fritz Graf (Basel), Christoph Riedweg (Mainz) und Thomas Szlezák (Tübingen) jetzt bei Basel zu seinem fünfundsechzigsten Geburtstag und zu seiner Emeritierung ausgerichtet haben, sprach Burkert davon, daß er weder eine eigene Methode ausgebildet noch eigentlich eine Schule begründet habe.
Tatsächlich ist seine Wirkung auf eine fast anachronistisch anmutende Weise die eines individuellen, wenn nicht idiosynkratischen Lebenswerks; und daß es, in seinen historistischen wie seinen romantischen Zügen, ein so unverkennbar deutsch geprägtes Werk ist, das diesen internationalen Ruhm erwerben konnte, gibt Anlaß zu besonderem Staunen und besonderer Dankbarkeit. Eine derart imponierende Versammlung von Altertumswissenschaftlern wie auf dem Basler Symposion wird man so bald nicht wieder sehen.
Hugh Lloyd-Jones, der emeritierte Regius Professor des Griechischen in Oxford, auch er ein aussichtsreicher Kandidat für den Titel des bedeutendsten Gräzisten der Gegenwart, hielt den öffentlichen Festvortrag über die Rolle des Opferrituals in der Tragödie. Ein Aufsatz über die Anfänge der Tragödie war es gewesen, in dem Burkert 1966 zuerst seine von Karl Meuli und Konrad Lorenz angeregte Theorie des Opfers in Umrissen publiziert hatte; er vertrat darin, gegen Aristoteles' "Poetik", die Auffassung vom rituellen Ursprung der Gattung aus der Opferung eines Bockes ("tragos"), und er sah diesen Ursprung in der fortdauernden Präsenz des Opferthemas in den überlieferten Stücken weiterwirken.
Lloyd-Jones ließ die Ursprungsfrage weitgehend auf sich beruhen, er ging die erhaltenen Tragödien auf das rituelle Motiv hin durch und fand es durchaus nicht so gegenwärtig, wie Burkert suggeriert hatte. Burkerts Schülerin Eveline Krummen (Zürich) zeigte die Bedeutung des Rituellen für Bildersprache und Handlungssinn bei Sophokles und Euripides, aber sie verlagerte es dadurch in die Besonderheit der einzelnen Texte, literarisierte es und entzog es dem existentiellen Urbereich, in dem Burkert es angesiedelt hatte. Nicht mehr das Weiterleben des Rituals im Drama, sondern seine Wiederbelebung, womöglich sogar Ersetzung durch das Theater wäre dann für das Verhältnis von Ritual und Tragödie bestimmend. Man bemerkt die Wendung gegen Burkerts Denken vom Ursprung her, gegen das Hinabsteigen in den Brunnen der Vergangenheit und in die Untergründe des Lebens, wo es sich mit dem Tod berührt. Die respektvoll verschleierte Auseinandersetzung mit dieser Grundströmung im Werk des Gefeierten war das geheime Leitmotiv des Symposions und seine wissenschaftsgeschichtliche Pointe.
In Burkerts Interpretation des griechischen Rituals gibt es eine merkwürdige Zweideutigkeit. Gegen eine frühere religionsgeschichtliche Lehre, die in den befremdlichen Bräuchen überall Vegetationszauber am Werk sah, Relikte von Magie, die auf die Fruchtbarkeit von Land und Leuten abzielt, hat er den Charakter des Rituals als einer sozialen Institution herausgestrichen. Nicht um die Natur, sondern um die menschliche Gemeinschaft geht es im Ritus; sie konstituiert und erhält sich im Rhythmus der wiederkehrenden Begehungen. Darin lag, wie etwa Burkerts Zürcher Antrittsvorlesung von 1969 zeigt, in den späten sechziger Jahren eine polemische Spitze gegen die emanzipatorische Zeitstimmung. Inzwischen ist diese nüchterne Seite von Burkerts Deutung wissenschaftliches Allgemeingut und herrschende Lehre geworden.
Vielleicht sogar ein bißchen zu sehr: Als Gerhard Baudy (Konstanz) den allerdings recht gewaltsamen Versuch unternahm, aus einem Initiationsritual aus der antiken Stadt Patrai eine Vorbereitung auf das bäuerliche Familienleben herauszulesen, also die neuerdings religionsgeschichtlich so verachtete Sphäre des Agrarischen und Vegetativen wieder zur Geltung zu bringen, schlug ihm eine Abwehr entgegen, deren Heftigkeit die Beißreflexe einer bedrohten Orthodoxie verriet. Das wäre halb so interessant, wenn die phobische Reaktion auf das Elementare und Biotische, wenn die Angst vor "Blut und Boden" und vor der Unmittelbarkeit nicht auch einen hintergründigen Bezug auf das übermächtige Werk von Walter Burkert hätte.
Denn Burkert reduziert das Ritual eben nicht ganz auf seine soziale Leistung, sondern findet in seinem Kern etwas Vitales und Elementares, eine Substanz hinter den Funktionen, das unauflösliche Faktum des Blutvergießens und die religiöse Reaktion darauf, die sich in keine profane Sprache übersetzen läßt. Jan Bremmer (Groningen), der die Herausbildung des Ritualbegriffs und des Gegensatzes von "Heilig" und "Profan" in der Religionswissenschaft der Jahre um 1900 darstellte, wunderte sich über die Selbstverständlichkeit, mit der im "Homo Necans" vom "Urerlebnis des Heiligen" gesprochen wird; und Burkert hat sich nicht einmal gescheut, Albert Schweitzers "Ehrfurcht vor dem Leben" als menschheitsgeschichtliche Konstante in Anspruch zu nehmen, um die Schuldgefühle der steinzeitlichen Jäger und ihrer griechischen Nachfahren zu erklären. Hier bringt die Anthropologie etwas spezifisch Humanes zum Vorschein, ein Gattungsbewußtsein von geteilter Schuld und gemeinsamer Sühne, von Schrecken und Entlastung, das über die historischen und kulturellen Grenzen hinwegreicht.
Die harmlose Hälfte
Die meisten von Walter Burkerts Kollegen, auch von seinen direkten und indirekten Schülern, dürften dieser Anthropologie mißtrauen, obwohl sie doch mit der beunruhigenden Einsicht in den Zusammenhang von Aggression, Gemeinschaft und Sakralität das historische Material erst brisant macht. Hier zeigt sich die Unausrottbarkeit der Gewalt und, bei Strafe ihrer katastrophalen Entfesselung, die Notwendigkeit ihrer rituellen Hegung. Im Fach aber ist die Neigung spürbar, Burkerts Lebenswerk in seiner Rezeption aufzuspalten, wobei nur die harmlosere Hälfte übrigbleibt: Der Funktionalismus ist kanonisch geworden, das Drama von Schuld und Sühne löst Verlegenheit aus.
Da Burkert längst ein Klassiker ist, mag man dieses Drama, wie Albert Henrichs (Harvard), biographisch erklären - mit den Kaninchen, die der kleine Walter besaß und die in der Not der Nachkriegszeit mit schlechtem Gewissen geschlachtet werden mußten. Nur fragt es sich, ob das lebensgeschichtliche Motiv der Theorie nicht eher eine Stärke als eine Schwäche ist und ob man ohne solche Erfahrungen hier überhaupt etwas begreifen kann. Das macht auch die stereotype Mahnung zweifelhaft, nur ja nichts Christliches in die Auslegung der griechischen Kulte hineinzutragen. Würde uns das antike Opfer denn überhaupt etwas sagen, wenn wir nicht selbst noch Zugang zu einer Überlieferung hätten, die von einer ungeheuerlichen Opferung handelt, nämlich vom Kreuzestod Jesu, des unschuldigen "Lammes Gottes"?
Es gehört nicht viel Scharfsinn dazu, die aus der eigenen Herkunft mitgebrachten Vorstellungen als "Konstruktionen" (Bremmer) zu entlarven, die man nicht "ontologisieren" dürfe. Viel problematischer wird es, wenn man nichts mehr mitbringt. Die Unableitbarkeit des Religiösen, die in Wendungen wie der vom "Urerlebnis des Heiligen" wie unzureichend auch immer ausgedrückt wird, zählt ebenso wie die Realität des Blutvergießens zum Vorgegebenen, das die Wissenschaft wahrnehmen muß und nicht restlos abarbeiten kann. In der methodenbewußten, scheinbar vorsichtigen und bescheidenen Rede davon, daß die Forschung ihre Gegenstände konstruiere oder gar erfinde, steckt in Wahrheit die Hybris einer Wissenschaft, die sich nichts mehr gegeben sein lassen will. Walter Burkert dagegen sprach in seinem Schlußwort davon, daß er nie das Gefühl gehabt habe, etwas zu erfinden, sondern immer nur, etwas zu finden. JAN ROSS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Walter Burkerts Anthropologie des Opfers in der Antike
Walter Burkert ist in den gegenwärtigen Geisteswissenschaften eine singuläre Figur. Geleitet von Intuitionen, die tief in die Romantik zurückreichen, und zugleich inspiriert von der modernen Verhaltensbiologie, späthistoristisch gelehrt und begabt mit visionärer Suggestivität, ein Verfremder des Griechentums, der durch die Rücknahme der Antike in die Anthropologie aber auch den verbrauchten Gedanken des "Allgemeinmenschlichen" der Alten zu neuen, unheimlichen Ehren gebracht hat - wenn man Burkert den größten lebenden Gräzisten nennt, ist damit wenig gesagt.
Sein Buch über den "Homo Necans" (1972), den tötenden Menschen, erkannte hinter dem Opferritual der Griechen die Ängste und Schuldgefühle der steinzeitlichen Jäger, die töten müssen, um leben zu können, und denen doch dabei graut. Im Opfer, nach dem man das Fleisch des geschlachteten Tieres im Festmahl ißt, während Knochen, Fett und Eingeweide für die Götter verbrannt werden, ist der gewaltsame Ursprung der Kultur festgehalten: die Entstehung der Gemeinschaft durch das gemeinsame Töten und die Verteilung der Beute; die Schuldgefühle, die beschwichtigt werden, indem man dem Opfertier ein Zeichen des Einverständnisses mit seinem Schicksal ablistet (etwa durch das Besprengen seines Kopfes, damit es nickt); schließlich die Angst vor der Erschöpfung der Natur durch den Menschen, die ihn das geschlachtete Tier in Gestalt seiner Knochen symbolisch in den Lebenskreislauf zurückerstatten läßt.
Denken vom Ursprung her
Wie schon Bachofen, Burckhardt und Nietzsche hat Walter Burkert, seit 1969 Ordinarius in Zürich, ein Bild des Griechentums von seiner dunklen Seite her entworfen; es ist, mit dem Kontrast zwischen den lichten Tempeln und dem blutigen Tun an ihren Altären, wohl das einzige moderne wissenschaftliche Griechenbild, das es an Intensität mit dem klassischen Antikenideal aufnehmen kann. Auf dem Symposion, das ihm seine Schüler Fritz Graf (Basel), Christoph Riedweg (Mainz) und Thomas Szlezák (Tübingen) jetzt bei Basel zu seinem fünfundsechzigsten Geburtstag und zu seiner Emeritierung ausgerichtet haben, sprach Burkert davon, daß er weder eine eigene Methode ausgebildet noch eigentlich eine Schule begründet habe.
Tatsächlich ist seine Wirkung auf eine fast anachronistisch anmutende Weise die eines individuellen, wenn nicht idiosynkratischen Lebenswerks; und daß es, in seinen historistischen wie seinen romantischen Zügen, ein so unverkennbar deutsch geprägtes Werk ist, das diesen internationalen Ruhm erwerben konnte, gibt Anlaß zu besonderem Staunen und besonderer Dankbarkeit. Eine derart imponierende Versammlung von Altertumswissenschaftlern wie auf dem Basler Symposion wird man so bald nicht wieder sehen.
Hugh Lloyd-Jones, der emeritierte Regius Professor des Griechischen in Oxford, auch er ein aussichtsreicher Kandidat für den Titel des bedeutendsten Gräzisten der Gegenwart, hielt den öffentlichen Festvortrag über die Rolle des Opferrituals in der Tragödie. Ein Aufsatz über die Anfänge der Tragödie war es gewesen, in dem Burkert 1966 zuerst seine von Karl Meuli und Konrad Lorenz angeregte Theorie des Opfers in Umrissen publiziert hatte; er vertrat darin, gegen Aristoteles' "Poetik", die Auffassung vom rituellen Ursprung der Gattung aus der Opferung eines Bockes ("tragos"), und er sah diesen Ursprung in der fortdauernden Präsenz des Opferthemas in den überlieferten Stücken weiterwirken.
Lloyd-Jones ließ die Ursprungsfrage weitgehend auf sich beruhen, er ging die erhaltenen Tragödien auf das rituelle Motiv hin durch und fand es durchaus nicht so gegenwärtig, wie Burkert suggeriert hatte. Burkerts Schülerin Eveline Krummen (Zürich) zeigte die Bedeutung des Rituellen für Bildersprache und Handlungssinn bei Sophokles und Euripides, aber sie verlagerte es dadurch in die Besonderheit der einzelnen Texte, literarisierte es und entzog es dem existentiellen Urbereich, in dem Burkert es angesiedelt hatte. Nicht mehr das Weiterleben des Rituals im Drama, sondern seine Wiederbelebung, womöglich sogar Ersetzung durch das Theater wäre dann für das Verhältnis von Ritual und Tragödie bestimmend. Man bemerkt die Wendung gegen Burkerts Denken vom Ursprung her, gegen das Hinabsteigen in den Brunnen der Vergangenheit und in die Untergründe des Lebens, wo es sich mit dem Tod berührt. Die respektvoll verschleierte Auseinandersetzung mit dieser Grundströmung im Werk des Gefeierten war das geheime Leitmotiv des Symposions und seine wissenschaftsgeschichtliche Pointe.
In Burkerts Interpretation des griechischen Rituals gibt es eine merkwürdige Zweideutigkeit. Gegen eine frühere religionsgeschichtliche Lehre, die in den befremdlichen Bräuchen überall Vegetationszauber am Werk sah, Relikte von Magie, die auf die Fruchtbarkeit von Land und Leuten abzielt, hat er den Charakter des Rituals als einer sozialen Institution herausgestrichen. Nicht um die Natur, sondern um die menschliche Gemeinschaft geht es im Ritus; sie konstituiert und erhält sich im Rhythmus der wiederkehrenden Begehungen. Darin lag, wie etwa Burkerts Zürcher Antrittsvorlesung von 1969 zeigt, in den späten sechziger Jahren eine polemische Spitze gegen die emanzipatorische Zeitstimmung. Inzwischen ist diese nüchterne Seite von Burkerts Deutung wissenschaftliches Allgemeingut und herrschende Lehre geworden.
Vielleicht sogar ein bißchen zu sehr: Als Gerhard Baudy (Konstanz) den allerdings recht gewaltsamen Versuch unternahm, aus einem Initiationsritual aus der antiken Stadt Patrai eine Vorbereitung auf das bäuerliche Familienleben herauszulesen, also die neuerdings religionsgeschichtlich so verachtete Sphäre des Agrarischen und Vegetativen wieder zur Geltung zu bringen, schlug ihm eine Abwehr entgegen, deren Heftigkeit die Beißreflexe einer bedrohten Orthodoxie verriet. Das wäre halb so interessant, wenn die phobische Reaktion auf das Elementare und Biotische, wenn die Angst vor "Blut und Boden" und vor der Unmittelbarkeit nicht auch einen hintergründigen Bezug auf das übermächtige Werk von Walter Burkert hätte.
Denn Burkert reduziert das Ritual eben nicht ganz auf seine soziale Leistung, sondern findet in seinem Kern etwas Vitales und Elementares, eine Substanz hinter den Funktionen, das unauflösliche Faktum des Blutvergießens und die religiöse Reaktion darauf, die sich in keine profane Sprache übersetzen läßt. Jan Bremmer (Groningen), der die Herausbildung des Ritualbegriffs und des Gegensatzes von "Heilig" und "Profan" in der Religionswissenschaft der Jahre um 1900 darstellte, wunderte sich über die Selbstverständlichkeit, mit der im "Homo Necans" vom "Urerlebnis des Heiligen" gesprochen wird; und Burkert hat sich nicht einmal gescheut, Albert Schweitzers "Ehrfurcht vor dem Leben" als menschheitsgeschichtliche Konstante in Anspruch zu nehmen, um die Schuldgefühle der steinzeitlichen Jäger und ihrer griechischen Nachfahren zu erklären. Hier bringt die Anthropologie etwas spezifisch Humanes zum Vorschein, ein Gattungsbewußtsein von geteilter Schuld und gemeinsamer Sühne, von Schrecken und Entlastung, das über die historischen und kulturellen Grenzen hinwegreicht.
Die harmlose Hälfte
Die meisten von Walter Burkerts Kollegen, auch von seinen direkten und indirekten Schülern, dürften dieser Anthropologie mißtrauen, obwohl sie doch mit der beunruhigenden Einsicht in den Zusammenhang von Aggression, Gemeinschaft und Sakralität das historische Material erst brisant macht. Hier zeigt sich die Unausrottbarkeit der Gewalt und, bei Strafe ihrer katastrophalen Entfesselung, die Notwendigkeit ihrer rituellen Hegung. Im Fach aber ist die Neigung spürbar, Burkerts Lebenswerk in seiner Rezeption aufzuspalten, wobei nur die harmlosere Hälfte übrigbleibt: Der Funktionalismus ist kanonisch geworden, das Drama von Schuld und Sühne löst Verlegenheit aus.
Da Burkert längst ein Klassiker ist, mag man dieses Drama, wie Albert Henrichs (Harvard), biographisch erklären - mit den Kaninchen, die der kleine Walter besaß und die in der Not der Nachkriegszeit mit schlechtem Gewissen geschlachtet werden mußten. Nur fragt es sich, ob das lebensgeschichtliche Motiv der Theorie nicht eher eine Stärke als eine Schwäche ist und ob man ohne solche Erfahrungen hier überhaupt etwas begreifen kann. Das macht auch die stereotype Mahnung zweifelhaft, nur ja nichts Christliches in die Auslegung der griechischen Kulte hineinzutragen. Würde uns das antike Opfer denn überhaupt etwas sagen, wenn wir nicht selbst noch Zugang zu einer Überlieferung hätten, die von einer ungeheuerlichen Opferung handelt, nämlich vom Kreuzestod Jesu, des unschuldigen "Lammes Gottes"?
Es gehört nicht viel Scharfsinn dazu, die aus der eigenen Herkunft mitgebrachten Vorstellungen als "Konstruktionen" (Bremmer) zu entlarven, die man nicht "ontologisieren" dürfe. Viel problematischer wird es, wenn man nichts mehr mitbringt. Die Unableitbarkeit des Religiösen, die in Wendungen wie der vom "Urerlebnis des Heiligen" wie unzureichend auch immer ausgedrückt wird, zählt ebenso wie die Realität des Blutvergießens zum Vorgegebenen, das die Wissenschaft wahrnehmen muß und nicht restlos abarbeiten kann. In der methodenbewußten, scheinbar vorsichtigen und bescheidenen Rede davon, daß die Forschung ihre Gegenstände konstruiere oder gar erfinde, steckt in Wahrheit die Hybris einer Wissenschaft, die sich nichts mehr gegeben sein lassen will. Walter Burkert dagegen sprach in seinem Schlußwort davon, daß er nie das Gefühl gehabt habe, etwas zu erfinden, sondern immer nur, etwas zu finden. JAN ROSS
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"Wenngleich das Buch primär natürlich für Religionsgeschichtler und Altphilologen geschrieben ist, lässt es sich dennoch auch als Laie durchaus flüssig lesen und birgt einen geradezu ungeheuerlichen Schatz an mythologischen Erzählungen und rituellen Praktiken."
Uwe Schütte in: http://www.readme.cc/de/buchtipps-leser/buchtipp/showbooktip/6116/
Uwe Schütte in: http://www.readme.cc/de/buchtipps-leser/buchtipp/showbooktip/6116/