Der homo sacer ist die Verkörperung einer archaischen römischen Rechtsfigur: Zwar durfte er straflos getötet, nicht aber geopfert werden, was auch seine Tötung sinnlos und ihn gleichsam unberührbar machte - woraus sich der Doppelsinn von sacer als 'verflucht' und 'geheiligt' ableitet. Giorgio Agamben stellt im Anschluß an Foucault und als philosophische Korrektur von dessen Konzept der Biopolitik die These auf, daß Biopolitik, indem sie den Menschen auf einen biologischen Nullwert zurückzuführen versucht, das nackte Leben zum eigentlichen Subjekt der Moderne macht. Ausgehend von Carl Schmitts Souveränitätskonzept, kommt Agamben zu einer Interpretation des Konzentrationslagers als "nomos der Moderne", wo Recht und Tat, Regel und Ausnahme, Leben und Tod ununterscheidbar werden. In den zwischen Leben und Tod siechenden Häftlingen, aber auch in den Flüchtlingen von heute sieht er massenhaft real gewordene Verkörperungen des homo sacer und des nackten Lebens. Die philosophische Begründung dessen, daß diese Möglichkeit keineswegs nur historisch ist, hat eine Diskussion entfacht, die weit über Italien und Europa hinausreicht.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.02.2002Rette sich wer kann das nackte Leben
Der biopolitische Nomos des Planeten: Heute erscheint der langerwartete Essay von Giorgio Agamben
Auf das Buch des italienischen Philosophen Giorgio Agamben, das heute erscheint, haben deutsche Leser lange warten müssen. So lange, dass das schmale Werk, das seit Jahren in französischer und englischer Übersetzung vorliegt, den Status des bestverbreiteten Geheimtipps gewonnen hat. Der Suhrkamp Verlag hat deswegen einige Prügel eingesteckt. In der Tat wirkt es paradox, dass dieses Übersetzungsschicksal ausgerechnet den deutschesten Denker außerhalb des deutschen Sprachraums ereilen musste.
Denn Agamben, der Walter Benjamin auf Italienisch herausgegeben und früh über Aby Warburg gearbeitet hat, kennt neben Michel Foucault fast ausschließlich deutsche DenkmeisterInnen: Hannah Arendt, Martin Heidegger, Carl Schmitt und Ernst Kantorowicz. Eine aparte Mischung, deren Elemente allerdings identifizierbar bleiben, weil Agamben die Theorien und Konzepte seiner maître- und maîtresse-penseurs nicht nach französischem Rezept schaumig verquirlt, sondern eher steckbaukastenartig verbindet. Das tut der Philosophieprofessor aus Verona derart geschickt, dass er mittlerweile als originellster Denker im Zweistromland von Geschichte und philosophischer Anthropologie gilt.
Dabei mag auch der ästhetische Reiz seiner Konzeption eine Rolle spielen. Der homo sacer, der dem Buch den Titel gibt, ist eine sinistre Gestalt, die wie der „Ewige Jude” durch die Geschichte wandert – eine Figur aus der série noire der postmodernen Theoriebildung. Agamben, der studierte Jurist, entnimmt sie den Quellen des archaischen römischen Rechts. Dort bezeichnet der Begriff einen Menschen, den man sacer, „heilig” nennt, obwohl oder weil er sich im Bann befindet: Er kann straflos getötet, aber nicht geopfert werden. So steht der homo sacer auf der Grenze zwischen göttlichem und menschlichem Recht, keiner Sphäre zugehörig, aus beiden ausgeschlossen. In dieser „Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen Opfer und Mord” konstituiert sich nach Agamben der politische Raum: „Souverän ist die Sphäre, in der man töten kann, ohne einen Mord zu begehen und ohne ein Opfer zu zelebrieren, und heilig, das heißt tötbar, aber nicht opferbar, ist das Leben, das in diese Sphäre eingeschlossen ist.”
Aber Carl Schmitt („Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand verfügt”) dirigiert nur den ersten Satz der Symphonie. Denn für Agamben wird das Politische nicht durch den Gegensatz von Freund und Feind beherrscht, sondern durch die aristotelische Unterscheidung von bíos und zoé: hier ein Leben, das in ziviler und politischer Form geführt wird, und dort eines, das nichts ist als kreatürliche Existenz oder „nacktes Leben” wie Agamben sagt. In der abendländischen Politik hat sich das Gemeinwesen der Menschen auf der Ausschließung des nackten Lebens begründet. Aber dieser Akt der Ausschließung konstituiert zugleich das nackte Leben als „ursprünglichen, wenn auch verborgenen Kern der souveränen Macht” – die in Agambens Denken immer die Macht zu töten ist. Insofern hat die vermeintlich moderne „Biopolitik” einen archaischen, der Geschichte vorausliegenden Ursprung. Die eigentümliche Dynamik der Moderne besteht darin, diesen Ursprung als Ziel wieder einzuholen, indem sie tendenziell alle Politik in Biopolitik transformiert.
Hier schließt Agamben an den späten Foucault an. „Jahrtausende hindurch”, schrieb dieser, „ist der Mensch das geblieben, was er für Aristoteles war: ein lebendes Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist. Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht.” Foucault sah die moderne Wendung zur Biopolitik im Aufstieg der „Polizei”, der Bevölkerungswissenschaft und der Durchdringung des „Volkskörpers” durch ein Heer von Experten der Medizin, Hygiene und Statistik. Aber er verzichtete darauf, die beschleunigte Generalisierung der Biopolitik im 20. Jahrhundert zu verfolgen – und er entwickelte seine Perspektive auf die Normalisierungsmacht in polemischem Gegensatz zur Staatswissenschaft und ihren juridischen Kategorien. Beide Defizite will Agamben in seiner Theoriebildung überwinden.
Ausnahmezustand als Regel
Dazu dient ihm die Verbindung zweier Rechtsfiguren, des homo sacer und der Souveränität. Als die doppelte Ausnahme (von menschlichem und göttlichem Recht), die er darstellt, steht der „heilige Mensch”, jener Moriturus, im polaren und symmetrischen Gegensatz zum Souverän, der über das absolute Tötungsrecht verfügt. Souverän ist, wer über das nackte Leben verfügt: Für ihn sind alle anderen Menschen potentiell homines sacri. In dieses strukturale, Agamben würde sagen: paradigmatische Verhältnis bringt die Moderne eine Entwicklungsdynamik. Immer weitere Bereiche des sozialen Lebens werden zu Feldern der Biopolitik, in der es um die Grenzen des Lebens und die Entscheidung über das nackte Leben geht, in denen mithin der Souverän „immer mehr nicht nur mit dem Juristen, sondern auch mit dem Arzt, dem Wissenschaftler, Experten und dem Priester symbiotisiert”.
Ihren paradigmatischen Ort hat die Biopolitik des 20. Jahrhunderts gleichwohl nicht in den Kliniken, Labors und Irrenanstalten gefunden, sondern im Lager. Agamben sieht im Lager gleichsam die verborgene Matrix, den „ nómos des politischen Raumes, in dem wir auch heute noch leben”. Das Lager wird in dieser Perspektive nicht zum größten anzunehmenden Unfall der Zivilisationsgeschichte, sondern zum heimlichen Telos der Geschichte: „Das Lager ist der Raum, der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt.” Das Lager ist, wie Agamben in einem gewagten Superlativ schreibt, „der absoluteste biopolitische Raum, der je in die Realität umgesetzt worden ist”, weil sich in ihm absolute Macht und nacktes Leben unvermittelt gegenüberstehen.
Das letzte Wort in Agambens düsterem Tractatus historico-politicus hat nicht die Hoffnung, sondern eine seltsame Figur der Insistenz: Vom Lager aus, von dieser Situation der Ununterscheidbarkeit von bíos und zoé, von politischem Körper und biologischem Körper her ist zu denken. Von der Situation der Lager gibt es keine Rückkehr zur klassischen Politik mit ihren Differenzen, betont Agamben, wohl aber die Suche nach einer neuen Lebensform, die dem nackten Leben unablöslich eingebunden ist.
Zwischen dem Verstummen Foucaults und dem Erscheinen von Giorgio Agambens „Homo sacer” liegt der Aufstieg von Auschwitz als Denkzwang und Metapher. Wolfgang Sofsky hat in seinen Büchern über das Lager und die Gewalt mit anderen Begriffsmitteln eine ähnliche Untergrabung der Zivilisationsgeschichte, in der sich die letzten Reste des Geschichtsoptimismus verkapselt haben, unternommen. Tatsächlich kann man Agamben am vorläufigen Endpunkt einer Tradition der Fundamentalisierung sehen, die seit 150 Jahren, seit dem Entwurf der Politischen Ökonomie durch Karl Marx, nicht aufgehört hat, die klassische Politik zu untergraben und auf ein „tieferes” Fundament zu legen. Bei diesem Unternehmen, das sich im 20. Jahrhundert von der Politischen Ökonomie zur Politischen Anthropologie hin „vertieft” hat, hat die Fundamentalontologie Martin Heideggers eine bedeutende Rolle gespielt: Ihre Spuren führen auch in die „Zonen der Ununterschiedenheit” des „Homo sacer”. Eine Selbstreflexion auf den eigenen Theorieort und -status schuldet Agamben seinen Lesern noch. Seine „Archäologie des Wissens” bleibt noch zu schreiben.
ULRICH RAULFF
GIORGIO AGAMBEN: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 208 Seiten, 10 Euro.
Tollhaus der Biopolitik oder Wenn Politik zum Kampf ums nackte Leben wird: 1793/94 malte Francisco de Goya „Das Irrenhaus”. Wir entnehmen die Abbildung dem Band von Fred Licht: „Goya. Die Geburt der Moderne”, Hirmer, München 2001.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Der biopolitische Nomos des Planeten: Heute erscheint der langerwartete Essay von Giorgio Agamben
Auf das Buch des italienischen Philosophen Giorgio Agamben, das heute erscheint, haben deutsche Leser lange warten müssen. So lange, dass das schmale Werk, das seit Jahren in französischer und englischer Übersetzung vorliegt, den Status des bestverbreiteten Geheimtipps gewonnen hat. Der Suhrkamp Verlag hat deswegen einige Prügel eingesteckt. In der Tat wirkt es paradox, dass dieses Übersetzungsschicksal ausgerechnet den deutschesten Denker außerhalb des deutschen Sprachraums ereilen musste.
Denn Agamben, der Walter Benjamin auf Italienisch herausgegeben und früh über Aby Warburg gearbeitet hat, kennt neben Michel Foucault fast ausschließlich deutsche DenkmeisterInnen: Hannah Arendt, Martin Heidegger, Carl Schmitt und Ernst Kantorowicz. Eine aparte Mischung, deren Elemente allerdings identifizierbar bleiben, weil Agamben die Theorien und Konzepte seiner maître- und maîtresse-penseurs nicht nach französischem Rezept schaumig verquirlt, sondern eher steckbaukastenartig verbindet. Das tut der Philosophieprofessor aus Verona derart geschickt, dass er mittlerweile als originellster Denker im Zweistromland von Geschichte und philosophischer Anthropologie gilt.
Dabei mag auch der ästhetische Reiz seiner Konzeption eine Rolle spielen. Der homo sacer, der dem Buch den Titel gibt, ist eine sinistre Gestalt, die wie der „Ewige Jude” durch die Geschichte wandert – eine Figur aus der série noire der postmodernen Theoriebildung. Agamben, der studierte Jurist, entnimmt sie den Quellen des archaischen römischen Rechts. Dort bezeichnet der Begriff einen Menschen, den man sacer, „heilig” nennt, obwohl oder weil er sich im Bann befindet: Er kann straflos getötet, aber nicht geopfert werden. So steht der homo sacer auf der Grenze zwischen göttlichem und menschlichem Recht, keiner Sphäre zugehörig, aus beiden ausgeschlossen. In dieser „Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen Opfer und Mord” konstituiert sich nach Agamben der politische Raum: „Souverän ist die Sphäre, in der man töten kann, ohne einen Mord zu begehen und ohne ein Opfer zu zelebrieren, und heilig, das heißt tötbar, aber nicht opferbar, ist das Leben, das in diese Sphäre eingeschlossen ist.”
Aber Carl Schmitt („Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand verfügt”) dirigiert nur den ersten Satz der Symphonie. Denn für Agamben wird das Politische nicht durch den Gegensatz von Freund und Feind beherrscht, sondern durch die aristotelische Unterscheidung von bíos und zoé: hier ein Leben, das in ziviler und politischer Form geführt wird, und dort eines, das nichts ist als kreatürliche Existenz oder „nacktes Leben” wie Agamben sagt. In der abendländischen Politik hat sich das Gemeinwesen der Menschen auf der Ausschließung des nackten Lebens begründet. Aber dieser Akt der Ausschließung konstituiert zugleich das nackte Leben als „ursprünglichen, wenn auch verborgenen Kern der souveränen Macht” – die in Agambens Denken immer die Macht zu töten ist. Insofern hat die vermeintlich moderne „Biopolitik” einen archaischen, der Geschichte vorausliegenden Ursprung. Die eigentümliche Dynamik der Moderne besteht darin, diesen Ursprung als Ziel wieder einzuholen, indem sie tendenziell alle Politik in Biopolitik transformiert.
Hier schließt Agamben an den späten Foucault an. „Jahrtausende hindurch”, schrieb dieser, „ist der Mensch das geblieben, was er für Aristoteles war: ein lebendes Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist. Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht.” Foucault sah die moderne Wendung zur Biopolitik im Aufstieg der „Polizei”, der Bevölkerungswissenschaft und der Durchdringung des „Volkskörpers” durch ein Heer von Experten der Medizin, Hygiene und Statistik. Aber er verzichtete darauf, die beschleunigte Generalisierung der Biopolitik im 20. Jahrhundert zu verfolgen – und er entwickelte seine Perspektive auf die Normalisierungsmacht in polemischem Gegensatz zur Staatswissenschaft und ihren juridischen Kategorien. Beide Defizite will Agamben in seiner Theoriebildung überwinden.
Ausnahmezustand als Regel
Dazu dient ihm die Verbindung zweier Rechtsfiguren, des homo sacer und der Souveränität. Als die doppelte Ausnahme (von menschlichem und göttlichem Recht), die er darstellt, steht der „heilige Mensch”, jener Moriturus, im polaren und symmetrischen Gegensatz zum Souverän, der über das absolute Tötungsrecht verfügt. Souverän ist, wer über das nackte Leben verfügt: Für ihn sind alle anderen Menschen potentiell homines sacri. In dieses strukturale, Agamben würde sagen: paradigmatische Verhältnis bringt die Moderne eine Entwicklungsdynamik. Immer weitere Bereiche des sozialen Lebens werden zu Feldern der Biopolitik, in der es um die Grenzen des Lebens und die Entscheidung über das nackte Leben geht, in denen mithin der Souverän „immer mehr nicht nur mit dem Juristen, sondern auch mit dem Arzt, dem Wissenschaftler, Experten und dem Priester symbiotisiert”.
Ihren paradigmatischen Ort hat die Biopolitik des 20. Jahrhunderts gleichwohl nicht in den Kliniken, Labors und Irrenanstalten gefunden, sondern im Lager. Agamben sieht im Lager gleichsam die verborgene Matrix, den „ nómos des politischen Raumes, in dem wir auch heute noch leben”. Das Lager wird in dieser Perspektive nicht zum größten anzunehmenden Unfall der Zivilisationsgeschichte, sondern zum heimlichen Telos der Geschichte: „Das Lager ist der Raum, der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt.” Das Lager ist, wie Agamben in einem gewagten Superlativ schreibt, „der absoluteste biopolitische Raum, der je in die Realität umgesetzt worden ist”, weil sich in ihm absolute Macht und nacktes Leben unvermittelt gegenüberstehen.
Das letzte Wort in Agambens düsterem Tractatus historico-politicus hat nicht die Hoffnung, sondern eine seltsame Figur der Insistenz: Vom Lager aus, von dieser Situation der Ununterscheidbarkeit von bíos und zoé, von politischem Körper und biologischem Körper her ist zu denken. Von der Situation der Lager gibt es keine Rückkehr zur klassischen Politik mit ihren Differenzen, betont Agamben, wohl aber die Suche nach einer neuen Lebensform, die dem nackten Leben unablöslich eingebunden ist.
Zwischen dem Verstummen Foucaults und dem Erscheinen von Giorgio Agambens „Homo sacer” liegt der Aufstieg von Auschwitz als Denkzwang und Metapher. Wolfgang Sofsky hat in seinen Büchern über das Lager und die Gewalt mit anderen Begriffsmitteln eine ähnliche Untergrabung der Zivilisationsgeschichte, in der sich die letzten Reste des Geschichtsoptimismus verkapselt haben, unternommen. Tatsächlich kann man Agamben am vorläufigen Endpunkt einer Tradition der Fundamentalisierung sehen, die seit 150 Jahren, seit dem Entwurf der Politischen Ökonomie durch Karl Marx, nicht aufgehört hat, die klassische Politik zu untergraben und auf ein „tieferes” Fundament zu legen. Bei diesem Unternehmen, das sich im 20. Jahrhundert von der Politischen Ökonomie zur Politischen Anthropologie hin „vertieft” hat, hat die Fundamentalontologie Martin Heideggers eine bedeutende Rolle gespielt: Ihre Spuren führen auch in die „Zonen der Ununterschiedenheit” des „Homo sacer”. Eine Selbstreflexion auf den eigenen Theorieort und -status schuldet Agamben seinen Lesern noch. Seine „Archäologie des Wissens” bleibt noch zu schreiben.
ULRICH RAULFF
GIORGIO AGAMBEN: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 208 Seiten, 10 Euro.
Tollhaus der Biopolitik oder Wenn Politik zum Kampf ums nackte Leben wird: 1793/94 malte Francisco de Goya „Das Irrenhaus”. Wir entnehmen die Abbildung dem Band von Fred Licht: „Goya. Die Geburt der Moderne”, Hirmer, München 2001.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002Im Bann des Suchscheinwerfers Philosophie
Zwangsarbeit als Befreiungsschlag: Giorgio Agamben enthüllt in seinem Meisterwerk "Homo sacer" das Lager als Paradigma der Biopolitik / Von Andreas Platthaus
Es gibt Bücher, die alles umstürzen, die durch die Lektüre neue Augen verleihen, mit denen von nun an alles betrachtet werden muß. Ein solches Buch, ein solcher Umsturz ist Giorgio Agambens "Homo sacer". Wenn man es zuklappt, eröffnet sich die Welt neu, sie erscheint im Licht des Buches. Aber es ist ein kaltes Licht, ein Licht, das wie aus Suchscheinwerfern fällt. Ihre Kegel bannen nicht weniger als die Moderne. Keine zweite oder gar dritte, wie zahlreiche Publikationen des Verlags, bei dem auch "Homo sacer" erschienen ist, sie ausrufen, sondern einfach unsere Zeit, die in ein geistesgeschichtliches Kontinuum zurückgerufen wird, das zu wenig Hoffnung Anlaß gibt. Es ist ein illusionsloses Buch - und darum desillusionierend. Aber viel Besseres kann kaum passieren, wenn sich die Philosophie auf das Feld der Politik wagt.
Agamben, Philosoph aus Verona, wagt sich nicht nur dorthin, er betreibt eine Invasion. Vor mittlerweile sieben Jahren begann er sie, denn bereits 1995 erschien das italienische Original von "Homo sacer", und dessen Ruf eilte ihm voraus - was nicht allzu schwer war, denn Suhrkamp ließ sich Zeit, viel Zeit für die Übertragung. Schon vor vier Jahren, als Agambens wundervolle Petitesse "Bartleby oder die Kontingenz" auf deutsch bei Merve erschien, wurde darin die Übersetzung von "Homo sacer" angekündigt: mit den euphemistischen Worten "demn. deutsch". Schön wäre das gewesen, wichtig auch für so manche Debatte des vergangenen Jahrfünfts, die Agambens Stimme bitter nötig gehabt hätte; Mahnmals- und Zuzugsdebatten allemal, aber auch Totalitarismustheorien und die Klagen über Demokratiedefizite hätten durch das Buch des Italieners bereichert werden können. Doch selbst die unmittelbar nach "Homo sacer" entstandene und thematisch verwandte Schrift "Mezzi senza fine" sollte schneller ihren Weg über die Alpen finden: Dem jungen Freiburger Verlag diaphanes gelang mit "Mittel ohne Grenzen" prompt, woran Suhrkamp so lange knabberte. Nun wird also Agamben in drei, wenn man sein erstes deutsches Buch "Idee der Prosa" von 1987 mitrechnet, gar vier Häusern verlegt, jeweils von unterschiedlichen Übersetzern betreut. Das sind nicht die besten Voraussetzungen für eine breite Rezeption in Deutschland.
Was Agambens "Homo sacer" auszeichnet, ist die Begriffsschärfe und seine gnadenlose Konsequenz. Auch wenn in der Chancenlosigkeit gegenüber der souveränen Macht (und Macht ist bei Agamben ein Synonym für unpersönliche, kollektive Souveränität, die sich deshalb als gewissenlos erweist) die Erinnerung an eine Vergangenheit aufgehoben ist, in der "klassische Politik" betrieben, also zwischen privatem Leben und politischer Existenz getrennt werden konnte, so gibt es heute zumindest in der westlichen Gesellschaft keinen Ort mehr, an den man flüchten könnte, um diesen Zustand wiederzubeleben. Denn wir leben in der Zeit des Lagers, und wenn die traditionelle politische Philosophie seit Hobbes den unerträglichen Naturzustand als den Ausgangspunkt aller Politik ausgemacht hat, so sieht Agamben nun im Lagerleben den Schlußpunkt aller Politik. Und das Lagerleben ist nicht bloß schwer erträglich, es ist per defintionem unmenschlich.
Unmenschlich im Sinne einer alten Unterscheidung, die seit der griechischen Philosophie gilt: der Trennung zwischen zoé und bíos, die am Beginn von Agambens Überlegungen steht. Die Begriffe bezeichnen beide das Leben; der erste das kreatürliche (Agamben nennt es das "private"), der zweite das besondere, individuelle (das sich stets im sozialen Kontext befindet; bei Agamben heißt es das "politische"). Dadurch entstehen die herkömmlichen Oppositionen, aus deren Spannung der Begriff der Souveränität erwächst, und sie alle enden im Angesicht des Lagerlebens: "Von den Lagern gibt es keine Rückkehr zur klassischen Politik; im Lager sind Staat und Haus ununterscheidbar geworden, und die Möglichkeit, zwischen biologischem Körper und politischem Körper, zwischen dem, was nicht mitteilbar und stumm, und dem, was mitteilbar und sagbar ist, zu unterscheiden, ist uns ein für allemal genommen."
Dennoch hat Agamben den Anspruch, "den politischen Raum des Abendlandes neu zu denken". Er will es nur nicht aus dem Geist der Utopie. Und nicht anhand der alten Denkverbote. Schnell fertig ist er selten mit dem Wort, nur die Rede vom "guten Glauben an ,humanitäre' Erwägungen", der Hitler und Himmler beim Euthanasie-Programm geleitet habe, stößt unangenehm auf. Manch anderes dagegen wird provozierend offen ausgesprochen in "Homo sacer", etwa die umstandslose Gleichsetzung von Nazi-Deutschland und Sowjetrußland oder Agambens These von einer "innersten Solidarität zwischen Demokratie und Totalitarismus" (die er gerade mit der seltsamen Verfaßtheit der beiden großen totalitaristischen Systeme als staatliche Organisation auf der Basis einer Staatspartei blendend zu belegen weiß). Doch jegliche Form von Geschichtsentwurf liegt ihm fern, er versucht sich an einem Gesichtsentwurf - einem Porträt der Moderne als alter Mann. Kein Wunder, daß Agamben es bevorzugt, vom "Abendland" zu sprechen; diesem Begriff ist der Untergang ja schon eingeschrieben.
Agamben ist damit erkennbar nahe bei Carl Schmitt, dessen Souveränitätsbestimmung er so modifiziert: "Souverän ist in der modernen Biopolitik derjenige, der über den Wert und Unwert des Lebens als solches entscheidet." Der deutsche Staatstheoretiker ist einer von zwei entscheidenden Gewährsmännern im zwanzigsten Jahrhundert. Der andere ist Ernst Kantorowicz, zu dem Agamben mit etwas verwirrten Angaben zum zeitlichen Verlauf der Dinge bemerkt, daß er "Anfang der zwanziger Jahre die politischen Wechselfälle in Deutschland mit intensiver Teilnahme erlebt hatte, als er in den Reihen des nationalistischen Freikorps den Spartakusaufstand in Berlin und die Münchner Räterepublik bekämpfte". Irritierend ist nicht nur Agambens falsche Datierung, sondern auch, welchen Rang hier die persönliche Erfahrung für einen Philosophen gewinnt, der, selbst Jahrgang 1942, keinen gravierenderen direkten Eindruck vom Totalitarismus erhalten hat als den italienischen Terror der siebziger Jahre. Daß ausgerechnet die Weimarer Republik als gewaltiges Labor der von Agamben als Kronzeugen aufgerufenen Denker diente, führt den Italiener einmal ab von seinem strengen Konzept der kühlen Analyse. Hier ist der einzige Moment des Buches, in dem Anteilnahme zu spüren ist - für die Teilnahme von Kantorowicz am Bürgerkrieg. Daß Agamben dann die Brücke zu Schmitt schlägt, ist aus dieser Erfahrung nur konsequent; die Lebenswege beider nach Weimar interessieren ihn nicht weiter.
Zwischen den Griechen und Schmitt und Kantorowicz liegt für Agamben so gut wie nichts - außer Kant, dessen rationale Überlegungen ihm gut für die moderne Machtfrage taugen. Aber nicht etwa Hegel, dessen systematische Teleologie wie Hohn angesichts der Tatsache wirkt, daß nur ein radikaler Bruch uns retten kann, nicht Hobbes und Hume, Rousseau und Locke, die alle nicht das Lager denken konnten, und auch nicht Kierkegaard oder der frühe Heidegger, obwohl Agamben aus der römischen Rechtstheorie ein Modell ableitet, das "dem Leben zum Tode" zu entsprechen scheint, wenn er ausführt: "Nicht das einfache natürliche Leben, sondern das dem Tod ausgesetzte Leben (das nackte oder heilige Leben) ist das ursprüngliche politische Element."
Hier ist nun der Titel des Buches selbst im Spiel: Homo sacer, der heilige oder auch der verfluchte Mensch. Seit Kantorowicz und seinen "Zwei Körpern des Königs" hat es kein Buch mehr gegeben, das so viel seines Inhalts bereits im Titel preisgab. Und seit Kantorowicz hat es auch kein Buch mehr gegeben, das so sehr die Wahrnehmung der Welt in all ihren Facetten zu prägen versteht.
Auch bei Agamben gibt es ja zwei Körper: den biologischen und den politischen. Er greift nun zurück auf ein Rechtsinstitut, das diese Unterscheidung beseitigte: Durch Sextus Pompeius Festus ist die archaische Figur des Homo sacer auf uns gekommen, die einen Menschen bezeichnet, der vom Volk wegen einer Straftat angeklagt ist, straffrei getötet, aber nicht den Göttern geopfert werden darf. Aus diesem seltsamen Bann, der einen Schwebezustand schafft, gewinnt Agamben die Kriterien zur Bestimmung des Ausnahmezustands gemäß Carl Schmitt: Der Homo sacer ist aus der Gesellschaft ausgeschlossen, aber sein Ausschluß ist als gesellschaftliches Instrument zu verstehen, weshalb er als Person wieder konstitutiv für sie ist. Auf derselben Prämisse begründete Schmitt seine Legitimation des Ausnahmezustands - schon die Rede vom "Souverän", der über ihn gebietet, stellt dessen Sonderrolle heraus, die für den Erhalt der Gesellschaft unentbehrlich ist, weil nur dank ihrer existentielle Krisen bewältigt werden können.
Was hat das alles mit Demokratie zu tun? Agamben verbindet die "Logik der Souveränität", wie er die Beherrschung des Ausnahmezustands nennt, mit dem Modell des Homo sacer und erhält aus dieser Kombination - das Lager, wie wir es im zwanzigsten Jahrhundert zu fürchten gelernt haben. "Was in den Lagern geschehen ist, übersteigt den juristischen Begriff von Verbrechen in einem solchen Maße, daß man es häufig einfach unterlassen hat, die spezifische rechtlich-politische Struktur zu untersuchen, aus der jene Ereignisse hervorgegangen sind", schreibt Agamben in "Mittel ohne Zweck" und betreibt damit kräftiges Eigenlob, denn genau diese Untersuchung leistete im Jahr zuvor "Homo sacer". Die Insassen, vom jeweiligen Souverän unter Berufung auf den Ausnahmezustand dort eingewiesen, sind die modernen Homines sacri: Menschen, die nicht mehr einer höheren Sache (und die ist nunmehr nur noch der Staat selbst) geopfert werden dürfen - sie werden nicht in den Krieg geschickt, haben nicht teil am Überlebenskampf der Nation -, aber dafür jederzeit getötet. Das war und ist die Realität der Lager, wie Agamben sie versteht und sein Landsmann Primo Levi sie beschrieb: Als vollkommen Rechtlose, als verfluchte Menschen, sind die Insassen doch immer noch Teil des Systems durch ihre Arbeitskraft, ihr "nacktes Leben", das die Souveränität nach Kräften ausbeutet, ohne auch nur den geringsten Gedanken an individuelle Reproduktion dieser Arbeitskraft zu verschwenden. Denn Lager sind, wie das russische Beispiel bewiesen hat, mittels des Ausnahmezustands immer wieder aufzufüllen.
Das ist die grausame Logik der Macht, und sie ist eingesickert in alle Gesellschaften nach Auschwitz. Denn im nationalsozialistischen Lagersystem erkennt Agamben mit Foucault die erste Emanation eines biopolitischen Modells der Macht, und ebendies sieht er gegenwärtig überall am Werk (als Beispiel nennt er die Lager für albanische Bootsflüchtlinge in seiner Heimat), wenn es sich auch nicht mehr auf Rassengesetze und Vernichtungspolitik berufen kann. Doch immer noch "bildet die Einbeziehung des nackten Lebens in den politischen Bereich den ursprünglichen - wenn auch verborgenen - Kern der souveränen Macht". Eine seltsame etymologische Volte hat dafür gesorgt, daß der Biopolitik der alte Begriff des bíos eingeschrieben ist, doch ihr eigentlicher Gegenstand ist die zoé, das bloß kreatürliche, eben nackte Leben. In einer Anmerkung verweist der vorzügliche Übersetzer des Buches auf die Einflüsse von Benjamins "bloßem Leben" auf Agamben, der als Herausgeber die italienische Publikation von Benjamins Werken besorgt hat. Doch "nacktes Leben" als Entsprechung für "nuda vita" ist denkbar gut gewählt - nicht nur der Originalität von Agambens Überlegungen wegen, sondern auch weil der Begriff in den Straflagern rund um den Globus ganz wörtlich zu verstehen ist und somit die Metapher wieder lebendig werden läßt.
"Das Lager und nicht der Staat ist das biopolitische Paradigma des Abendlandes." Drastischer ist unsere Zeit noch nicht beurteilt worden. Ein gemeinschaftliches Dasein als Individuen wird den Objekten der Biopolitik nicht mehr gestattet, sie sind unterworfen einem alle Unterschiede einebnenden Verständnis von Zugehörigkeit, das nur noch in biologischen Kriterien Distinktionsmerkmale gestattet, die dann auf der einen Seite Menschen hervorbringen, die sich als Souveräne betrachten dürfen, und auf der anderen Homines sacri, die auf Gedeih und Verderb den ersteren ausgeliefert sind: "Dem nackten Leben kommt in der abendländischen Politik das einzigartige Privileg zu, das zu sein, auf dessen Ausschließung sich das Gemeinwesen der Menschen gründet."
Agamben sieht die Zahl dieser eingeschlossenen Ausgeschlossenen immer weiter wachsen; alle Bürger müssen sich als auf ihr nacktes Leben zurückgeworfen begreifen, weil sie jederzeit damit rechnen müssen, daß ihr Leben politisiert, also der Souveränität unterworfen werden kann. "Die Räume, die Freiheiten, die Rechte, welche die Individuen in ihren Konflikten mit den zentralen Mächten erlangen, bahnen jedesmal zugleich eine stille, aber wachsende Einschreibung ihres Lebens in die staatliche Ordnung an und liefern so der souveränen Macht, von der sie sich eigentlich freizumachen gedachten, ein neues und noch furchterregenderes Fundament." Das ist die neue Dialektik der Aufklärung, die Agamben formuliert. Im Gegensatz zu Horkheimer und Adorno ist es nicht die subversive Kraft der Unterhaltung an sich, sondern deren Indienststellung durch eine kalt kalkulierende Macht, die keinem teleologischen Prinzip folgt, sondern schlicht den Ausnahmezustand zur Normalität erheben will. Den einzigen Ausweg - und Adorno wäre entsetzt - sieht Agamben vom mittleren Heidegger formuliert, der nun als Deuter der durch Carl Schmitt heraufbeschworenen Situation doch noch zu seinem Recht kommt. In Heideggers Verständnis vom Dasein, für das in seinem Sein sein Sein selbst permanent auf dem Spiel steht, entsteht eine untrennbare Einheit von Wesen und Welt. Was auch immer der Souverän dem Homo sacer zufügt, der Kern von dessen Existenz bleibt ihm unzugänglich: "Im Ausnahmezustand, der zur Regel geworden ist, verkehrt sich das Leben des homo sacer, der das Gegenstück zum Souverän war, in eine Existenz, auf welche die Macht keinerlei Zugriff mehr zu haben scheint."
Auf dieser Basis läßt sich eine Alternative formulieren, und sie berechtigt mit Agamben von einem "neuen Denken" zu reden. Doch natürlich hat dieser Widerstand der Theorie keine unmittelbaren praktischen Folgen. Es ist ein heroisches Leben, wie Heidegger selbst es auch in "Was ist Metaphysik?" angedeutet hat, das aber auch alle Nachteile des Heroischen mit sich bringt. Einen Ausweg hat Agamben nicht zu bieten, und aus der Konsequenz seiner Überlegungen zur Genese des nackten Lebens ist das leider denkbar schlüssig. Bestenfalls Anregungen kann eine Theorie geben, die als solche auch nur zur Etablierung der souveränen Macht beitragen wird. Agamben selbst ist Bürger und als solcher Homo sacer; seine Hoffnung auf ein künftiges Denken, das sich ganz als nacktes Leben versteht und sich damit seinen Bedingungen stellen kann, ist zu erschreckend, um sich zu wünschen, daß es wahr werde. Welche Philosophie hält einen so in die Schrecken der eigenen Existenz hinein? Das ist ein Befreiungsschlag aus Verzweiflung.
Giorgio Agamben: "Homo sacer". Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 212 S., br., 10,-.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwangsarbeit als Befreiungsschlag: Giorgio Agamben enthüllt in seinem Meisterwerk "Homo sacer" das Lager als Paradigma der Biopolitik / Von Andreas Platthaus
Es gibt Bücher, die alles umstürzen, die durch die Lektüre neue Augen verleihen, mit denen von nun an alles betrachtet werden muß. Ein solches Buch, ein solcher Umsturz ist Giorgio Agambens "Homo sacer". Wenn man es zuklappt, eröffnet sich die Welt neu, sie erscheint im Licht des Buches. Aber es ist ein kaltes Licht, ein Licht, das wie aus Suchscheinwerfern fällt. Ihre Kegel bannen nicht weniger als die Moderne. Keine zweite oder gar dritte, wie zahlreiche Publikationen des Verlags, bei dem auch "Homo sacer" erschienen ist, sie ausrufen, sondern einfach unsere Zeit, die in ein geistesgeschichtliches Kontinuum zurückgerufen wird, das zu wenig Hoffnung Anlaß gibt. Es ist ein illusionsloses Buch - und darum desillusionierend. Aber viel Besseres kann kaum passieren, wenn sich die Philosophie auf das Feld der Politik wagt.
Agamben, Philosoph aus Verona, wagt sich nicht nur dorthin, er betreibt eine Invasion. Vor mittlerweile sieben Jahren begann er sie, denn bereits 1995 erschien das italienische Original von "Homo sacer", und dessen Ruf eilte ihm voraus - was nicht allzu schwer war, denn Suhrkamp ließ sich Zeit, viel Zeit für die Übertragung. Schon vor vier Jahren, als Agambens wundervolle Petitesse "Bartleby oder die Kontingenz" auf deutsch bei Merve erschien, wurde darin die Übersetzung von "Homo sacer" angekündigt: mit den euphemistischen Worten "demn. deutsch". Schön wäre das gewesen, wichtig auch für so manche Debatte des vergangenen Jahrfünfts, die Agambens Stimme bitter nötig gehabt hätte; Mahnmals- und Zuzugsdebatten allemal, aber auch Totalitarismustheorien und die Klagen über Demokratiedefizite hätten durch das Buch des Italieners bereichert werden können. Doch selbst die unmittelbar nach "Homo sacer" entstandene und thematisch verwandte Schrift "Mezzi senza fine" sollte schneller ihren Weg über die Alpen finden: Dem jungen Freiburger Verlag diaphanes gelang mit "Mittel ohne Grenzen" prompt, woran Suhrkamp so lange knabberte. Nun wird also Agamben in drei, wenn man sein erstes deutsches Buch "Idee der Prosa" von 1987 mitrechnet, gar vier Häusern verlegt, jeweils von unterschiedlichen Übersetzern betreut. Das sind nicht die besten Voraussetzungen für eine breite Rezeption in Deutschland.
Was Agambens "Homo sacer" auszeichnet, ist die Begriffsschärfe und seine gnadenlose Konsequenz. Auch wenn in der Chancenlosigkeit gegenüber der souveränen Macht (und Macht ist bei Agamben ein Synonym für unpersönliche, kollektive Souveränität, die sich deshalb als gewissenlos erweist) die Erinnerung an eine Vergangenheit aufgehoben ist, in der "klassische Politik" betrieben, also zwischen privatem Leben und politischer Existenz getrennt werden konnte, so gibt es heute zumindest in der westlichen Gesellschaft keinen Ort mehr, an den man flüchten könnte, um diesen Zustand wiederzubeleben. Denn wir leben in der Zeit des Lagers, und wenn die traditionelle politische Philosophie seit Hobbes den unerträglichen Naturzustand als den Ausgangspunkt aller Politik ausgemacht hat, so sieht Agamben nun im Lagerleben den Schlußpunkt aller Politik. Und das Lagerleben ist nicht bloß schwer erträglich, es ist per defintionem unmenschlich.
Unmenschlich im Sinne einer alten Unterscheidung, die seit der griechischen Philosophie gilt: der Trennung zwischen zoé und bíos, die am Beginn von Agambens Überlegungen steht. Die Begriffe bezeichnen beide das Leben; der erste das kreatürliche (Agamben nennt es das "private"), der zweite das besondere, individuelle (das sich stets im sozialen Kontext befindet; bei Agamben heißt es das "politische"). Dadurch entstehen die herkömmlichen Oppositionen, aus deren Spannung der Begriff der Souveränität erwächst, und sie alle enden im Angesicht des Lagerlebens: "Von den Lagern gibt es keine Rückkehr zur klassischen Politik; im Lager sind Staat und Haus ununterscheidbar geworden, und die Möglichkeit, zwischen biologischem Körper und politischem Körper, zwischen dem, was nicht mitteilbar und stumm, und dem, was mitteilbar und sagbar ist, zu unterscheiden, ist uns ein für allemal genommen."
Dennoch hat Agamben den Anspruch, "den politischen Raum des Abendlandes neu zu denken". Er will es nur nicht aus dem Geist der Utopie. Und nicht anhand der alten Denkverbote. Schnell fertig ist er selten mit dem Wort, nur die Rede vom "guten Glauben an ,humanitäre' Erwägungen", der Hitler und Himmler beim Euthanasie-Programm geleitet habe, stößt unangenehm auf. Manch anderes dagegen wird provozierend offen ausgesprochen in "Homo sacer", etwa die umstandslose Gleichsetzung von Nazi-Deutschland und Sowjetrußland oder Agambens These von einer "innersten Solidarität zwischen Demokratie und Totalitarismus" (die er gerade mit der seltsamen Verfaßtheit der beiden großen totalitaristischen Systeme als staatliche Organisation auf der Basis einer Staatspartei blendend zu belegen weiß). Doch jegliche Form von Geschichtsentwurf liegt ihm fern, er versucht sich an einem Gesichtsentwurf - einem Porträt der Moderne als alter Mann. Kein Wunder, daß Agamben es bevorzugt, vom "Abendland" zu sprechen; diesem Begriff ist der Untergang ja schon eingeschrieben.
Agamben ist damit erkennbar nahe bei Carl Schmitt, dessen Souveränitätsbestimmung er so modifiziert: "Souverän ist in der modernen Biopolitik derjenige, der über den Wert und Unwert des Lebens als solches entscheidet." Der deutsche Staatstheoretiker ist einer von zwei entscheidenden Gewährsmännern im zwanzigsten Jahrhundert. Der andere ist Ernst Kantorowicz, zu dem Agamben mit etwas verwirrten Angaben zum zeitlichen Verlauf der Dinge bemerkt, daß er "Anfang der zwanziger Jahre die politischen Wechselfälle in Deutschland mit intensiver Teilnahme erlebt hatte, als er in den Reihen des nationalistischen Freikorps den Spartakusaufstand in Berlin und die Münchner Räterepublik bekämpfte". Irritierend ist nicht nur Agambens falsche Datierung, sondern auch, welchen Rang hier die persönliche Erfahrung für einen Philosophen gewinnt, der, selbst Jahrgang 1942, keinen gravierenderen direkten Eindruck vom Totalitarismus erhalten hat als den italienischen Terror der siebziger Jahre. Daß ausgerechnet die Weimarer Republik als gewaltiges Labor der von Agamben als Kronzeugen aufgerufenen Denker diente, führt den Italiener einmal ab von seinem strengen Konzept der kühlen Analyse. Hier ist der einzige Moment des Buches, in dem Anteilnahme zu spüren ist - für die Teilnahme von Kantorowicz am Bürgerkrieg. Daß Agamben dann die Brücke zu Schmitt schlägt, ist aus dieser Erfahrung nur konsequent; die Lebenswege beider nach Weimar interessieren ihn nicht weiter.
Zwischen den Griechen und Schmitt und Kantorowicz liegt für Agamben so gut wie nichts - außer Kant, dessen rationale Überlegungen ihm gut für die moderne Machtfrage taugen. Aber nicht etwa Hegel, dessen systematische Teleologie wie Hohn angesichts der Tatsache wirkt, daß nur ein radikaler Bruch uns retten kann, nicht Hobbes und Hume, Rousseau und Locke, die alle nicht das Lager denken konnten, und auch nicht Kierkegaard oder der frühe Heidegger, obwohl Agamben aus der römischen Rechtstheorie ein Modell ableitet, das "dem Leben zum Tode" zu entsprechen scheint, wenn er ausführt: "Nicht das einfache natürliche Leben, sondern das dem Tod ausgesetzte Leben (das nackte oder heilige Leben) ist das ursprüngliche politische Element."
Hier ist nun der Titel des Buches selbst im Spiel: Homo sacer, der heilige oder auch der verfluchte Mensch. Seit Kantorowicz und seinen "Zwei Körpern des Königs" hat es kein Buch mehr gegeben, das so viel seines Inhalts bereits im Titel preisgab. Und seit Kantorowicz hat es auch kein Buch mehr gegeben, das so sehr die Wahrnehmung der Welt in all ihren Facetten zu prägen versteht.
Auch bei Agamben gibt es ja zwei Körper: den biologischen und den politischen. Er greift nun zurück auf ein Rechtsinstitut, das diese Unterscheidung beseitigte: Durch Sextus Pompeius Festus ist die archaische Figur des Homo sacer auf uns gekommen, die einen Menschen bezeichnet, der vom Volk wegen einer Straftat angeklagt ist, straffrei getötet, aber nicht den Göttern geopfert werden darf. Aus diesem seltsamen Bann, der einen Schwebezustand schafft, gewinnt Agamben die Kriterien zur Bestimmung des Ausnahmezustands gemäß Carl Schmitt: Der Homo sacer ist aus der Gesellschaft ausgeschlossen, aber sein Ausschluß ist als gesellschaftliches Instrument zu verstehen, weshalb er als Person wieder konstitutiv für sie ist. Auf derselben Prämisse begründete Schmitt seine Legitimation des Ausnahmezustands - schon die Rede vom "Souverän", der über ihn gebietet, stellt dessen Sonderrolle heraus, die für den Erhalt der Gesellschaft unentbehrlich ist, weil nur dank ihrer existentielle Krisen bewältigt werden können.
Was hat das alles mit Demokratie zu tun? Agamben verbindet die "Logik der Souveränität", wie er die Beherrschung des Ausnahmezustands nennt, mit dem Modell des Homo sacer und erhält aus dieser Kombination - das Lager, wie wir es im zwanzigsten Jahrhundert zu fürchten gelernt haben. "Was in den Lagern geschehen ist, übersteigt den juristischen Begriff von Verbrechen in einem solchen Maße, daß man es häufig einfach unterlassen hat, die spezifische rechtlich-politische Struktur zu untersuchen, aus der jene Ereignisse hervorgegangen sind", schreibt Agamben in "Mittel ohne Zweck" und betreibt damit kräftiges Eigenlob, denn genau diese Untersuchung leistete im Jahr zuvor "Homo sacer". Die Insassen, vom jeweiligen Souverän unter Berufung auf den Ausnahmezustand dort eingewiesen, sind die modernen Homines sacri: Menschen, die nicht mehr einer höheren Sache (und die ist nunmehr nur noch der Staat selbst) geopfert werden dürfen - sie werden nicht in den Krieg geschickt, haben nicht teil am Überlebenskampf der Nation -, aber dafür jederzeit getötet. Das war und ist die Realität der Lager, wie Agamben sie versteht und sein Landsmann Primo Levi sie beschrieb: Als vollkommen Rechtlose, als verfluchte Menschen, sind die Insassen doch immer noch Teil des Systems durch ihre Arbeitskraft, ihr "nacktes Leben", das die Souveränität nach Kräften ausbeutet, ohne auch nur den geringsten Gedanken an individuelle Reproduktion dieser Arbeitskraft zu verschwenden. Denn Lager sind, wie das russische Beispiel bewiesen hat, mittels des Ausnahmezustands immer wieder aufzufüllen.
Das ist die grausame Logik der Macht, und sie ist eingesickert in alle Gesellschaften nach Auschwitz. Denn im nationalsozialistischen Lagersystem erkennt Agamben mit Foucault die erste Emanation eines biopolitischen Modells der Macht, und ebendies sieht er gegenwärtig überall am Werk (als Beispiel nennt er die Lager für albanische Bootsflüchtlinge in seiner Heimat), wenn es sich auch nicht mehr auf Rassengesetze und Vernichtungspolitik berufen kann. Doch immer noch "bildet die Einbeziehung des nackten Lebens in den politischen Bereich den ursprünglichen - wenn auch verborgenen - Kern der souveränen Macht". Eine seltsame etymologische Volte hat dafür gesorgt, daß der Biopolitik der alte Begriff des bíos eingeschrieben ist, doch ihr eigentlicher Gegenstand ist die zoé, das bloß kreatürliche, eben nackte Leben. In einer Anmerkung verweist der vorzügliche Übersetzer des Buches auf die Einflüsse von Benjamins "bloßem Leben" auf Agamben, der als Herausgeber die italienische Publikation von Benjamins Werken besorgt hat. Doch "nacktes Leben" als Entsprechung für "nuda vita" ist denkbar gut gewählt - nicht nur der Originalität von Agambens Überlegungen wegen, sondern auch weil der Begriff in den Straflagern rund um den Globus ganz wörtlich zu verstehen ist und somit die Metapher wieder lebendig werden läßt.
"Das Lager und nicht der Staat ist das biopolitische Paradigma des Abendlandes." Drastischer ist unsere Zeit noch nicht beurteilt worden. Ein gemeinschaftliches Dasein als Individuen wird den Objekten der Biopolitik nicht mehr gestattet, sie sind unterworfen einem alle Unterschiede einebnenden Verständnis von Zugehörigkeit, das nur noch in biologischen Kriterien Distinktionsmerkmale gestattet, die dann auf der einen Seite Menschen hervorbringen, die sich als Souveräne betrachten dürfen, und auf der anderen Homines sacri, die auf Gedeih und Verderb den ersteren ausgeliefert sind: "Dem nackten Leben kommt in der abendländischen Politik das einzigartige Privileg zu, das zu sein, auf dessen Ausschließung sich das Gemeinwesen der Menschen gründet."
Agamben sieht die Zahl dieser eingeschlossenen Ausgeschlossenen immer weiter wachsen; alle Bürger müssen sich als auf ihr nacktes Leben zurückgeworfen begreifen, weil sie jederzeit damit rechnen müssen, daß ihr Leben politisiert, also der Souveränität unterworfen werden kann. "Die Räume, die Freiheiten, die Rechte, welche die Individuen in ihren Konflikten mit den zentralen Mächten erlangen, bahnen jedesmal zugleich eine stille, aber wachsende Einschreibung ihres Lebens in die staatliche Ordnung an und liefern so der souveränen Macht, von der sie sich eigentlich freizumachen gedachten, ein neues und noch furchterregenderes Fundament." Das ist die neue Dialektik der Aufklärung, die Agamben formuliert. Im Gegensatz zu Horkheimer und Adorno ist es nicht die subversive Kraft der Unterhaltung an sich, sondern deren Indienststellung durch eine kalt kalkulierende Macht, die keinem teleologischen Prinzip folgt, sondern schlicht den Ausnahmezustand zur Normalität erheben will. Den einzigen Ausweg - und Adorno wäre entsetzt - sieht Agamben vom mittleren Heidegger formuliert, der nun als Deuter der durch Carl Schmitt heraufbeschworenen Situation doch noch zu seinem Recht kommt. In Heideggers Verständnis vom Dasein, für das in seinem Sein sein Sein selbst permanent auf dem Spiel steht, entsteht eine untrennbare Einheit von Wesen und Welt. Was auch immer der Souverän dem Homo sacer zufügt, der Kern von dessen Existenz bleibt ihm unzugänglich: "Im Ausnahmezustand, der zur Regel geworden ist, verkehrt sich das Leben des homo sacer, der das Gegenstück zum Souverän war, in eine Existenz, auf welche die Macht keinerlei Zugriff mehr zu haben scheint."
Auf dieser Basis läßt sich eine Alternative formulieren, und sie berechtigt mit Agamben von einem "neuen Denken" zu reden. Doch natürlich hat dieser Widerstand der Theorie keine unmittelbaren praktischen Folgen. Es ist ein heroisches Leben, wie Heidegger selbst es auch in "Was ist Metaphysik?" angedeutet hat, das aber auch alle Nachteile des Heroischen mit sich bringt. Einen Ausweg hat Agamben nicht zu bieten, und aus der Konsequenz seiner Überlegungen zur Genese des nackten Lebens ist das leider denkbar schlüssig. Bestenfalls Anregungen kann eine Theorie geben, die als solche auch nur zur Etablierung der souveränen Macht beitragen wird. Agamben selbst ist Bürger und als solcher Homo sacer; seine Hoffnung auf ein künftiges Denken, das sich ganz als nacktes Leben versteht und sich damit seinen Bedingungen stellen kann, ist zu erschreckend, um sich zu wünschen, daß es wahr werde. Welche Philosophie hält einen so in die Schrecken der eigenen Existenz hinein? Das ist ein Befreiungsschlag aus Verzweiflung.
Giorgio Agamben: "Homo sacer". Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 212 S., br., 10,-
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Der Veroneser Philosophieprofessor ist längst ein Geheimtipp, behauptet Urich Raulff und bedauert, dass der Suhrkamp Verlag dieses Werk des deutschesten unter den ausländischen Philosophen Jahre nach seinem erstmaligen Erscheinen der deutschen Öffentlichkeit präsentiert. Aber heute ist es soweit, und gleich am ersten Erscheinungstag schreitet Raulff zur Tat und stellt den Lesern diesen an Foucault einerseits und an deutsche Philosophen wie Heidegger, Arendt, Kantorowicz und Schmitt anschließenden Denker vor. Raulff erläutert den Titel des Buches "Homo sacer": dies sei ein Begriff aus dem römischen Recht, der einen Mensch bezeichnet, "der 'heilig' ist, obwohl oder weil er im Bann steht", schreibt Raulff. Er stehe für die Grenze zwischen göttlichem und menschlichem Recht, für den politischen Raum, in dem man "töten kann, ohne einen Mord zu begehen". Raulff schlägt mit Agamben einen großen Bogen zu Foucault, wonach sich tendenziell jede Politik in Biopolitik verwandele, d.h. die Grenzen des Lebens und die Entscheidung über das Leben immer ununterscheidbarer würden. Ähnlich wie Wolfgang Sofksy, wenn auch mit anderen Begriffen, betreibe Agamben eine Untergrabung der Zivilisationsgeschichte, meint Raulff, aus der sich jeder Geschichtsoptimismus verflüchtigt habe. Eine Selbstreflexion des Agamben'schen Theoriestandorts steht für Raulff noch aus.
© Perlentaucher Medien GmbH
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