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Fontane hat mit koketter Bescheidenheit über sein Meisterwerk, den Stechlin, gesagt: 'Zum Schluss stirbt ein Alter, und zwei Junge heiraten sich - das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht.'Ähnlich knapp liesse sich der Inhalt von Horacios Geschichte wiedergeben: Ein etwas neurotischer Mann, der eine grosse Familie hat, Antiquitäten sammelt, an seinem Auto hängt, viel raucht, sich zwei Kühe hält und am Ende stirbt. Geschildert werden die letzten 20 Monate von Horacios Leben, zu dem die trivialen Unterhaltungen und Vorkommnisse des Alltags ebenso gehören wie Krankheiten und…mehr

Produktbeschreibung
Fontane hat mit koketter Bescheidenheit über sein Meisterwerk, den Stechlin, gesagt: 'Zum Schluss stirbt ein Alter, und zwei Junge heiraten sich - das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht.'Ähnlich knapp liesse sich der Inhalt von Horacios Geschichte wiedergeben: Ein etwas neurotischer Mann, der eine grosse Familie hat, Antiquitäten sammelt, an seinem Auto hängt, viel raucht, sich zwei Kühe hält und am Ende stirbt. Geschildert werden die letzten 20 Monate von Horacios Leben, zu dem die trivialen Unterhaltungen und Vorkommnisse des Alltags ebenso gehören wie Krankheiten und Unglücksfälle in der Familie.Eine einfache, unspektakuläre Geschichte, die dadurch zum Meisterwerk wird, dass der Autor eine eigene Sprache gefunden hat, mit der er den Leser, die Leserin fern von den 'Markenzeichen' der kolumbianischen Literatur - dem magischen Realismus, dem miserabilismo, dem Auswalzen der Gewalt - empathisch und kompetent an seine Figuren heranführt und diese lebendig, verständlich, einmalig macht. Dabei entsteht das Porträt einer kleinbürgerlichen Familie, deren Mitglieder sehr aufeinander bezogen sind und sich unentwegt besuchen - und trotzdem einsame Menschen bleiben.Die Hauptpersonen des Romans, die ausführlich dargestellt werden, sind neben Horacio seine Brüder Elías (ein Schriftsteller) und Álvaro (Inhaber eines Lotteriebüros) sowie ihr Schwager, der Arzt Eladio. An Horacios Seite erleben wir seine Frau Margarita und seinen Sohn Jerónimo. Aber auch sekundäre Figuren - das Hausmädchen Carlina, der Bauer Pacho, Margaritas Schwester Martica, Elías' Frau Beatriz, der Schieber Carenalga, der Richter Ariel, Eladios Patienten - werden mit knappen, sicheren Strichen einprägsam gezeichnet. Eine besondere Rolle spielen die von Horacio liebevoll umsorgten Kühe: In einem Buch, in dem der Tod von Anfang an präsent ist, sind diese sich ständig reproduzierenden Tiere das Symbol des Lebens.Der Roman ist in Envigado angesiedelt, einem kleinen Ort an der Peripherie von Medellín, in den Jahren 1960/61, das heisst, an einer Zeitenwende: Es ist die Zeit der zunehmenden Industrialisierung, der beginnenden Bedrohung des ökologischen Gleichgewichts, der einsetzenden Emanzipation der Frau in Kolumbien. Es ist auch die Zeit des 'Atemholens' zwischen der politischen Violencia (1948-53) und der bevorstehenden Zerrüttung des Landes durch Guerrilla, Paramilitärs und narcotráfico.Um das Problem seines Landes zu charakterisieren, genügen dem Autor ein paar treffende Zeilen über die Untaten und das Ende einer Bande von Viehdieben, über den Verletzten aus der Bar von Añoranzas oder über die Bolívar-Statuen in den Parkanlagen. Einen Sterbenden aber in seinem letzten Jahr zu begleiten - das ist ein Thema, mit dem Tomás González die Grenzen Kolumbiens überschreitet und in die Weltliteratur vordringt.'Seit 'Der Oberst hat niemand,der ihm schreibt' habe ich nicht mehrso etwas Wunderbares gelesen.Carmen Balcells
Autorenporträt
Tomás González wurde 1950 in Medellín/Kolumbien geboren. Er studierte Philosophie, war Barmann in der Diskothek 'El goce pagano' (Der Heidenspass) in Bogotà, betrieb eine Fahrradmontage-Werkstatt in Miami und lebte 16 Jahre lang als Journalist und Übersetzer in New York. 2002 kehrte er nach Kolumbien zurück. Er veröffentlichte bisher vier Romane und je einen Band Lyrik und Erzählungen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.06.2005

Idylle unter Zeitdruck
Vor dem Bürgerkrieg: Tomás González schildert Kolumbien

Das Glück liegt in den Gräsern. Fette Halme, ein gut gefüllter Wassertrog, die Welt ist Weide und endet an der Koppel. Liegt, muß man ob solchen Sanftmuts fragen, das Unglück der Menschen nicht darin, daß sie nicht wie ihr Rindvieh sind?

Tomás González würde die Frage wohl bejahen. "Horacios Geschichte" heißt sein im kolumbianischen Original bereits im Jahr 2000 erschienener Roman, der Ochs und Kuh zwar nicht die zentralen Rollen zugedacht hat, ihren begnadeten Gleichmut aber als Form des Daseins inszeniert, die er, könnte er, wie er wollte, gern auch den menschlichen Protagonisten des Buches zugestände. Kann er aber nicht, denn vor allen Frieden hat sich in Kolumbien die Gewalt geschoben. Es ist darum ein doppelt schlechtes Zeichen, daß diese Gewalt als allererstes auf die Rindviecher niederfährt. Denn Viehdiebe sind unterwegs, keine gewöhnlichen, sondern solche, die auch das große Schlachten nicht scheuen: Deportiert wird zunächst einmal die ganze Herde. Doch weil die für den weiteren Transport zu groß ist, wird der Überschuß schlicht abgestochen. Wer aber vor Tieren keine Achtung hat, der hat sie auch vor Menschen nicht. Der Autor schreibt das Jahr 1960, Kolumbien ist dabei, aus dem Zustand brüchigen Friedens in das Bürgerkriegschaos von Mord und Totschlag zu kippen.

Noch aber ist es nicht soweit, noch hat sich die Gewalt als Norm nicht durchgesetzt. Statt dessen holt das Unglück die Protagonisten im Privaten ein. Eine der Figuren stürzt vom Pferd und bricht sich einen Halswirbel; eine andere stirbt an Leukämie; eine weitere ertrinkt im Meer; und Horacio, der Held des Romans, wird seinen dritten Herzinfarkt nicht überleben. Herbe Schläge prasseln auf Horacio und seine Familie nieder; daß sie trotzdem einigermaßen erträglich sind, liegt daran, daß das Schicksal sie schickt; jedenfalls sind sie nicht von Menschen gemacht. Wozu die wiederum es bringen, steht in jenen Tagen in der Zeitung zu lesen. Regierungstruppen "hatten kleine Kinder in die Luft geworfen und mit ihren Bajonetten aufgefangen, schwangeren Frauen den Bauch aufgeschlitzt, Anhänger der Liberalen gepfählt".

Solche Taten geben den Auftakt zu einem Drama, dem sich auch die kolumbianische Literatur nicht entziehen kann. Die Autoren sind herausgefordert; sie müssen auf die Schrecken reagieren. Die Frage ist nur, wie. Fernando Vallejo und der eine Generation jüngere Jorge Franco, zwei der bekanntesten Schriftsteller des Landes, bezeugen die Gewalt in ihren Büchern nicht nur, sie wollen sie überbieten. Drastisch und mit viel Sinn fürs Grobe suchen sie die Wirklichkeit zwischen zwei Buchdeckel zu pressen, ringen um eine Sprache, neben der die reale Gewalt blaß aussehen möge. Das kann nicht gelingen - die Schlagkraft des Stils ist schnell erschöpft, denn über den immer gleichen brachialen Sprachschatz kommt sie nicht hinaus. Haften bleibt wenig mehr als ein Gefühl des Unbehagens, gegründet weniger auf Entsetzen als auf Überdruß am ausgespienen Wort.

Tomás González weiß um die Schwächen des aggressiven Stils. Darum verwendet er ihn selten, präsentiert ihn indirekt, gefiltert etwa durch Zeitungsmeldungen. Da mag ein Wille zu Verdrängung am Werk sein, vielleicht aber auch schlicht der Drang zu nationaler Imagepflege: Gut anderthalb Jahrzehnte hat der 1950 geborene González in New York gelebt, ist also hinlänglich darüber im Bilde, was man im Ausland über seine lateinamerikanische Heimat weiß, jedenfalls zu wissen glaubt.

González' Kollege Alvaro Escobar-Molina hat es zuletzt getan, in seinem wunderbaren Roman "Der schlafende Berg". Wie González ist auch er ein Exilant, und wie sein Mitstreiter hat auch er die Handlung seines Buchs in die frühen vierziger Jahre gelegt, die Zeit weit vor dem nationalen Desaster, das mit der Ermordung des Politikers Jorge Eliécer Gaitán seinen Anfang nahm. Ein wunderbar anmutiges Erinnerungsbuch ist darüber entstanden, ohne Scheu vor aller Poesie.

Ganz so still kann Tomás González die Szenerie schon nicht mehr halten. Er gewährt der Idylle eine letzte Gnadenfrist, doch ist es allen in ihr angesichts des herannahenden Desasters spürbar mulmig zumute. Die Liebe des Schriftstellers zum Wort, die der Frauen zur Kosmetik, der Lausbuben zu dummen Streichen - Wert und Würde bezieht dieses harmlose Familieneinerlei aus dem Umstand, daß es bald nicht mehr so sein wird. Die Zeit drängt, und darum fasert die Geschichte trotz aller süßen Nichtigkeiten an den Rändern nicht auseinander. "Wie schön das ist, schade, verdammt noch mal", flucht Horacio zum Abschied, vom Tod schon in den Arm genommen. Ja, das Leben war mal schön in Kolumbien. So schön offenbar, daß man kaum weiß, ob González am Ende nicht doch ein Märchen erzählt hat.

Tomás González: "Horacios Geschichte". Aus dem Spanischen übersetzt von Peter Schultze-Kraft und Gert Loschütz unter Mitarbeit von Jan Weiz. Verlag edition 8, Zürich 2005. 172 S., geb., 18,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

" Rezensent Kersten Knipp hat Sympathien für dieses Buch und seine vielen "süßen Nichtigkeiten". Beschrieben werde das Leben in Kolumbien um das Jahr 1960, kurz bevor das Land "aus dem brüchigen Zustand des Friedens" in das Bürgerkriegschaos stürzte. Als Form des Daseins sieht der Rezensent besonders den "begnadeten Gleichmut" von Rindern inszeniert, was er allerdings nicht ohne Ironie und mit einigen Zweifeln beladen zu Protokoll gibt. Denn er ist unsicher, ob hier mit der Idylle nicht doch etwas übertrieben wird. Auch die Schicksalsschläge, die Held Horacio und seine Familie ereilen, scheinen etwas zu viel Tragik zu bieten. Trotzdem, das ist dem Ton der Rezension anzumerken, hat sich der Roman ausgesprochen gut lesen lassen.

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