Die vielfach konstatierte Asymmetrie zwischen ökonomischer und sozialer europäischer Integration hat durch die Eurokrise(n) weiter zugenommen. Neben der wachsenden grenzüberschreitenden Reichweite institutionalisierter Regulationsstrukturen im Feld der europäischen Wirtschaftspolitik ist die sozialpolitische Dimension auf supranationaler Ebene unterentwickelt. Lenkt man die Perspektive von der Ebene der Systemintegration auf Prozesse der europäischen Sozialintegration der BürgerInnen und Organisationen, werden aber zunehmende transnationale Interaktionen, Verflechtungen und Relevanzstrukturen zwischen wirtschaftlichen, politischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren - und somit horizontale Europäisierungsprozesse - sichtbar. Im Fokus dieses Sammelbandes stehen grenzüberschreitende Austauschprozesse und Handlungsorientierungen von kollektiven Akteuren (Gewerkschaften, Euro-Betriebsräte, Unternehmen, etc.) im Feld der Arbeitsbeziehungen und deren möglicher Beitrag, die bestehende Inkongruenz von ökonomischer und sozialer Integration innerhalb der EU zu reduzieren oder zu verstärken. Die Beiträge dieses Sammelbandes orientieren sich an zwei Zielsetzungen: Zum einen wird eine analytische Perspektive auf Prozesse der transnationalen Vergesellschaftung im Bereich der Arbeitsbeziehungen entwickelt, die sich auf neo-institutionalistisch inspirierte feldtheoretische Annahmen stützt. Zum anderen wird die normative Perspektive bearbeitet, dass sich durch eine zunehmende europäische Sozialintegration auch die Möglichkeitsräume für eine vertiefte Systemintegration, das heißt eines gemeinschaftlichen Solidarsystems in der EU, eröffnen könnten
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.06.2015Gewerkschaften in Europa
Von Vorteilen und Vorurteilen
Die Europäisierung der Wirtschaftsbeziehungen macht den Gewerkschaften in zweierlei Hinsicht zu schaffen. Zum einen müssen sie ausländische Arbeitsmigranten integrieren und mitvertreten, um ihren Organisationsgrad zu halten. Das aber kann Probleme mit alteingesessenen Mitgliedern schaffen. Zum anderen werden Gewerkschaften zu europäischen Akteuren, wenn multinationale Unternehmen - wie die Automobilindustrie - verschiedene Standorte gegeneinander "ausspielen" möchten.
Hier vermögen es Arbeitnehmervertreter noch nicht in ausreichendem Maße, nationale Sichtweisen zu verlassen und eine supranationale Brille aufzusetzen. Diese Problematiken werden in zwei aktuellen Büchern anschaulich beschrieben. Deutlich wird, dass die gewünschte Europäisierung zwar institutionell schon vor Jahrzehnten begonnen wurde, in den Köpfen der Arbeitnehmervertreter aber noch nicht endgültig verankert ist.
So weist Torben Krings von der Johannes Kepler Universität in Linz darauf hin, dass Gewerkschaften zwar eine Tradition internationaler Solidarität haben, aber gleichzeitig in unterschiedliche nationale Gesellschaften eingebettet seien und dazu tendieren, "primär die Interessen ihrer nationalen Mitgliedschaft zu repräsentieren". Das sei auch der Grund dafür gewesen, weshalb sie in den Jahren zwischen 1950 und 1970 eher ablehnend auf die Initiative von Arbeitgebern und Regierungen reagierten, ausländische Arbeitskräfte zu rekrutieren.
Krings bescheinigt den Gewerkschaften aber Lernfähigkeit und erläutert in dem von Susanne Pernicka herausgegebenen Band über die "Horizontale Europäisierung im Feld der Arbeitsbeziehungen", dass der Arbeitskräftemangel die Anwerbung von Migranten notwendig gemacht habe. Das hätten auch die Arbeitnehmervertreter eingesehen und sich sodann auf die Losung "Gleiches Geld für gleiche Arbeit" verständigt, um ein Unterlaufen von Tarifverträgen und Arbeitsstandards zu verhindern.
In diesem Zusammenhang lohnt ein Blick nach Luxemburg. Dort sind knapp die Hälfte aller Arbeitskräfte Grenzgänger aus Belgien, Frankreich oder Deutschland - und das seit vielen Jahrzehnten: erst in der Stahlindustrie, dann für Dienstleistungen, inzwischen auch beim Finanzplatz. Hinzu kommen die arbeitenden Ausländer, die im Großherzogtum wohnen. Nirgendwo sonst in der Europäischen Union ist der Anteil ausländischer Arbeitskräfte so groß wie im Großherzogtum.
Der Wissenschaftler Adrien Thomas vom "Luxembourg Institute of Socio-Economic Research" (LISER) stellt in einer aufschlussreichen Abhandlung dar, welche Strategien Gewerkschaften wählten, um Ausländer an ihre Organisation zu binden. Entsprechende Aktivitäten begannen bereits in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als Immigranten nicht mehr nur als Arbeitnehmer, sondern auch als Menschen mit Familie gesehen wurden.
Ein kommunales Wahlrecht für Ausländer wurde bereits damals von der größten Gewerkschaft OGBL gefordert. Sie schuf zudem Betreuungs- und Servicestrukturen auch für Grenzgänger. "Der grenzüberschreitende Arbeitsmarkt funktionierte nicht einwandfrei", erläutert Thomas. Bis heute gebe es Schwierigkeiten, die verschiedenen Sozialsysteme in Europa zu koordinieren, etwa bei der Besteuerung von Arbeitnehmern oder dem Anspruch von Ausländern auf Kindergeld. Xenophobie war in Luxemburg aber nie ein Thema. "Niemand stellte oder stellt die Notwendigkeit der Immigration in Frage", berichtet Thomas. Das ist ein Standortvorteil gegenüber der Schweiz und anderen Ländern.
Denn kulturelle Unterschiede innerhalb Europas erschweren oft die supranationale Arbeit, etwa in den europäischen Betriebsräten. Dies ist die Quintessenz des Buches von Pernicka, die am Institut für Soziologie der Linzer Universität lehrt. Dass Gewerkschafter am polnischen Opel-Standort Gliwice im Jahr 2010 zugunsten des Opelwerkes in Bochum kurzfristig auf Produktionseinheiten verzichteten, um drei Monate Vollarbeit am deutschen Standort und dadurch den Antrag auf weitere Kurzarbeit zu ermöglichen, war ein seltenes Beispiel transnationaler Solidarität. In der einschlägigen Forschung wird in der Automobilindustrie eher eine zunehmend nationale Ausrichtung gewerkschaftlicher Strategien konstatiert. Statt gemeinsam die Last zu tragen, heißt es nun: "Jedermann für sich selbst."
Besonders lesenswert ist die Abhandlung von Stefanie Hürtgen vom Frankfurter Institut für Sozialforschung. Im Rahmen ihrer empirischen Forschung hat sie Interviews mit Arbeitnehmervertretern in verschiedenen Ländern geführt und kommt zu ambivalenten Ergebnissen. Manchmal ginge die Abgrenzung von nationalen Kulturen mit stereotypen, mitunter auch rassistischen Vorurteilen einher. Dies habe vor allem die Funktion, dem eigenen Bestreben zur Standortsicherung einen legitimatorischen Rahmen zu geben. Im Konkurrenzkampf sollen Nation, Kultur und Tradition einen Vorteil bringen. So beschreibt eine ungarische Gewerkschafterin die Belegschaft im Osten des Landes, mit der sie im Standortkonflikt steht, als "rückständige Bauern, die kaum mit den Anlagen umgehen können".
Mehrere deutsche Gewerkschafter bezeichneten ihre ausländischen Kollegen als "etwas minderbemittelt" und noch nicht an wirklich industrielles Arbeiten gewöhnt. Solche Aussagen schockieren. Zur Wahrheit gehört aber auch: Oft wissen Gewerkschafter genauso gut wie Arbeitgeber, in welchen Werken ordentlich gearbeitet wird und wo das nicht der Fall ist. Sich für Kollegen ohne Motivation einsetzen zu müssen mag nicht immer eine Freude sein. Zumal die Handlungsspielräume für eine grenzüberschreitende Koordinierung der Tarifpolitik in den letzten Jahren deutlich gesunken sind, wie Pernicka resigniert feststellt.
JOCHEN ZENTHÖFER
Susanne Pernicka (Hrsg.): Horizontale Europäisierung im Feld der Arbeitsbeziehungen. Springer VS, Wiesbaden 2015, 228 Seiten, 22,99 Euro
Adrien Thomas: Les Frontières de la solidarité. Presses Universitaires de Rennes, Rennes 2015, 135 Seiten, 12 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von Vorteilen und Vorurteilen
Die Europäisierung der Wirtschaftsbeziehungen macht den Gewerkschaften in zweierlei Hinsicht zu schaffen. Zum einen müssen sie ausländische Arbeitsmigranten integrieren und mitvertreten, um ihren Organisationsgrad zu halten. Das aber kann Probleme mit alteingesessenen Mitgliedern schaffen. Zum anderen werden Gewerkschaften zu europäischen Akteuren, wenn multinationale Unternehmen - wie die Automobilindustrie - verschiedene Standorte gegeneinander "ausspielen" möchten.
Hier vermögen es Arbeitnehmervertreter noch nicht in ausreichendem Maße, nationale Sichtweisen zu verlassen und eine supranationale Brille aufzusetzen. Diese Problematiken werden in zwei aktuellen Büchern anschaulich beschrieben. Deutlich wird, dass die gewünschte Europäisierung zwar institutionell schon vor Jahrzehnten begonnen wurde, in den Köpfen der Arbeitnehmervertreter aber noch nicht endgültig verankert ist.
So weist Torben Krings von der Johannes Kepler Universität in Linz darauf hin, dass Gewerkschaften zwar eine Tradition internationaler Solidarität haben, aber gleichzeitig in unterschiedliche nationale Gesellschaften eingebettet seien und dazu tendieren, "primär die Interessen ihrer nationalen Mitgliedschaft zu repräsentieren". Das sei auch der Grund dafür gewesen, weshalb sie in den Jahren zwischen 1950 und 1970 eher ablehnend auf die Initiative von Arbeitgebern und Regierungen reagierten, ausländische Arbeitskräfte zu rekrutieren.
Krings bescheinigt den Gewerkschaften aber Lernfähigkeit und erläutert in dem von Susanne Pernicka herausgegebenen Band über die "Horizontale Europäisierung im Feld der Arbeitsbeziehungen", dass der Arbeitskräftemangel die Anwerbung von Migranten notwendig gemacht habe. Das hätten auch die Arbeitnehmervertreter eingesehen und sich sodann auf die Losung "Gleiches Geld für gleiche Arbeit" verständigt, um ein Unterlaufen von Tarifverträgen und Arbeitsstandards zu verhindern.
In diesem Zusammenhang lohnt ein Blick nach Luxemburg. Dort sind knapp die Hälfte aller Arbeitskräfte Grenzgänger aus Belgien, Frankreich oder Deutschland - und das seit vielen Jahrzehnten: erst in der Stahlindustrie, dann für Dienstleistungen, inzwischen auch beim Finanzplatz. Hinzu kommen die arbeitenden Ausländer, die im Großherzogtum wohnen. Nirgendwo sonst in der Europäischen Union ist der Anteil ausländischer Arbeitskräfte so groß wie im Großherzogtum.
Der Wissenschaftler Adrien Thomas vom "Luxembourg Institute of Socio-Economic Research" (LISER) stellt in einer aufschlussreichen Abhandlung dar, welche Strategien Gewerkschaften wählten, um Ausländer an ihre Organisation zu binden. Entsprechende Aktivitäten begannen bereits in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als Immigranten nicht mehr nur als Arbeitnehmer, sondern auch als Menschen mit Familie gesehen wurden.
Ein kommunales Wahlrecht für Ausländer wurde bereits damals von der größten Gewerkschaft OGBL gefordert. Sie schuf zudem Betreuungs- und Servicestrukturen auch für Grenzgänger. "Der grenzüberschreitende Arbeitsmarkt funktionierte nicht einwandfrei", erläutert Thomas. Bis heute gebe es Schwierigkeiten, die verschiedenen Sozialsysteme in Europa zu koordinieren, etwa bei der Besteuerung von Arbeitnehmern oder dem Anspruch von Ausländern auf Kindergeld. Xenophobie war in Luxemburg aber nie ein Thema. "Niemand stellte oder stellt die Notwendigkeit der Immigration in Frage", berichtet Thomas. Das ist ein Standortvorteil gegenüber der Schweiz und anderen Ländern.
Denn kulturelle Unterschiede innerhalb Europas erschweren oft die supranationale Arbeit, etwa in den europäischen Betriebsräten. Dies ist die Quintessenz des Buches von Pernicka, die am Institut für Soziologie der Linzer Universität lehrt. Dass Gewerkschafter am polnischen Opel-Standort Gliwice im Jahr 2010 zugunsten des Opelwerkes in Bochum kurzfristig auf Produktionseinheiten verzichteten, um drei Monate Vollarbeit am deutschen Standort und dadurch den Antrag auf weitere Kurzarbeit zu ermöglichen, war ein seltenes Beispiel transnationaler Solidarität. In der einschlägigen Forschung wird in der Automobilindustrie eher eine zunehmend nationale Ausrichtung gewerkschaftlicher Strategien konstatiert. Statt gemeinsam die Last zu tragen, heißt es nun: "Jedermann für sich selbst."
Besonders lesenswert ist die Abhandlung von Stefanie Hürtgen vom Frankfurter Institut für Sozialforschung. Im Rahmen ihrer empirischen Forschung hat sie Interviews mit Arbeitnehmervertretern in verschiedenen Ländern geführt und kommt zu ambivalenten Ergebnissen. Manchmal ginge die Abgrenzung von nationalen Kulturen mit stereotypen, mitunter auch rassistischen Vorurteilen einher. Dies habe vor allem die Funktion, dem eigenen Bestreben zur Standortsicherung einen legitimatorischen Rahmen zu geben. Im Konkurrenzkampf sollen Nation, Kultur und Tradition einen Vorteil bringen. So beschreibt eine ungarische Gewerkschafterin die Belegschaft im Osten des Landes, mit der sie im Standortkonflikt steht, als "rückständige Bauern, die kaum mit den Anlagen umgehen können".
Mehrere deutsche Gewerkschafter bezeichneten ihre ausländischen Kollegen als "etwas minderbemittelt" und noch nicht an wirklich industrielles Arbeiten gewöhnt. Solche Aussagen schockieren. Zur Wahrheit gehört aber auch: Oft wissen Gewerkschafter genauso gut wie Arbeitgeber, in welchen Werken ordentlich gearbeitet wird und wo das nicht der Fall ist. Sich für Kollegen ohne Motivation einsetzen zu müssen mag nicht immer eine Freude sein. Zumal die Handlungsspielräume für eine grenzüberschreitende Koordinierung der Tarifpolitik in den letzten Jahren deutlich gesunken sind, wie Pernicka resigniert feststellt.
JOCHEN ZENTHÖFER
Susanne Pernicka (Hrsg.): Horizontale Europäisierung im Feld der Arbeitsbeziehungen. Springer VS, Wiesbaden 2015, 228 Seiten, 22,99 Euro
Adrien Thomas: Les Frontières de la solidarité. Presses Universitaires de Rennes, Rennes 2015, 135 Seiten, 12 Euro
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