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Unser täglicher Umgang mit Medien ist durch eine bemerkenswerte Konjunktur des Taktilen geprägt. Überall und immerfort berühren wir Smartphones und Tablets, halten sie fest, schnallen sie an, tippen behutsam auf ihre Oberflächen und sind aufmerksam für ihre Vibrationen. Doch nicht nur wir sind es, die die Medien in zunehmendem Maße berühren. Im Gegenzug sind es auch die Medien, die uns abtasten : von Drucksensoren in Autositzen über Bewegungsmelder vor automatischen Türen bis hin zu Körperscannern und Fitnessarmbändern. Henning Schmidgen antwortet darauf, indem er ein exemplarisches…mehr

Produktbeschreibung
Unser täglicher Umgang mit Medien ist durch eine bemerkenswerte Konjunktur des Taktilen geprägt. Überall und immerfort berühren wir Smartphones und Tablets, halten sie fest, schnallen sie an, tippen behutsam auf ihre Oberflächen und sind aufmerksam für ihre Vibrationen. Doch nicht nur wir sind es, die die Medien in zunehmendem Maße berühren. Im Gegenzug sind es auch die Medien, die uns abtasten : von Drucksensoren in Autositzen über Bewegungsmelder vor automatischen Türen bis hin zu Körperscannern und Fitnessarmbändern. Henning Schmidgen antwortet darauf, indem er ein exemplarisches 'Dazwischen' genauer betrachtet: Horn ist ein natürliches Material, aber auch ein künstliches Objekt. Es steht an der Grenze zwischen Innenwelt und Außenwelt, ist Zierde und Schmuck, Werkzeug und Panzer. Im Dialog mit Künstlern, Wissenschaftlern und Philosophen, die sich mit Posthörnern und Schalltrichtern, mit Hornhäuten, Gedächtniskegeln und Rhinozerossen beschäftigt haben, entwirft Henning Schmidgen ein Panorama unserer taktilen Kultur, in dem die Gegenseite der Medien klar zum Vorschein kommt.
Autorenporträt
Henning Schmidgen, 1965 in Münster geboren, studierte Psychologie, Philosophie und Linguistik in Berlin und Paris, promovierte über Félix Guattari und war anschließend Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, dann Professor für Medienästhetik an der Universität Regensburg. Seit 2014 ist er Professor für Theorie medialer Welten an der Bauhaus- Universität Weimar.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.04.2018

Folgt der Spur der Hörner
Henning Schmidgen prüft, was Medien mit uns machen

Am 17. Dezember 1955 fährt vor der Pariser Sorbonne ein weißer Rolls-Royce vor. Auf der Rückbank des Wagens stapelt sich Blumenkohl. Salvador Dalí, ehemaliger Surrealist, der sich nach eigenen Angaben damals gerade in seiner rhinozerontischen Phase befindet, ist angereist, um einen Vortrag über Jan Vermeers Gemälde "Die Spitzenklöpplerin" zu halten. Einst, als Kind, waren ihm bei der Betrachtung des Bildes - während eine Nachtigall sang - Nashörner erschienen. Dali attestiert dem Werk vor dem Pariser Publikum eine geradezu gewalttätige Kraft, weil eine nicht gemalte, aber suggerierte Stecknadel ihn immerzu steche. Und er endet: Wer etwas im Kopf habe oder wem etwas zu Kopf gestiegen sei, könne "nur von der Spitzenklöpplerin auf die Sonnenblume, von der Sonnenblume aufs Rhinozeros und vom Rhinozeros auf den Blumenkohl" kommen.

So weit, so konfus. Dass es sich bei diesen Ausführungen nicht um allerlei Nonsens aus dem Geist eines exzentrischen Künstler-Ichs handelte, versucht der Medienwissenschaftler Henning Schmidgen neben vielem anderen jetzt in seinem neuen Buch "Horn oder Die Gegenseite der Medien" darzulegen.

Nun muss, wer Dali verstehen will, allerdings erst mal Schmidgens kryptischen Titel verstehen. Der erklärt sich so: Täglich drücken, tippen oder wischen wir auf elektronischen Medien herum, Notebooks, Tablets, Handys, Smartwatches. Doch nicht nur Menschen berühren Medien, auch Medien berühren Menschen, in gewaltigem Ausmaß und mit ganz eigenen Tastsinnen. Sie beobachten uns, durchleuchten uns, verfolgen uns, mit elektromagnetischen Wellen und Algorithmen. Diese Umkehrung, diese "Gegenseite der Medien" und ihre Taktilität nimmt Schmidgen in den Blick. Wobei es ihm zum einen darum geht, "Brückenschläge zwischen Medientheorie und Medienkunst zu erkunden" (weshalb das Buch auch als fiktive Ausstellung angelegt ist), zum anderen darum, dabei einem ganz bestimmten Leitmotiv zu folgen: Dem des Horns, also allem, was sich unter diesem Begriff subsummieren lässt: Nashörner, Posthörner, Einhörner, Megafone, Tröten, Trinkhörner.

In einem der fünf als Ausstellungsräume konzipierten Kapiteln weist Schmidgen nach, wie intensiv sich Dali mit der Morphologie der Natur und ihrer Wiederkehr in der Kunst beschäftigte. Besonders mit der logarithmischen Spirale, die mit jeder neuen Umdrehung den Abstand zu ihrem Zentrum - man denke an ein Schneckenhaus - um den gleichen Faktor vergrößert. Weil Vermeers "Spitzenklöpplerin" laut Dali eine solche Spirale zugrunde liegt, assoziierte er Sonnenblumen, Horn und Blumenkohl - alles in der Natur vorkommende logarithmische Spiralen. Schmidgen berichtet, wie Dali, um sich der Taktilität von Vermeers "Spitzenklöpplerin" weiter anzunähern, einmal im Zoo vor dem Nashorn-Gehege eine Kopie des Bildes malte (zu sehen waren lauter schwebende Hörner), dann im Nashorn-Gehege eine vergrößerte, originalgetreue Reproduktion baumeln ließ, wobei ihm bewusst wurde, dass die Spitzenklöpplerin das Nashorn im Kampf besiegen würde. Und wie er schließlich, bewaffnet mit dem lanzenartigen Horn eines Narwals, von hinten auf diese Reproduktion zugestürmt war und sie durchstochen hatte.

All das weiß Schmidgen nicht als durchgeknalltes Happening zu deuten, sondern so: "In gewisser Weise wird der Maler hier selbst zum Nashorn, das sich auf einen taktilen Kampf mit der ,Spitzenklöpplerin' einlässt und es durch eine List, nämlich den Angriff von hinten, doch noch überwindet."

Außer von Dali erzählt Schmidgen auch von Walter Benjamin, bei dem nicht einzelne Bilder den Menschen berühren oder traktieren, sondern ganze moderne Städte, von Sigmund Freud und dessen Überlegungen zu einer gehörnten Moses-Skulptur, von William Kentridge, in dessen Werken viele bedeutungsvolle Hörner vorkommen, oder dem Medienwissenschaftler Marshall McLuhan, der das Fernsehen nicht als Erweiterung des Sehens, sondern des Tastens verstand, sich allerdings für Hörner gar nicht interessierte. Am Ende hat man sich wie eine logarithmische Spirale tiefer und tiefer in den Text hineingedreht, hat manch Verblüffendes erfahren, hat vieles dreimal gelesen, um den abstrakten Ausführungen halbwegs zu folgen, und sieht den Wald vor lauter Hörnern nicht: Wozu, noch mal, war das alles gut?

Über eine Installation von Kentridge schreibt Schmidgen, die ungezählten Verweise, mit denen das Werk aufwartet, liefen Gefahr, es zu überfrachten. Was der Autor für Kentridges Arbeit befürchtet, ist ihm mit der eigenen gelungen: Die ungezählten Verweise, mit denen das Buch aufwartet, mögen vielleicht den einen oder anderen Experten erfreuen, überfrachten es für alle anderen Leser aber so sehr, dass man am Ende doch recht ermüdet ist.

KATHARINA RUDOLPH

Henning Schmidgen:

"Horn oder Die Gegenseite der Medien".

Matthes & Seitz, Berlin 2018. 344 S., Abb., geb., 40,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Katharina Rudolph geht ermüdet aus der Lektüre von Henning Schmidgens Buch hervor. Das liegt einerseits an den vielen Verweisen, andererseits an dem verwirrenden Leitmotiv des Horns, mit dem der Autor sein laut Rudolph als fiktive Ausstellung konzipiertes Buch durchzieht. Der angepeilte Brückenschlag zwischen Medientheorie und Medienkunst und die Beschäftigung mit Dalis Verständnis der Morphologie der Natur und ihrem Auftauchen in der Kunst oder auch mit Freuds Überlegungen zu einem gehörnten Moses geben der Rezensentin mehr als ein Rätsel auf. Verblüffendes erfährt sie dabei, fragt sich aber am Ende auch, wozu das alles gut sein soll.

© Perlentaucher Medien GmbH