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»Fear is a man's best friend« lautet das Motto von Ralf Rothmanns Erzählungsband, und tatsächlich ist es oft die Angst, die seinen Figuren aus der Not hilft. Der alternde Dozent, dem während einer Autopanne in der mexikanischen Wüste die Logik der Liebe aufgeht, die Geigerin, die eine finale Diagnose erhält, oder das Kind im Treppenflur, das seine Prügelstrafe erwartet - sie alle erfahren Angst auch als spiegelverkehrte Hoffnung. Und sogar in der erschütternden Titelgeschichte, dem Gespräch des Schriftstellers Isaak Babel mit Wassili Blochin, seinem Moskauer Henker, für den eine Pistolenkugel…mehr

Produktbeschreibung
»Fear is a man's best friend« lautet das Motto von Ralf Rothmanns Erzählungsband, und tatsächlich ist es oft die Angst, die seinen Figuren aus der Not hilft. Der alternde Dozent, dem während einer Autopanne in der mexikanischen Wüste die Logik der Liebe aufgeht, die Geigerin, die eine finale Diagnose erhält, oder das Kind im Treppenflur, das seine Prügelstrafe erwartet - sie alle erfahren Angst auch als spiegelverkehrte Hoffnung. Und sogar in der erschütternden Titelgeschichte, dem Gespräch des Schriftstellers Isaak Babel mit Wassili Blochin, seinem Moskauer Henker, für den eine Pistolenkugel die letzte und höchste Wahrheit ist, lässt uns der Autor teilhaben an der Einsicht, dass es eine höhere gibt.
Autorenporträt
Ralf Rothmann wurde am 10. Mai 1953 in Schleswig geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach der Volksschule (und einem kurzen Besuch der Handelsschule) machte er eine Maurerlehre, arbeitete mehrere Jahre auf dem Bau und danach in verschiedenen Berufen (unter anderem als Drucker, Krankenpfleger und Koch). Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Er lebt seit 1976 in Berlin.
Rezensionen
»Ruhrgebiet trifft Johann Peter Hebel: Ralf Rothmanns meisterhafter Erzählungsband Hotel der Schlaflosen.« Richard Kämmerlings DIE WELT 20201219

Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension

Richard Kämmerlings folgt Ralf Rothmann gern in seine Heimat im Ruhrgebiet. Rothmanns Erzählungen bieten dazu erneut jede Menge Gelegenheit, etwa wenn der Autor Kindheits- und Jugenderlebnisse erinnert. Aber auch Literaturgeschichtliches kommt im Band vor, eine Variation von Johann Peter Hebels Kalendergeschichte "Unverhofftes Wiedersehen". Ein "breites Spektrum" an Schauplätzen und Themen, erklärt Kämmerlings, von der Arbeiterwelt der Sechziger bis zum Westberlin der Achtziger, Sozialstudien, Meditationen über den Tod und eine Geschichte über den Henker von Isaak Babel, die Kämmerlings besonders gefallen hat, auch wenn sie die "tiefste Finsternis" des Buches markiert, wie er meint.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2020

Aus der Tiefe der Zeit

Spiegelbilder eines selbstbewussten Könners: In seinem Erzählungsband "Hotel der Schlaflosen" zieht Ralf Rothmann alle Register.

Von Andreas Kilb

Ein Buch mit Erzählungen ist wie ein Theaterabend aus Einaktern. Alle halbe Stunde fängt alles neu an. Es gibt Figuren, aber keine, an die man sich gewöhnt. Die Tragödien, die Satyrspiele, die Monologe rasen vorbei. Am Ende bleibt der Eindruck einer Ganzheit, die nicht zusammenhalten will, weil jedes ihrer Teile schon selbst ein Ganzes ist. Ihren Geist, wenn es ihn gibt, trifft man am ehesten durch Vergleiche: hier ein Leitmotiv, dort ein bekanntes Gesicht. Wie das gemischte Bühnenprogramm tendiert auch die Erzählsammlung zur Typologie.

Beginnen wir also, um die Erzählkunst von Ralf Rothmann in dem Band "Hotel der Schlaflosen" zu schildern, mit einer Liste der handelnden Personen. Da ist eine Violinistin aus Berlin, die in Zürich eine tödliche Diagnose erhalten hat. Ein Maurer am Bau, der eine Affäre mit der Tochter seines Oberpoliers hat. Ein Mädchen aus der Hauptstadt, dessen Vater in Brandenburg eine Pferdezucht betreibt. Ein Dozent an der Universität von La Paz in Mexiko, der auf der Rückreise aus Kalifornien eine deutsche Anhalterin und später zwei junge Mexikaner mitnimmt. Ein Bestattungsunternehmer im Ruhrgebiet, der unter den ausgegrabenen Leichen eines lang vergangenen Bergwerksunglücks seinen eigenen Vater entdeckt.

Dazu eine beziehungsgeschädigte Soziologin, ein Junge aus dem Ruhrgebiet an einem Sommertag in den sechziger Jahren, ein Mädchen aus der deutschen Unterschicht (als sie noch so hieß), ein Maler, der an der Ostsee das Feriendorf seiner Kindheit sucht. Und ein NKWD-Offizier aus der Butyrka, dem Moskauer Gefängnis, in dem während des stalinistischen Terrors mehr als siebentausend Häftlinge erschossen und unzählige gefoltert wurden. Dieser Mann, er heißt Wassili, ist der Ich-Erzähler der Titelgeschichte und die Figur, die aus der Liste herausfällt. Denn seine Geschichte liegt gut achtzig Jahre zurück und damit weit vor der Erfahrungswelt des Autors Rothmann. An dem Tag im Januar 1940, an dem die Erzählung spielt, empfängt, bewirtet und tötet Wassili den Schriftsteller Isaak Babel.

Nachdem er den Autor der "Reiterarmee" aus der Zelle ins Verhörzimmer geholt hat, schenkt Wassili ihm gönnerisch ein Glas Wodka ein. "Aber dieser armselige Poetenrest hob nicht einmal den Kopf. Stumm starrte er auf das Teppichmuster, die Ranken und Rauten, und bewegte die Zehen in den löchrigen Strümpfen. Auch ein Finger der Hand, die vom Tisch hing, zuckte, als würde er winzige elektrische Impulse aussenden; man konnte noch den Abdruck des Eherings sehen."

Die Passage ist typisch für Rothmanns Erzählstil. Sie erklärt, warum man sich an seinen Geschichten nie sattlesen kann, aber auch, warum seiner Prosa gelegentlich ein gewisser Talmiglanz anhaftet. Es gibt in der deutschen Literatur derzeit keinen Autor, der sich so gut auf szenische Schilderungen versteht. Babels Hände sind bei der Folter zerschlagen worden, seine Schuhe wurden geraubt, aber das erzählende Auge bemerkt auch noch den Abdruck des Eherings, den man ihm vom Finger gezogen hat. An einer anderen Stelle heißt es über Wassilis Dienstpistole, eine Walther PPK, wie sie auch der Kino-Agent James Bond verwendet, man könne "dreioder vierhundert Volksfeinde an einem Tag damit erledigen, und sie fühlt sich nicht heißer an als eine von diesen Pellkartoffeln, die man den Kindern in die Manteltasche steckt, als Heizung für den Schulweg". Knapper, präziser und atmosphärisch treffender kann man das nicht sagen.

Die Gefahr dieses virtuosen Schreibens liegt eben in seiner Virtuosität. Es passt sich allen Gegenständen und Situationen fließend an, und manchmal kann man nur staunen, in wie viele verschiedene Figuren der Stimmenimitator Rothmann zu schlüpfen vermag. Wer mit den Romanen und Erzählbänden des Autors vertraut ist, wird viele Schauplätze dieses Bandes wiedererkennen, den Pferdestall, das Krankenhaus, die Baustelle, die Vorhalle des Bergwerks, die Dreharbeiten zu einem Mauerfilm in Berlin, aber es macht doch einen Unterschied, ob einer solche Orte und Zeiten mühsam konstruiert oder, wie Rothmann, mit einem einzigen Satz heraufbeschwört: "Hier und da standen Milchflaschen oder lagen Brötchentüten vor den Türen, aus der Kirche klang leise Orgelmusik herüber, und schweigend passierten wir den Sportplatz, wo noch Tau auf dem Rasen funkelte und ein vergessenes Turnhemd auf der Aschenbahn lag."

Manchmal aber geht die Beschwörung schief. In der siebten von elf Erzählungen dieses Bandes telefoniert Julia, die von Marcel, einem Kunsthistoriker, verlassen wurde, mit einer früheren Mitbewohnerin und blättert dabei in den Notizen ihres Expartners, doch der Dialog wirkt hölzern und fernsehhaft, die kunstphilosophische Begleitmusik übertrieben pathetisch, die Schlusspointe fast billig. Umso ergreifender ist die folgende Geschichte, die vom tödlich endenden Besamungsversuch auf einem Reiterhof handelt und in der, wie oft bei Rothmann, so viel mehr mitklingt als nur das, was berichtet wird - etwa die Angst der jugendlichen Erzählerin, vor ihrem Vater, der das Gestüt betreibt, zu versagen, oder die Verachtung der Ostdeutschen für die reichen Ausflügler aus West-Berlin, auf deren Geld sie zugleich angewiesen sind. Über die unglückliche Reiterin, die von einem Pferdehuf getroffen am Boden liegt, heißt es, ihr Gesicht sehe aus, "als würde sie uns zwar noch anblicken, aber aus einem gesprungenen Spiegel heraus". Diesen gebrochenen Blick haben viele Figuren Rothmanns, lebendige wie tote, und oft sind es gerade die Toten, welche die Lebenden über sich selbst aufklären. Der Tod sei ein elender Stümper, schimpft der Bestattungsunternehmer vor der aus dem Zechenstollen geborgenen, durch Kupfersulfat konservierten Leiche seines Vaters. Auf Rothmanns Erzählungen trifft das Gegenteil zu: Sie sind sprechende Spiegelbilder eines selbstbewussten Könners.

Ralf Rothmann: "Hotel der Schlaflosen". Erzählungen.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 206 S., geb., 22,- [Euro].

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