Als der Pulitzer-Preisträger Will Navidson mit seiner Frau und den beiden Kindern in das Haus zieht, ahnt er nicht, wie hier sein Leben aus den Fugen geraten wird. Ganz beiläufig filmt er die alltäglichen Vorgänge in den Zimmern und Fluren; ganz beiläufig muss er feststellen, dass dieses Haus über Räume verfügt, die kein Grundriss verzeichnet.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2007Alle Warnungen sind zwecklos - was wir suchen, ist Sinn
Im Zentrum des Labyrinths wartet auf jeden Leser das eigene Ungeheuer: Mark Z. Danielewskis unheimliches Romangebäude / Von Richard Kämmerlings
Wenn man dieses Buch bis zur letzten Seite gelesen hat, ist es noch lange nicht zu Ende. Denn man muss erst wieder herausfinden, und das geht nur, indem man das Rätsel löst, das tief in ihm verborgen ist. Es wird allerdings nicht für jeden Leser das gleiche Rätsel sein, vielleicht sind es auch mehrere oder viele. Doch dass für jedes einzelne davon irgendwo, in irgendeiner der vierhundertfünfzig Fußnoten oder in einem scheinbar nebensächlichen Stück der gut hundertdreißig Seiten Anhang oder sogar im grotesk ausführlichen Index ein Schlüssel zu finden ist - davon ist man überzeugt. Oder ist man nur davon besessen?
"House of Leaves" von Mark Z. Danielewski ist ein unheimliches Buch, schon der Schutzumschlag sagt es und warnt den Leser vor dem Betreten. Der Umschlag hat recht, doch wem nützt es? Denn was das bedeutet, wo die Falle liegt, weiß man erst, wenn man selbst längst so tief verstrickt ist, dass auch eine noch so lange Rezension nicht mehr helfen kann. Denn "House of Leaves" ist ein Buch über das Lesen selbst, es erzählt von ebenden Erfahrungen, die der Leser macht, während er die Hauptfiguren bei ihrem Gang durch das Labyrinth begleitet. Am Ende wird er sich ebenso wie sie hoffnungslos darin verirrt haben und dennoch davon überzeugt sein, den Ausgang, die Lösung, die letzte Bedeutung finden zu können - wenn er nur noch gründlicher, noch tiefer sucht.
Natürlich, denn sonst würde man sich ja gar nicht darauf einlassen, ist dieses Buch noch vieles andere: Wenn David Foster Wallace mit "Infinite Jest" (1996) den letzten großen Roman des zwanzigsten Jahrhunderts geschrieben hat, dann Danielewski den ersten des einundzwanzigsten. "House of Leaves", im amerikanischen Original 2000 erschienen, ist Familienroman, Horrorthriller, Literaturwissenschaftssatire, kulturhistorischer Essay, Junkie-Story, Mythenspiel, Ehedrama, Erzählexperiment, Snuff-Gewaltporno und zugleich die ironische Reflexion all dessen: ein metafiktionaler, postmoderner Hypertextroman, der all die Computer-, Netz- und Rhizom-Metaphern einlösen will, von der die Literaturtheorie der letzten Jahrzehnte immer nur träumte. Ein Jahrhundertroman also. Und ein Haus. Doch dazu später.
Die innerste Schicht dieses Erzähluniversums ist ein Film, genannt "The Navidson Record". Darin schildert der Fotoreporter und Pulitzer-Preisträger Will Navidson die mysteriösen, grauenhaften Geschehnisse in seinem Häuschen in Virginia, in das er mit seiner Frau Karen und den beiden kleinen Kindern neu eingezogen ist. Zunächst ergeben sich nur einige winzige Unstimmigkeiten beim genauen Vermessen der Innen- und Außenwände. Doch dann findet sich eine vorher nicht vorhandene Tür in einen finsteren, offenbar ins Nichts führenden Flur. Dessen Ausmaße erweisen sich bei näherer Untersuchung als unendlich; vor allem aber scheinen sich die labyrinthisch verschlungenen Wände, Gänge, Treppen und Höhlen ständig zu verschieben und zu verzerren, so dass ein Betreten schon nach wenigen Schritten zu einem lebensgefährlichen Abenteuer wird.
Navidson organisiert ein erfahrenes, optimal, weil auch mit Kameras ausgerüstetes Forschungsteam, das systematisch und in mehreren Anläufen immer tiefer in die Unterwelt vordringt, bis die letzte Expedition in einem grausigen, tödlichen Fiasko endet. Dennoch fühlt sich Navidson vom Geheimnis seines Hauses auf beinahe magische Weise angezogen und setzt seine Erkundung, die zugleich ein avantgardistisches Filmexperiment ist, auch nach der Katastrophe und dem bitteren Zerfall seiner Familie weiter fort: Ein Albtraum wird zum Dokudrama nach dem Vorbild des Cinéma vérité. Das künstlerische Resultat, dem Genre nach ein autobiographischer Horrorthriller, wird allerdings von Beginn an nicht unmittelbar, sondern in Form einer fußnotengespickten filmwissenschaftlichen Abhandlung präsentiert, an der ein schrulliger Greis namens Zampanò bis zu seinem Tod in einer verwahrlosten Wohnung geschrieben hat. In dessen Nachlass entdeckt der hyperaktive, von Neurosen geplagte Junkie Johnny Truant das ungeordnete Manuskript und arbeitet, zunehmend besessen, an einer kommentierten Edition. Verzweifelt bemüht er sich um Informationen zu Navidson, muss aber feststellen, das der "Record" einschließlich der detaillierten bibliographischen Angaben zur Rezeption allein in Zampanòs Imagination existiert. Im Vorwort schreibt Johnny: "Wisst ihr, die Ironie bei der Sache ist - es spielt überhaupt keine Rolle, dass die Filmdokumentation, die das Herzstück dieses Buches bildet, rein fiktiv ist. Zampanò wusste vom ersten Moment an, dass es hier nicht darum geht, ob etwas real ist oder nicht real. Die Konsequenzen bleiben die gleichen." In der Tat: Johnny verirrt sich in Zampanòs Werk wie die Höhlenforscher im Haus. Und der Leser muss ihnen folgen.
Denn selbst diese vertrackte Herausgeberfiktion wird nun ihrerseits noch einmal überboten, da der labile Truant über seiner Arbeit zunehmend an Realitätsverlust leidet und ein weiteres, anonym bleibendes Editorenteam das "House of Leaves" schließlich druckfertig macht. So steigert Danielewski die Komplexität bis zur buchstäblichen Unlesbarkeit: Die Bearbeiter hinterlassen in jeweils eigenen Schrifttypen ihre Anmerkungen zu einem Text, der seiner Form nach ein kritischer Kommentar ist. Im Druckbild werden, analog zu Navidsons Filmsprache, alle Register gezogen, mit rückwärts zu lesenden oder auf dem Kopf stehenden Passagen, bis hin zu konkreter Poesie. Der Roman bildet die labyrinthische Architektur des Hauses ab. Oder andersherum: Das "Haus" ist in Wahrheit ein Text, Stein gewordener Poststrukturalismus: Seine Bedeutung ist nie zu fixieren, immer verschiebt sich eine Wand, entsteht ein neuer Durchgang, tut sich ein neuer Abgrund auf - Stephen King trifft Derrida im Folterkeller.
So treibt Danielewski mit dem Leser ein ungemein intelligentes, perfides Doppelspiel: Die Horrorstory, die dem gängigen Genremuster des verfluchten Hauses folgt, wird mit ahnungsvollen Vorgriffen und Hinweisen spannend, effektvoll und hart erzählt. Durch den sie luftdicht umwickelnden Schutzanzug der Kulturtheorie aber erscheint sie wie ein Werk der Fiktion, das seinen eigenen Gesetzen folgt. Zampanòs Relektüre des haarsträubenden Filminhalts wird zur - sehr komischen - Parodie auf kulturwissenschaftliche Phrasendrescherei, in der es dann mehr um "Metaphern", "Rollenbilder" und "weibliche Lesarten" geht als darum, dass da gerade ein Keller zum Leben erwacht und ein paar Männer zerfleischt.
Alles ist Text, die Wirklichkeit löst sich im Diskurs auf, und doch hält das Geschehen die Leser, innerhalb und außerhalb des Buches, gefangen. Denn alle jagen der Frage nach, was das Haus "eigentlich" ist: Ist es die Manifestation des Seelenzustands derjenigen, die es betreten? Ein kosmisches Phänomen, ein Paralleluniversum? Die Welt der Kunst? Ist es Gott? In den erfundenen Veröffentlichungen zum "Navidson Report" werden alle möglichen Theorien zur "Bedeutung" des Hauses aufgestellt, und auch der Realitätsstatus der Geschichte ausgiebig diskutiert. Einmal heißt es, das einzige triftige Argument für die Echtheit des Gezeigten sei, dass die Arbeit mit digitalen Effekten die Mittel des Regisseurs überstiegen haben musste: Die Simulation ist eine Frage des Budgets. Andererseits bürgen die Herausgeber am allerwenigsten für Authentizität: Zampanò, eine Borges-Figur, war seit Jahrzehnten blind, hat den Film also selbst nie sehen können und stattdessen ein Heer von Assistentinnen für die Recherche beschäftigt. Johnny gibt ohnehin gleich zu Beginn zu, nach Belieben in sein Material einzugreifen; seine durchgedrehten Fußnoten ufern zu einer Parallelhandlung mit saftigem Sex- und Gewaltanteil aus. Glaubt man aber zunächst, Johnnys Trip durch das Nachtleben von Los Angeles diene allein der Retardierung, sei nur ein Test, wie sehr sich der Leser vom "Wesentlichen" ablenken lässt, wird hier tatsächlich das zentrale Thema variiert: Schuld und Verlust.
Im "Navidson Report" taucht an zentraler Stelle das Versagen des Fotoreporters Navidson angesichts eines sterbenden Mädchens im Sudan auf, das er mit seinem preisgekrönten Bild zu einer Ikone des Leidens macht, aber nicht retten konnte. Die Kamera wird mitschuldig an dem, was sie dokumentiert - ein tragischer Zusammenhang, der sich in den tödlichen Begleitumständen des Reports wiederholt. Johnny Truant verlor seinen Vater bei einem Verkehrsunfall, seine psychisch kranke Mutter beging im Heim Selbstmord. Die Tiefe dieses Schmerzes verrät erst der Anhang. Auch erfährt man hier, dass Johnny als Kompensation für sein zerrüttetes Leben das Ende des "Reports" drastisch verfälscht haben könnte.
Im Haus verbergen sich so hinter der Fassade von Horror und Mystery seelische Dramen von Vätern und Müttern, Brüdern und Ehepartnern. Zampanò gibt dabei die größten Rätsel auf: Was geschah eigentlich mit seinen Augen? Was verbirgt sich hinter den Andeutungen, er habe einen Sohn gehabt? Woher kommt seine Obsession mit dem Mythos des Minotaurus, dessen Spuren im Manuskript er systematisch durch Schwärzungen verwischen wollte? Im Innern des Hauses scheint wie im antiken Labyrinth des Daedalus ein Monster verborgen. Manche Fährten fallen dadurch auf, dass sie sehr auffällig versteckt werden; manches deutet auf eine Beteiligung Zampanòs am Indochina-Krieg und der Schlacht bei Dien Bien Phu 1954 hin, wo die vernichtend geschlagene französische Armee zur Verteidigung ein großes unterirdisches Tunnelsystem angelegt hatte. Ein Kriegstrauma also? Oder doch eine Familientragödie? Oder beides?
Und was verbirgt der genialische Konstrukteur des Labyrinths, Daedalus/Danielewski, höchstpersönlich? Wie der Klappentext verrät, war sein Vater der aus Polen stammende Regisseur Tad Danielewski, der in der Untergrundarmee gegen die Deutschen kämpfte, gefangen genommen wurde und das Konzentrationslager überlebte. Nach dem Krieg hatte er in Amerika beim Fernsehen und als Filmemacher Erfolg. Eines seiner bekanntesten Werke war 1962 "No Exit", eine Adaption von Sartres Drama "Huis Clos"; das Drehbuch stammte von George Tabori. 1968 drehte er eine preisgekrönte Dokumentation über Afrika, auch weitere Stationen teilt er mit Navidson. "Kein Ausgang": Im Zentrum des Irrgartens trifft Danielewski auf die Lebensgeschichte seines eigenen, 1993 verstorbenen Vaters.
Und wie kommen wir hier wieder heraus? Mit solcherlei hermeneutischer Detektivarbeit bewegt man sich schon selbst tief in den verschlungenen Gängen und bodenlosen Kammern dieses Romans, stets bereit, eine weitere, bislang übersehene Abzweigung zu versuchen oder eine Magnesiumfackel in ein brunnentiefes Loch zu werfen. Einigen von Ihnen wird es, allen Warnungen zum Trotz, bald genauso gehen. Tun wir uns doch zusammen und rüsten wir die nächste Expedition aus. Dann kann es von vorne losgehen.
Mark Z. Danielewski: "Das Haus - House of Leaves". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Christa Schuenke. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2007. 827 S., 15 Abb., geb., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Zentrum des Labyrinths wartet auf jeden Leser das eigene Ungeheuer: Mark Z. Danielewskis unheimliches Romangebäude / Von Richard Kämmerlings
Wenn man dieses Buch bis zur letzten Seite gelesen hat, ist es noch lange nicht zu Ende. Denn man muss erst wieder herausfinden, und das geht nur, indem man das Rätsel löst, das tief in ihm verborgen ist. Es wird allerdings nicht für jeden Leser das gleiche Rätsel sein, vielleicht sind es auch mehrere oder viele. Doch dass für jedes einzelne davon irgendwo, in irgendeiner der vierhundertfünfzig Fußnoten oder in einem scheinbar nebensächlichen Stück der gut hundertdreißig Seiten Anhang oder sogar im grotesk ausführlichen Index ein Schlüssel zu finden ist - davon ist man überzeugt. Oder ist man nur davon besessen?
"House of Leaves" von Mark Z. Danielewski ist ein unheimliches Buch, schon der Schutzumschlag sagt es und warnt den Leser vor dem Betreten. Der Umschlag hat recht, doch wem nützt es? Denn was das bedeutet, wo die Falle liegt, weiß man erst, wenn man selbst längst so tief verstrickt ist, dass auch eine noch so lange Rezension nicht mehr helfen kann. Denn "House of Leaves" ist ein Buch über das Lesen selbst, es erzählt von ebenden Erfahrungen, die der Leser macht, während er die Hauptfiguren bei ihrem Gang durch das Labyrinth begleitet. Am Ende wird er sich ebenso wie sie hoffnungslos darin verirrt haben und dennoch davon überzeugt sein, den Ausgang, die Lösung, die letzte Bedeutung finden zu können - wenn er nur noch gründlicher, noch tiefer sucht.
Natürlich, denn sonst würde man sich ja gar nicht darauf einlassen, ist dieses Buch noch vieles andere: Wenn David Foster Wallace mit "Infinite Jest" (1996) den letzten großen Roman des zwanzigsten Jahrhunderts geschrieben hat, dann Danielewski den ersten des einundzwanzigsten. "House of Leaves", im amerikanischen Original 2000 erschienen, ist Familienroman, Horrorthriller, Literaturwissenschaftssatire, kulturhistorischer Essay, Junkie-Story, Mythenspiel, Ehedrama, Erzählexperiment, Snuff-Gewaltporno und zugleich die ironische Reflexion all dessen: ein metafiktionaler, postmoderner Hypertextroman, der all die Computer-, Netz- und Rhizom-Metaphern einlösen will, von der die Literaturtheorie der letzten Jahrzehnte immer nur träumte. Ein Jahrhundertroman also. Und ein Haus. Doch dazu später.
Die innerste Schicht dieses Erzähluniversums ist ein Film, genannt "The Navidson Record". Darin schildert der Fotoreporter und Pulitzer-Preisträger Will Navidson die mysteriösen, grauenhaften Geschehnisse in seinem Häuschen in Virginia, in das er mit seiner Frau Karen und den beiden kleinen Kindern neu eingezogen ist. Zunächst ergeben sich nur einige winzige Unstimmigkeiten beim genauen Vermessen der Innen- und Außenwände. Doch dann findet sich eine vorher nicht vorhandene Tür in einen finsteren, offenbar ins Nichts führenden Flur. Dessen Ausmaße erweisen sich bei näherer Untersuchung als unendlich; vor allem aber scheinen sich die labyrinthisch verschlungenen Wände, Gänge, Treppen und Höhlen ständig zu verschieben und zu verzerren, so dass ein Betreten schon nach wenigen Schritten zu einem lebensgefährlichen Abenteuer wird.
Navidson organisiert ein erfahrenes, optimal, weil auch mit Kameras ausgerüstetes Forschungsteam, das systematisch und in mehreren Anläufen immer tiefer in die Unterwelt vordringt, bis die letzte Expedition in einem grausigen, tödlichen Fiasko endet. Dennoch fühlt sich Navidson vom Geheimnis seines Hauses auf beinahe magische Weise angezogen und setzt seine Erkundung, die zugleich ein avantgardistisches Filmexperiment ist, auch nach der Katastrophe und dem bitteren Zerfall seiner Familie weiter fort: Ein Albtraum wird zum Dokudrama nach dem Vorbild des Cinéma vérité. Das künstlerische Resultat, dem Genre nach ein autobiographischer Horrorthriller, wird allerdings von Beginn an nicht unmittelbar, sondern in Form einer fußnotengespickten filmwissenschaftlichen Abhandlung präsentiert, an der ein schrulliger Greis namens Zampanò bis zu seinem Tod in einer verwahrlosten Wohnung geschrieben hat. In dessen Nachlass entdeckt der hyperaktive, von Neurosen geplagte Junkie Johnny Truant das ungeordnete Manuskript und arbeitet, zunehmend besessen, an einer kommentierten Edition. Verzweifelt bemüht er sich um Informationen zu Navidson, muss aber feststellen, das der "Record" einschließlich der detaillierten bibliographischen Angaben zur Rezeption allein in Zampanòs Imagination existiert. Im Vorwort schreibt Johnny: "Wisst ihr, die Ironie bei der Sache ist - es spielt überhaupt keine Rolle, dass die Filmdokumentation, die das Herzstück dieses Buches bildet, rein fiktiv ist. Zampanò wusste vom ersten Moment an, dass es hier nicht darum geht, ob etwas real ist oder nicht real. Die Konsequenzen bleiben die gleichen." In der Tat: Johnny verirrt sich in Zampanòs Werk wie die Höhlenforscher im Haus. Und der Leser muss ihnen folgen.
Denn selbst diese vertrackte Herausgeberfiktion wird nun ihrerseits noch einmal überboten, da der labile Truant über seiner Arbeit zunehmend an Realitätsverlust leidet und ein weiteres, anonym bleibendes Editorenteam das "House of Leaves" schließlich druckfertig macht. So steigert Danielewski die Komplexität bis zur buchstäblichen Unlesbarkeit: Die Bearbeiter hinterlassen in jeweils eigenen Schrifttypen ihre Anmerkungen zu einem Text, der seiner Form nach ein kritischer Kommentar ist. Im Druckbild werden, analog zu Navidsons Filmsprache, alle Register gezogen, mit rückwärts zu lesenden oder auf dem Kopf stehenden Passagen, bis hin zu konkreter Poesie. Der Roman bildet die labyrinthische Architektur des Hauses ab. Oder andersherum: Das "Haus" ist in Wahrheit ein Text, Stein gewordener Poststrukturalismus: Seine Bedeutung ist nie zu fixieren, immer verschiebt sich eine Wand, entsteht ein neuer Durchgang, tut sich ein neuer Abgrund auf - Stephen King trifft Derrida im Folterkeller.
So treibt Danielewski mit dem Leser ein ungemein intelligentes, perfides Doppelspiel: Die Horrorstory, die dem gängigen Genremuster des verfluchten Hauses folgt, wird mit ahnungsvollen Vorgriffen und Hinweisen spannend, effektvoll und hart erzählt. Durch den sie luftdicht umwickelnden Schutzanzug der Kulturtheorie aber erscheint sie wie ein Werk der Fiktion, das seinen eigenen Gesetzen folgt. Zampanòs Relektüre des haarsträubenden Filminhalts wird zur - sehr komischen - Parodie auf kulturwissenschaftliche Phrasendrescherei, in der es dann mehr um "Metaphern", "Rollenbilder" und "weibliche Lesarten" geht als darum, dass da gerade ein Keller zum Leben erwacht und ein paar Männer zerfleischt.
Alles ist Text, die Wirklichkeit löst sich im Diskurs auf, und doch hält das Geschehen die Leser, innerhalb und außerhalb des Buches, gefangen. Denn alle jagen der Frage nach, was das Haus "eigentlich" ist: Ist es die Manifestation des Seelenzustands derjenigen, die es betreten? Ein kosmisches Phänomen, ein Paralleluniversum? Die Welt der Kunst? Ist es Gott? In den erfundenen Veröffentlichungen zum "Navidson Report" werden alle möglichen Theorien zur "Bedeutung" des Hauses aufgestellt, und auch der Realitätsstatus der Geschichte ausgiebig diskutiert. Einmal heißt es, das einzige triftige Argument für die Echtheit des Gezeigten sei, dass die Arbeit mit digitalen Effekten die Mittel des Regisseurs überstiegen haben musste: Die Simulation ist eine Frage des Budgets. Andererseits bürgen die Herausgeber am allerwenigsten für Authentizität: Zampanò, eine Borges-Figur, war seit Jahrzehnten blind, hat den Film also selbst nie sehen können und stattdessen ein Heer von Assistentinnen für die Recherche beschäftigt. Johnny gibt ohnehin gleich zu Beginn zu, nach Belieben in sein Material einzugreifen; seine durchgedrehten Fußnoten ufern zu einer Parallelhandlung mit saftigem Sex- und Gewaltanteil aus. Glaubt man aber zunächst, Johnnys Trip durch das Nachtleben von Los Angeles diene allein der Retardierung, sei nur ein Test, wie sehr sich der Leser vom "Wesentlichen" ablenken lässt, wird hier tatsächlich das zentrale Thema variiert: Schuld und Verlust.
Im "Navidson Report" taucht an zentraler Stelle das Versagen des Fotoreporters Navidson angesichts eines sterbenden Mädchens im Sudan auf, das er mit seinem preisgekrönten Bild zu einer Ikone des Leidens macht, aber nicht retten konnte. Die Kamera wird mitschuldig an dem, was sie dokumentiert - ein tragischer Zusammenhang, der sich in den tödlichen Begleitumständen des Reports wiederholt. Johnny Truant verlor seinen Vater bei einem Verkehrsunfall, seine psychisch kranke Mutter beging im Heim Selbstmord. Die Tiefe dieses Schmerzes verrät erst der Anhang. Auch erfährt man hier, dass Johnny als Kompensation für sein zerrüttetes Leben das Ende des "Reports" drastisch verfälscht haben könnte.
Im Haus verbergen sich so hinter der Fassade von Horror und Mystery seelische Dramen von Vätern und Müttern, Brüdern und Ehepartnern. Zampanò gibt dabei die größten Rätsel auf: Was geschah eigentlich mit seinen Augen? Was verbirgt sich hinter den Andeutungen, er habe einen Sohn gehabt? Woher kommt seine Obsession mit dem Mythos des Minotaurus, dessen Spuren im Manuskript er systematisch durch Schwärzungen verwischen wollte? Im Innern des Hauses scheint wie im antiken Labyrinth des Daedalus ein Monster verborgen. Manche Fährten fallen dadurch auf, dass sie sehr auffällig versteckt werden; manches deutet auf eine Beteiligung Zampanòs am Indochina-Krieg und der Schlacht bei Dien Bien Phu 1954 hin, wo die vernichtend geschlagene französische Armee zur Verteidigung ein großes unterirdisches Tunnelsystem angelegt hatte. Ein Kriegstrauma also? Oder doch eine Familientragödie? Oder beides?
Und was verbirgt der genialische Konstrukteur des Labyrinths, Daedalus/Danielewski, höchstpersönlich? Wie der Klappentext verrät, war sein Vater der aus Polen stammende Regisseur Tad Danielewski, der in der Untergrundarmee gegen die Deutschen kämpfte, gefangen genommen wurde und das Konzentrationslager überlebte. Nach dem Krieg hatte er in Amerika beim Fernsehen und als Filmemacher Erfolg. Eines seiner bekanntesten Werke war 1962 "No Exit", eine Adaption von Sartres Drama "Huis Clos"; das Drehbuch stammte von George Tabori. 1968 drehte er eine preisgekrönte Dokumentation über Afrika, auch weitere Stationen teilt er mit Navidson. "Kein Ausgang": Im Zentrum des Irrgartens trifft Danielewski auf die Lebensgeschichte seines eigenen, 1993 verstorbenen Vaters.
Und wie kommen wir hier wieder heraus? Mit solcherlei hermeneutischer Detektivarbeit bewegt man sich schon selbst tief in den verschlungenen Gängen und bodenlosen Kammern dieses Romans, stets bereit, eine weitere, bislang übersehene Abzweigung zu versuchen oder eine Magnesiumfackel in ein brunnentiefes Loch zu werfen. Einigen von Ihnen wird es, allen Warnungen zum Trotz, bald genauso gehen. Tun wir uns doch zusammen und rüsten wir die nächste Expedition aus. Dann kann es von vorne losgehen.
Mark Z. Danielewski: "Das Haus - House of Leaves". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Christa Schuenke. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2007. 827 S., 15 Abb., geb., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.09.2007Großes Gegrusel mit Gott
Die Freuden der Komplexität: Mark Z. Danielewskis voluminöser Horrorroman „Das Haus” / Von Georg Klein
Energetisch gesehen gibt es für den Leser zwei Arten von sehr dicken Romanen: Zum einen die süffigen Schmöker, die versprechen, viel Lesezeit mit wenig Kraftaufwand durchmessen zu dürfen. Räumlich könnte man solche Bücher mit einer langen Rutschbahn vergleichen. Draufsetzen und loslassen! Alles Weitere erledigen das erzählerische Gefälle und die genreüblichen Gleitmittel. Daneben gibt es aber auch Wälzer, die nicht mit flotter Gängigkeit, sondern mit deren Gegenteil, mit Widerstand, Verzögerung und langwieriger Anstrengung locken. Wer sich auf einen solchen Leseweg begibt, wählt einen Trimm-dich-Parcours für Fortgeschrittene und ist sogar bereit, mit einer speziellen Wollust an der eigenen Kondition zu leiden.
Mark Z. Danielewskis Roman „Das Haus” ist nicht nur dick, sondern auch kompliziert. Dabei gibt es einen zentralen Plot, der alle Voraussetzungen für ein zügiges Wegschmökern mitbringt. Eine vierköpfige Familie, die Navidsons, verlässt Anfang der neunziger Jahre New York, um in Virginia ein altes Haus zu beziehen. Schnell kulminieren unheimliche Begebenheiten. Durch einen wie aus dem Nichts entstandenen Korridor lässt sich ein völlig finsteres, eiskaltes Riesengebäude betreten, das dem Häuschen, von außen unerkennbar, anhängt. Dieses Haus-am-Haus lebt. Unvorhersehbar verändert es seine Struktur und scheint durch sein Wuchern, Dehnen und Schrumpfen auf diejenigen zu reagieren, die es zu erkunden wagen. Was dabei im Einzelnen geschieht, ist weit origineller und vertrackter, als es eine Zusammenfassung wiedergeben kann, und weil es zudem wirklich spannend erzählt wird, soll kein wichtiges Detail der Exkursionen, die Will Navidson und andere wagen, verraten werden.
Was ein Blinder sieht
Neben der fast klassischen Haunted-House-Story, der Geschichte vom verfluchten Haus, bietet Danielewski noch eine umfangreiche zweite Handlung auf. Sechs Jahre nach dem Geschehen um das Spukhaus gerät in Kalifornien ein junger Mann namens Johnny Truant in eine tiefe existentielle Krise. Truant, der in einem Tätowierladen jobbt und seine freie Zeit mit Drogen und schnellem Sex herumkriegt, ist hochsensibel und künstlerisch begabt, hat eine traumatische Kindheit hinter sich, und so braucht es nur noch einen letzten Kick, dass sein Leben aus der Spur springt. Der Roman schließt die beiden Ereigniskomplexe kurz, und als Verbindungsstück dient ihm – dies hat eine lange Tradition – in Gestalt eines Manuskripts die Literatur selbst.
Truant fällt eine wüste Blätter- und Zettelsammlung aus dem Nachlass eines kürzlich verstorbenen Greises namens Zampanò in die Hände. Kernstück dieser Papiere ist der sogenannte „Navidson-Report”, in dem Zampanò erzählt, was der Familie Navidson in Virginia zugestoßen ist. Ein Buch im Buch also, aber mit dieser einmaligen Verschachtelung lässt es Danielewski nicht bewenden. Der Navidson-Report tritt nämlich nicht als direkte Chronik realer Ereignisse vor uns, sondern als Nacherzählung eines Films. Will Navidson hat, nachdem er mit Frau und Kindern ins Spukhaus gezogen war, die dortigen Ereignisse akribisch auf Zelluloid und Video gebannt. Navidson ist ein mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneter Fotoreporter, und mit dem Navidson-Report scheint ihm auf Anhieb ein Meisterwerk des Dokumentarfilms gelungen zu sein.
Den Rang dieses Werks bezeugt die gewaltige Rezeption, die der Film binnen weniger Jahre in der Kritik und in allen möglichen Wissenschaften erfahren hat. Die 450 Fußnoten des Romans geben hierin einen Einblick. Zum größten Teil stammen sie von Zampanò, der in ihnen auf ausgewählte Sekundärliteratur verweist und auch ausführlich aus ihr zitiert. Dazu kommen noch Anmerkungen von Johnny Truant, und Anmerkungen der anonymen Herausgeber, die Truants Werk, also die kombinierten Geschichten der beiden, in Druck gebracht haben. Im Anhang finden sich des Weiteren Dokumente aus beider Leben: Manuskriptfragmente, Zeichnungen, Fotos und Briefe. Eine zusätzliche Dimension der Darstellung öffnet sich im Druckbild des Romans. Es werden verschiedene Schrifttypen und -größen verwendet. Manchmal erscheint der Text in Spalten oder Kästen. Man muss rückwärts lesen oder zwischen den Zeilen hin und her hüpfen – von weiteren den Lesefluss stauenden Einfällen ganz zu schweigen.
Behält man rigoros die Handlung im Auge, werden einem, in wechselnd langen Teilstücken, drei Ebenen „wirklichen” Lebens geboten: die Erlebnisse der Familie Navidson, das allmähliche Ausflippen des jungen Truant und Bruchstücke aus dem Dasein des mysteriösen Zampanò. Allerdings stellt Danielewski den Wirklichkeitscharakter aller drei Dimensionen von Anfang an regelmäßig in Frage. Truant kann bei seinen Recherchen keinen Hinweis darauf finden, dass der angeblich berühmte Film tatsächlich existiert. Viele der in Zampanòs gelehrten Anmerkungen zitierten wissenschaftlichen Werke sind offensichtlich erfunden. Zampanò war zudem die letzten vierzig Jahren seines Lebens blind. Er kann den Film, den er nacherzählt und kommentiert, so es ihn denn gäbe, nie gesehen haben.
Auch Truant selbst ist ein fragwürdiger Erzähler. Gleich zu Beginn des Romans erweist er sich als notorischer Schwindler, als einer, der Geschichten aus seinem Leben gerne so zurechtlügt, dass er damit maximalen Eindruck bei den Zuhörern erzielen kann. Außerdem leidet er während seiner Arbeit über Zampanòs Zetteln zunehmend an Angstattacken und Wahnvorstellungen. Einiges deutet sogar daraufhin, dass er den Navidson-Report in einem kreativen Delirium selbst verfasst haben könnte. Diese und zahlreiche weitere Fragwürdigkeiten werden dem Leser manchmal diskret, oft wie auf dem Präsentierteller serviert. Dabei lässt sich nicht alles, was die Authentizität des Geschilderten in Frage stellt, auf die Konten der beiden fiktiven Autoren Zampanò und Truant verbuchen, manches geht zu Lasten der waghalsigen, nicht immer glatt verfugten Konstruktion des Überautors Mark Z. Danielewski.
Das Grauen und die Maschine
Wer es als Romancier frontal darauf anlegt, die Wirklichkeitsillusion des Lesers zu frustrieren, spielt ein riskantes Spiel. Letztlich hofft er, dass die hauchdünne bleiche Larve, mit der jede Fiktion das banale Bastlertum des erfindenden Autors verbirgt, an Liebreiz gewinnt, wenn sie mit dem Rouge ironischer Relativierung aufgeschminkt wird. Solche Texte sagen dann mit artistischer Koketterie: „Guckt mal, ich bin nur erfunden, aber ist nicht alles hinreißend schlau ausgetüftelt?” Kleine Glanzstücke dieses Spiels mit Wirklichkeitsillusion und Desillusionierung finden sich im Navidson-Report. Die Idee, das Kernstück des Plots, die eigentliche Horrorhandlung, als Abriss eines Dokumentarfilms zu erzählen, geht verblüffend gut auf. Die Beschreibung der Technik, der verschiedenen Kameras und Beleuchtungsutensilien, die fachmännische Reflexion über deren Potenz und über die gewonnenen Resultate erzeugen eine eigene Aura von Wirklichkeit. Im Griff der Geräte bekommen die Körper der wagemutigen Spukhauserforscher eine schmerzhafte Präsenz. Selbst das bis zuletzt gestaltlos bleibende Grauen bekommt eine eigentümlich technologische Kontur. Die bildgebenden Maschinen scheinen auf suggestive, fast magische Weise Garanten für die Authentizität jedweden Geschehens.
Am anderen Ende der Wirkungsskala liegt das Tischfeuerwerk aus Belesenheit und interpretatorischer Schläue, das in den Anmerkungen und auch im Erzähltext abgebrannt wird. Allein die Erfindung der Titel, die die wissenschaftlichen Bücher, Aufsätze, die Fernseh- und Rundfunkbeiträge tragen, strotzt vor Gescheitheit und protzt zugleich mit einem Witz, der die Welt der Theorie aufs Korn nimmt. Selbst einen, der selbst lange, lernend oder lehrend, akademisch gelitten hat, wird dieses Spiel mit wirklichem oder vorgetäuschtem Wissen irgendwann ermüden. Natürlich gibt es Zeitgenossen, die erwarten, dass ein schwieriges Buch auch die Spannbreite möglicher Deutung in irgendeinem Theorie-Kauderwelsch zur Schau stellt. Aber die allzu freigiebige Befriedigung dieses Anspruchs wird zuletzt den Herzmuskel des Lesens, die Phantasie, lähmen.
Der starke Leser denkt gern selbst. Ungut pompös erscheinen mir in diesem Zusammenhang auch die zahlreichen direkten Bezugnahmen auf Werke der Weltliteratur, oft sogar in der Originalsprache. Wessen Bildung wird hier, für oder gegen wen, in Stellung gebracht? Der Anhang bringt unter der Überschrift „Diverse Zitate” noch einmal zwanzig gewichtige Namen, von Homer bis Derrida, und es entsteht der Verdacht, dass der Autor mit einem finalen Schlag entweder alle weniger Belesenen vollends einschüchtern oder uns auf dem Wege der intellektuellen Anbiederung in den Kreis der Eingeweihten, in die Gemeinde der Fans einbinden will.
Die schaurigen Prüfungen
Aber halb so schlimm! Dieses dicke Buch kann dem, der bis auf seine letzten Seiten gelangt, eine Menge Freude bereiten. In der Bewältigung seiner Komplexität genießt unser mentales System sich selbst, es freut sich an der eigenen Vielschichtigkeit, und unser Ego darf stolz sein auf sein Durchhaltevermögen. Unserem Ich bietet das Figurenaufgebot darüber hinaus wunderbare Möglichkeiten der Identifikation. Die Navidsons stehen samt dem zu Hilfe herbeigeeilten Onkel anrührend tapfer füreinander ein. Die Familie, der harte Kern des amerikanischen Selbstbilds, überdauert mit heroischem Opfermut die wahrlich schaurigen Prüfungen, die ihr das Haus auferlegt. Wer jung ist, kann sich speziell Johnny Truant zu Herzen nehmen. Er ist der gefährdete Jüngling, der ums Haar an seiner Sensibilität zerbricht, dann aber über Zampanòs Zetteln selbst zum Künstler, zum wortmächtigen Schriftsteller wird und als Gesellenstück seine traumatische Kindheit in Erzählung verwandelt.
Süßer noch als ein solcher Gleichklang mit den Figuren ist jedoch die Identifikation mit dem, der sie erdacht hat. Denn einfach alles, was einem wichtig erscheint, in einen 800-Seiten-Wälzer zu packen, die Welt und ihre Vergangenheit, Raum und Zeit, die liebe Kunst samt der nicht ganz so geliebten Kritik der Kunst, das muss sich anfühlen wie Gott-Sein. Mehr noch als ein Horror-Roman erscheint mir „House of the Leaves” deshalb ein Künstlerroman. Und die Grandiosität, zu der sich seine Verfasser, die fiktiven wie der authentische, aufschwingen, schreckt vor letzten theologischen Höhen nicht zurück. Gott kommt in diesem Roman, recht gruselig und zugleich ironisch-theoretisch gebrochen, selbstverständlich auch vor.
MARK Z. DANIELEWSKI: Das Haus. House of the Leaves, aus dem amerikanischen Englisch von Christa Schuenke unter Mitarbeit von Olaf Schenk. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2007. 797 S., 29,90 Euro.
Von Georg Klein erschien zuletzt der Roman „Sünde Güte Blitz” (2007).
Dem Häuschen, von außen unerkennbar, hängt ein kaltes, finsteres, lebendiges Riesengebäude an. Foto: Bernd Arnold/Visum
Ist das nicht alles hinreißend schlau ausgetüftelt: Mark Z. Danielewski ist ein Meister des Komplizierten und behält doch die Kontrolle. Foto: Getty Images
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Die Freuden der Komplexität: Mark Z. Danielewskis voluminöser Horrorroman „Das Haus” / Von Georg Klein
Energetisch gesehen gibt es für den Leser zwei Arten von sehr dicken Romanen: Zum einen die süffigen Schmöker, die versprechen, viel Lesezeit mit wenig Kraftaufwand durchmessen zu dürfen. Räumlich könnte man solche Bücher mit einer langen Rutschbahn vergleichen. Draufsetzen und loslassen! Alles Weitere erledigen das erzählerische Gefälle und die genreüblichen Gleitmittel. Daneben gibt es aber auch Wälzer, die nicht mit flotter Gängigkeit, sondern mit deren Gegenteil, mit Widerstand, Verzögerung und langwieriger Anstrengung locken. Wer sich auf einen solchen Leseweg begibt, wählt einen Trimm-dich-Parcours für Fortgeschrittene und ist sogar bereit, mit einer speziellen Wollust an der eigenen Kondition zu leiden.
Mark Z. Danielewskis Roman „Das Haus” ist nicht nur dick, sondern auch kompliziert. Dabei gibt es einen zentralen Plot, der alle Voraussetzungen für ein zügiges Wegschmökern mitbringt. Eine vierköpfige Familie, die Navidsons, verlässt Anfang der neunziger Jahre New York, um in Virginia ein altes Haus zu beziehen. Schnell kulminieren unheimliche Begebenheiten. Durch einen wie aus dem Nichts entstandenen Korridor lässt sich ein völlig finsteres, eiskaltes Riesengebäude betreten, das dem Häuschen, von außen unerkennbar, anhängt. Dieses Haus-am-Haus lebt. Unvorhersehbar verändert es seine Struktur und scheint durch sein Wuchern, Dehnen und Schrumpfen auf diejenigen zu reagieren, die es zu erkunden wagen. Was dabei im Einzelnen geschieht, ist weit origineller und vertrackter, als es eine Zusammenfassung wiedergeben kann, und weil es zudem wirklich spannend erzählt wird, soll kein wichtiges Detail der Exkursionen, die Will Navidson und andere wagen, verraten werden.
Was ein Blinder sieht
Neben der fast klassischen Haunted-House-Story, der Geschichte vom verfluchten Haus, bietet Danielewski noch eine umfangreiche zweite Handlung auf. Sechs Jahre nach dem Geschehen um das Spukhaus gerät in Kalifornien ein junger Mann namens Johnny Truant in eine tiefe existentielle Krise. Truant, der in einem Tätowierladen jobbt und seine freie Zeit mit Drogen und schnellem Sex herumkriegt, ist hochsensibel und künstlerisch begabt, hat eine traumatische Kindheit hinter sich, und so braucht es nur noch einen letzten Kick, dass sein Leben aus der Spur springt. Der Roman schließt die beiden Ereigniskomplexe kurz, und als Verbindungsstück dient ihm – dies hat eine lange Tradition – in Gestalt eines Manuskripts die Literatur selbst.
Truant fällt eine wüste Blätter- und Zettelsammlung aus dem Nachlass eines kürzlich verstorbenen Greises namens Zampanò in die Hände. Kernstück dieser Papiere ist der sogenannte „Navidson-Report”, in dem Zampanò erzählt, was der Familie Navidson in Virginia zugestoßen ist. Ein Buch im Buch also, aber mit dieser einmaligen Verschachtelung lässt es Danielewski nicht bewenden. Der Navidson-Report tritt nämlich nicht als direkte Chronik realer Ereignisse vor uns, sondern als Nacherzählung eines Films. Will Navidson hat, nachdem er mit Frau und Kindern ins Spukhaus gezogen war, die dortigen Ereignisse akribisch auf Zelluloid und Video gebannt. Navidson ist ein mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneter Fotoreporter, und mit dem Navidson-Report scheint ihm auf Anhieb ein Meisterwerk des Dokumentarfilms gelungen zu sein.
Den Rang dieses Werks bezeugt die gewaltige Rezeption, die der Film binnen weniger Jahre in der Kritik und in allen möglichen Wissenschaften erfahren hat. Die 450 Fußnoten des Romans geben hierin einen Einblick. Zum größten Teil stammen sie von Zampanò, der in ihnen auf ausgewählte Sekundärliteratur verweist und auch ausführlich aus ihr zitiert. Dazu kommen noch Anmerkungen von Johnny Truant, und Anmerkungen der anonymen Herausgeber, die Truants Werk, also die kombinierten Geschichten der beiden, in Druck gebracht haben. Im Anhang finden sich des Weiteren Dokumente aus beider Leben: Manuskriptfragmente, Zeichnungen, Fotos und Briefe. Eine zusätzliche Dimension der Darstellung öffnet sich im Druckbild des Romans. Es werden verschiedene Schrifttypen und -größen verwendet. Manchmal erscheint der Text in Spalten oder Kästen. Man muss rückwärts lesen oder zwischen den Zeilen hin und her hüpfen – von weiteren den Lesefluss stauenden Einfällen ganz zu schweigen.
Behält man rigoros die Handlung im Auge, werden einem, in wechselnd langen Teilstücken, drei Ebenen „wirklichen” Lebens geboten: die Erlebnisse der Familie Navidson, das allmähliche Ausflippen des jungen Truant und Bruchstücke aus dem Dasein des mysteriösen Zampanò. Allerdings stellt Danielewski den Wirklichkeitscharakter aller drei Dimensionen von Anfang an regelmäßig in Frage. Truant kann bei seinen Recherchen keinen Hinweis darauf finden, dass der angeblich berühmte Film tatsächlich existiert. Viele der in Zampanòs gelehrten Anmerkungen zitierten wissenschaftlichen Werke sind offensichtlich erfunden. Zampanò war zudem die letzten vierzig Jahren seines Lebens blind. Er kann den Film, den er nacherzählt und kommentiert, so es ihn denn gäbe, nie gesehen haben.
Auch Truant selbst ist ein fragwürdiger Erzähler. Gleich zu Beginn des Romans erweist er sich als notorischer Schwindler, als einer, der Geschichten aus seinem Leben gerne so zurechtlügt, dass er damit maximalen Eindruck bei den Zuhörern erzielen kann. Außerdem leidet er während seiner Arbeit über Zampanòs Zetteln zunehmend an Angstattacken und Wahnvorstellungen. Einiges deutet sogar daraufhin, dass er den Navidson-Report in einem kreativen Delirium selbst verfasst haben könnte. Diese und zahlreiche weitere Fragwürdigkeiten werden dem Leser manchmal diskret, oft wie auf dem Präsentierteller serviert. Dabei lässt sich nicht alles, was die Authentizität des Geschilderten in Frage stellt, auf die Konten der beiden fiktiven Autoren Zampanò und Truant verbuchen, manches geht zu Lasten der waghalsigen, nicht immer glatt verfugten Konstruktion des Überautors Mark Z. Danielewski.
Das Grauen und die Maschine
Wer es als Romancier frontal darauf anlegt, die Wirklichkeitsillusion des Lesers zu frustrieren, spielt ein riskantes Spiel. Letztlich hofft er, dass die hauchdünne bleiche Larve, mit der jede Fiktion das banale Bastlertum des erfindenden Autors verbirgt, an Liebreiz gewinnt, wenn sie mit dem Rouge ironischer Relativierung aufgeschminkt wird. Solche Texte sagen dann mit artistischer Koketterie: „Guckt mal, ich bin nur erfunden, aber ist nicht alles hinreißend schlau ausgetüftelt?” Kleine Glanzstücke dieses Spiels mit Wirklichkeitsillusion und Desillusionierung finden sich im Navidson-Report. Die Idee, das Kernstück des Plots, die eigentliche Horrorhandlung, als Abriss eines Dokumentarfilms zu erzählen, geht verblüffend gut auf. Die Beschreibung der Technik, der verschiedenen Kameras und Beleuchtungsutensilien, die fachmännische Reflexion über deren Potenz und über die gewonnenen Resultate erzeugen eine eigene Aura von Wirklichkeit. Im Griff der Geräte bekommen die Körper der wagemutigen Spukhauserforscher eine schmerzhafte Präsenz. Selbst das bis zuletzt gestaltlos bleibende Grauen bekommt eine eigentümlich technologische Kontur. Die bildgebenden Maschinen scheinen auf suggestive, fast magische Weise Garanten für die Authentizität jedweden Geschehens.
Am anderen Ende der Wirkungsskala liegt das Tischfeuerwerk aus Belesenheit und interpretatorischer Schläue, das in den Anmerkungen und auch im Erzähltext abgebrannt wird. Allein die Erfindung der Titel, die die wissenschaftlichen Bücher, Aufsätze, die Fernseh- und Rundfunkbeiträge tragen, strotzt vor Gescheitheit und protzt zugleich mit einem Witz, der die Welt der Theorie aufs Korn nimmt. Selbst einen, der selbst lange, lernend oder lehrend, akademisch gelitten hat, wird dieses Spiel mit wirklichem oder vorgetäuschtem Wissen irgendwann ermüden. Natürlich gibt es Zeitgenossen, die erwarten, dass ein schwieriges Buch auch die Spannbreite möglicher Deutung in irgendeinem Theorie-Kauderwelsch zur Schau stellt. Aber die allzu freigiebige Befriedigung dieses Anspruchs wird zuletzt den Herzmuskel des Lesens, die Phantasie, lähmen.
Der starke Leser denkt gern selbst. Ungut pompös erscheinen mir in diesem Zusammenhang auch die zahlreichen direkten Bezugnahmen auf Werke der Weltliteratur, oft sogar in der Originalsprache. Wessen Bildung wird hier, für oder gegen wen, in Stellung gebracht? Der Anhang bringt unter der Überschrift „Diverse Zitate” noch einmal zwanzig gewichtige Namen, von Homer bis Derrida, und es entsteht der Verdacht, dass der Autor mit einem finalen Schlag entweder alle weniger Belesenen vollends einschüchtern oder uns auf dem Wege der intellektuellen Anbiederung in den Kreis der Eingeweihten, in die Gemeinde der Fans einbinden will.
Die schaurigen Prüfungen
Aber halb so schlimm! Dieses dicke Buch kann dem, der bis auf seine letzten Seiten gelangt, eine Menge Freude bereiten. In der Bewältigung seiner Komplexität genießt unser mentales System sich selbst, es freut sich an der eigenen Vielschichtigkeit, und unser Ego darf stolz sein auf sein Durchhaltevermögen. Unserem Ich bietet das Figurenaufgebot darüber hinaus wunderbare Möglichkeiten der Identifikation. Die Navidsons stehen samt dem zu Hilfe herbeigeeilten Onkel anrührend tapfer füreinander ein. Die Familie, der harte Kern des amerikanischen Selbstbilds, überdauert mit heroischem Opfermut die wahrlich schaurigen Prüfungen, die ihr das Haus auferlegt. Wer jung ist, kann sich speziell Johnny Truant zu Herzen nehmen. Er ist der gefährdete Jüngling, der ums Haar an seiner Sensibilität zerbricht, dann aber über Zampanòs Zetteln selbst zum Künstler, zum wortmächtigen Schriftsteller wird und als Gesellenstück seine traumatische Kindheit in Erzählung verwandelt.
Süßer noch als ein solcher Gleichklang mit den Figuren ist jedoch die Identifikation mit dem, der sie erdacht hat. Denn einfach alles, was einem wichtig erscheint, in einen 800-Seiten-Wälzer zu packen, die Welt und ihre Vergangenheit, Raum und Zeit, die liebe Kunst samt der nicht ganz so geliebten Kritik der Kunst, das muss sich anfühlen wie Gott-Sein. Mehr noch als ein Horror-Roman erscheint mir „House of the Leaves” deshalb ein Künstlerroman. Und die Grandiosität, zu der sich seine Verfasser, die fiktiven wie der authentische, aufschwingen, schreckt vor letzten theologischen Höhen nicht zurück. Gott kommt in diesem Roman, recht gruselig und zugleich ironisch-theoretisch gebrochen, selbstverständlich auch vor.
MARK Z. DANIELEWSKI: Das Haus. House of the Leaves, aus dem amerikanischen Englisch von Christa Schuenke unter Mitarbeit von Olaf Schenk. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2007. 797 S., 29,90 Euro.
Von Georg Klein erschien zuletzt der Roman „Sünde Güte Blitz” (2007).
Dem Häuschen, von außen unerkennbar, hängt ein kaltes, finsteres, lebendiges Riesengebäude an. Foto: Bernd Arnold/Visum
Ist das nicht alles hinreißend schlau ausgetüftelt: Mark Z. Danielewski ist ein Meister des Komplizierten und behält doch die Kontrolle. Foto: Getty Images
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