"Das Hôtel du Nord, ein sogenanntes Wohnhotel, liegt jenseits der großen Boulevards am Quai de Jemmapes im 10. Arrondissement von Paris. Emile und Louise Lecouvreur haben es gepachtet."Eine Zigarette im Mundwinkel, schlendert Lecouvreur durchs Viertel ... Immer der gleiche Spazierweg, gemächlich, beruhigend. Die Kulisse von Fabriken, Werkstätten, Fußgängerbrücken, Kippkarren, die beladen werden, dieser ganze Betrieb am Kanal stimmt Lecouvreur fröhlich."Eugène Dabit kennt das Milieu: 1923 erwerben seine Eltern das Hôtel du Nord, er selber hilft oft als Nachtwächter aus. Die Geschichten seiner einfachen Bewohner faszinieren ihn."Nichts Geringeres will der Roman einfangen, als das wahre Leben der kleinen Leute, mit Krankheit und Tod, wechselnden Liebesverhältnissen, kleinen Freuden, die mit vielen Aperitifs und vielen vins rouges begossen werden." (Tilman Krause, Die Welt)Der Roman endet mit dem Abriss des Hotels - im wahren Leben ist es zum Glück anders: Das Hôtel du Nord steht noch heute und ist nicht zuletzt durch Marcel Carnés Verfilmung des Romans zu einer Kultstätte geworden."
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.03.2015Der Chefin
scharfes Auge
Eugène Dabits Roman „Hôtel du Nord“
aus dem Jahr 1929 – nun wiederzuentdecken in
einer ausgezeichneten Neuübersetzung
VON INA HARTWIG
Dieser kleine Roman von verführerischer Menschlichkeit ist wohl so etwas wie ein nationales Denkmal: „Hôtel du Nord“ von Eugène Dabit. Erschienen 1929, verfilmt 1938 von Marcel Carné, mit der sagenhaften Arletty in einer der Hauptrollen, ging das bescheidene Pariser Hotel am Canal St. Martin ins kollektive Gedächtnis ein. Tatsächlich begegnet man hier auf den ersten Blick einem äußerst einnehmenden Frankreich; arm, aber herzlich; frivol, aber aufrichtig; bisweilen gewalttätig und doch genussfähig; mitfühlend, aber nicht allzu politisiert. Der zweite Blick jedoch lässt unter dem Kleine-Leute-Charme durchaus das echte, böse Elend erkennen.
Es muss etwas in der Luft liegen, denn gegenwärtig werden Romane aus der Zeit der Wirtschaftskrise wiederentdeckt. Man denke nur an den Überraschungserfolg von Ernst Haffners Roman „Blutsbrüder“ über eine Clique bitterarmer Jungen, die sich in Berlin durchschlägt. In Deutschland dominierte der Ton der Neuen Sachlichkeit; Irmgard Keun, Döblin, Brecht und eben auch Haffner, sie alle beherrschten die hinreißende Mischung aus Armut, Pragmatismus und Chuzpe. Eugène Dabits Stil wirkt da fast idyllisch, was auch, aber nicht nur am Schauplatz liegt. Denn obgleich mitten in Paris, trägt die Szenerie dörfliche Züge. Der Radius ist eng abgesteckt: nicht Großstadtmoderne, sondern die Übersichtlichkeit des Quartiers, mit Schleusenwärterhäuschen, Pferdestall und dem täglichen Glas am Tresen.
„Hôtel du Nord“ ist nun von der Schriftstellerin und Romanistin Julia Schoch neu übersetzt worden in ein Deutsch, das durch Sensibilität und Originalität besticht. Nichts klingt hier störend, obgleich Schoch manchmal sogar französische Wörter einstreut. So heißt der Chef beispielsweise „Patron“; oder die Redewendung „la nuit porte conseil“ wird direkt ins Deutsche übernommen: „Die Nacht hatte ihm einen Ratschlag erteilt, und der hieß: Ja!“. Den Ratschlag nämlich, den Kaufvertrag für das vernutzte Hotel am Quai de Jemmapes zu unterschreiben.
Der 1898 geborene Eugène Dabit starb früh, unter nie ganz aufgeklärten Umständen, 1936 in Sewastopol, während einer Schriftstellerreise durch die Sowjetunion. André Gide und Roger Martin du Gard hatten sein Talent erkannt, auch Céline soll einen seiner Romane geschätzt haben. Obwohl sich Dabit politisch nie festlegt hatte, war er doch von der Linken und den Kommunisten vereinnahmt worden, wie etwa von Louis Aragon. Denn Dabit schrieb nicht nur über Lohnarbeiter, Putzfrauen und Dienstmädchen, über Lohnkutscher und gefallene Mädchen, er war selbst Teil dieses Milieus. Niemand anderes als seine Eltern waren die Pächter des Hôtel du Nord. Im Roman heißen sie Émile und Louise Lecouvreur und sind ein Vorbild an Nervenstärke und Verlässlichkeit.
Als Monsieur Lecouvreur beim Immobilienmakler sitzt, erscheint ihm der Kaufvertrag als „ein wahres Hieroglyphenwerk mit seinen 14 Paragraphen“. „Einige schwierige Sätze gärten in seinem Hirn.“ Aber er traut sich nicht zu fragen, was sie bedeuten. Man fürchtet, lesend, schon das Schlimmste, mindestens einen Haken oder gar Betrug. Doch alles geht gut. Der Makler erweist sich als anständiger Mann, wie (fast) alle Gäste, die in den engen, billigen Hotelzimmern residieren und schon bald zum festen Alltag des Pächterehepaars gehören werden.
Als da wären: Renée, das verliebte Mädchen vom Lande, blond, füllig, sommersprossig. „Den lieben langen Tag lehnte sie im Fenster und schaute den Lastkähnen hinterher, die ebenso langsam wie ihre Gedanken vorbeitrieben.“ Sie wartet auf ihren Pierre, der sie bald, schwanger, sitzen lässt. Oder Marius Pluche, der sein Zimmer in eine Küche verwandelt. Oder Bénitaud, der Gewerkschafter, der in seiner Bude das „Kapital“ und die „Humanité“ stapelt. Oder Denise, die der entzückte Patron für eine Schauspielerin hält, in der Madame Lecouvreur aber scharfen Auges sofort das Strichmädchen identifiziert. Klar verdreht sie auch den anderen Männern im Hotel den Kopf, deren Balzverhalten dem Roman seine köstlichste Note gibt.
Zwei Elemente heizen die Stimmung zuverlässig an: Eros und Alkohol. Selbst die Schwestern Pellevoisin, die in keuscher Symbiose in ihrem Zimmerchen schmoren, werden eines Tags Opfer dieser beiden Drogen. Und nicht zu vergessen Monsieur Adrien, der seinen Schlüssel – klug von ihm! – nie abgibt, nach Parfüm duftet und sich selbstverliebt im Spiegel betrachtet. Bis zum Schluss wird Madame Lecouvreur nicht begreifen, was mit ihm los ist. Dabei hilft sie ihm sogar, sich als Carmen herauszuputzen für den Ball im Magic-City.
Renée bekommt ihr Kind, liebt es, gibt es zu einer Amme aufs Land, putzt im Hotel und freundet sich mit der Chefin an. Als das Kind stirbt, zerbricht ihre Moral. Es dauert nicht lang, bis sie Männer, die sie nicht achten, in ihrem Zimmer empfängt. Als eines Tages der Körper einer jungen Frau aus dem Kanal gezogen wird, begreift man, dass nicht jeder, nicht jede die Härten des Lebens aushält. Was aus Renée wird, nachdem die Lecouvreurs sie hinausgeworfen haben, lässt der Roman offen.
Eugène Dabit sagt in wenigen Worten viel. Und er hat einen schönen Sinn für Gerechtigkeit in einer ungerechten Welt, vertrauend auf das weite Spektrum widersprüchlicher menschlicher Regungen, ohne einen Hauch von Naivität, und – das dürfte den enormen Erfolg des Buchs erklären – ohne anzuklagen. Ganz im Gegenteil, er rettet die melancholische Würde seiner längst untergegangenen Herkunftswelt.
Eugène Dabit: Hôtel du Nord. Roman. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Julia Schoch. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2015. 224 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Und so sieht es heute aus,
das legendäre Hôtel du Nord am Canal St. Martin in Paris.
Foto: Guilhem Vellut
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scharfes Auge
Eugène Dabits Roman „Hôtel du Nord“
aus dem Jahr 1929 – nun wiederzuentdecken in
einer ausgezeichneten Neuübersetzung
VON INA HARTWIG
Dieser kleine Roman von verführerischer Menschlichkeit ist wohl so etwas wie ein nationales Denkmal: „Hôtel du Nord“ von Eugène Dabit. Erschienen 1929, verfilmt 1938 von Marcel Carné, mit der sagenhaften Arletty in einer der Hauptrollen, ging das bescheidene Pariser Hotel am Canal St. Martin ins kollektive Gedächtnis ein. Tatsächlich begegnet man hier auf den ersten Blick einem äußerst einnehmenden Frankreich; arm, aber herzlich; frivol, aber aufrichtig; bisweilen gewalttätig und doch genussfähig; mitfühlend, aber nicht allzu politisiert. Der zweite Blick jedoch lässt unter dem Kleine-Leute-Charme durchaus das echte, böse Elend erkennen.
Es muss etwas in der Luft liegen, denn gegenwärtig werden Romane aus der Zeit der Wirtschaftskrise wiederentdeckt. Man denke nur an den Überraschungserfolg von Ernst Haffners Roman „Blutsbrüder“ über eine Clique bitterarmer Jungen, die sich in Berlin durchschlägt. In Deutschland dominierte der Ton der Neuen Sachlichkeit; Irmgard Keun, Döblin, Brecht und eben auch Haffner, sie alle beherrschten die hinreißende Mischung aus Armut, Pragmatismus und Chuzpe. Eugène Dabits Stil wirkt da fast idyllisch, was auch, aber nicht nur am Schauplatz liegt. Denn obgleich mitten in Paris, trägt die Szenerie dörfliche Züge. Der Radius ist eng abgesteckt: nicht Großstadtmoderne, sondern die Übersichtlichkeit des Quartiers, mit Schleusenwärterhäuschen, Pferdestall und dem täglichen Glas am Tresen.
„Hôtel du Nord“ ist nun von der Schriftstellerin und Romanistin Julia Schoch neu übersetzt worden in ein Deutsch, das durch Sensibilität und Originalität besticht. Nichts klingt hier störend, obgleich Schoch manchmal sogar französische Wörter einstreut. So heißt der Chef beispielsweise „Patron“; oder die Redewendung „la nuit porte conseil“ wird direkt ins Deutsche übernommen: „Die Nacht hatte ihm einen Ratschlag erteilt, und der hieß: Ja!“. Den Ratschlag nämlich, den Kaufvertrag für das vernutzte Hotel am Quai de Jemmapes zu unterschreiben.
Der 1898 geborene Eugène Dabit starb früh, unter nie ganz aufgeklärten Umständen, 1936 in Sewastopol, während einer Schriftstellerreise durch die Sowjetunion. André Gide und Roger Martin du Gard hatten sein Talent erkannt, auch Céline soll einen seiner Romane geschätzt haben. Obwohl sich Dabit politisch nie festlegt hatte, war er doch von der Linken und den Kommunisten vereinnahmt worden, wie etwa von Louis Aragon. Denn Dabit schrieb nicht nur über Lohnarbeiter, Putzfrauen und Dienstmädchen, über Lohnkutscher und gefallene Mädchen, er war selbst Teil dieses Milieus. Niemand anderes als seine Eltern waren die Pächter des Hôtel du Nord. Im Roman heißen sie Émile und Louise Lecouvreur und sind ein Vorbild an Nervenstärke und Verlässlichkeit.
Als Monsieur Lecouvreur beim Immobilienmakler sitzt, erscheint ihm der Kaufvertrag als „ein wahres Hieroglyphenwerk mit seinen 14 Paragraphen“. „Einige schwierige Sätze gärten in seinem Hirn.“ Aber er traut sich nicht zu fragen, was sie bedeuten. Man fürchtet, lesend, schon das Schlimmste, mindestens einen Haken oder gar Betrug. Doch alles geht gut. Der Makler erweist sich als anständiger Mann, wie (fast) alle Gäste, die in den engen, billigen Hotelzimmern residieren und schon bald zum festen Alltag des Pächterehepaars gehören werden.
Als da wären: Renée, das verliebte Mädchen vom Lande, blond, füllig, sommersprossig. „Den lieben langen Tag lehnte sie im Fenster und schaute den Lastkähnen hinterher, die ebenso langsam wie ihre Gedanken vorbeitrieben.“ Sie wartet auf ihren Pierre, der sie bald, schwanger, sitzen lässt. Oder Marius Pluche, der sein Zimmer in eine Küche verwandelt. Oder Bénitaud, der Gewerkschafter, der in seiner Bude das „Kapital“ und die „Humanité“ stapelt. Oder Denise, die der entzückte Patron für eine Schauspielerin hält, in der Madame Lecouvreur aber scharfen Auges sofort das Strichmädchen identifiziert. Klar verdreht sie auch den anderen Männern im Hotel den Kopf, deren Balzverhalten dem Roman seine köstlichste Note gibt.
Zwei Elemente heizen die Stimmung zuverlässig an: Eros und Alkohol. Selbst die Schwestern Pellevoisin, die in keuscher Symbiose in ihrem Zimmerchen schmoren, werden eines Tags Opfer dieser beiden Drogen. Und nicht zu vergessen Monsieur Adrien, der seinen Schlüssel – klug von ihm! – nie abgibt, nach Parfüm duftet und sich selbstverliebt im Spiegel betrachtet. Bis zum Schluss wird Madame Lecouvreur nicht begreifen, was mit ihm los ist. Dabei hilft sie ihm sogar, sich als Carmen herauszuputzen für den Ball im Magic-City.
Renée bekommt ihr Kind, liebt es, gibt es zu einer Amme aufs Land, putzt im Hotel und freundet sich mit der Chefin an. Als das Kind stirbt, zerbricht ihre Moral. Es dauert nicht lang, bis sie Männer, die sie nicht achten, in ihrem Zimmer empfängt. Als eines Tages der Körper einer jungen Frau aus dem Kanal gezogen wird, begreift man, dass nicht jeder, nicht jede die Härten des Lebens aushält. Was aus Renée wird, nachdem die Lecouvreurs sie hinausgeworfen haben, lässt der Roman offen.
Eugène Dabit sagt in wenigen Worten viel. Und er hat einen schönen Sinn für Gerechtigkeit in einer ungerechten Welt, vertrauend auf das weite Spektrum widersprüchlicher menschlicher Regungen, ohne einen Hauch von Naivität, und – das dürfte den enormen Erfolg des Buchs erklären – ohne anzuklagen. Ganz im Gegenteil, er rettet die melancholische Würde seiner längst untergegangenen Herkunftswelt.
Eugène Dabit: Hôtel du Nord. Roman. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Julia Schoch. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2015. 224 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Und so sieht es heute aus,
das legendäre Hôtel du Nord am Canal St. Martin in Paris.
Foto: Guilhem Vellut
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