Eine Hütte, kein Haus sollte es sein, als Petra Ahne und ihre Familie ein Domizil auf dem Land suchten: klein, mit Platz nur für das Nötigste, durch nichts als eine Wand von der umgebenden Natur getrennt. Genug, um sich zu schützen, zu träumen, zu denken, sich zu verstecken und sich selbst zu beweisen. Hinter den Wänden einer Hütte nahm die Zivilisation ihren Lauf, wurde der Mensch zu dem, was er ist. Der Bau ihrer eigenen Hütte wirft Fragen nach dem Wesen dieses kleinsten Hauses auf, und so hat sich Petra Ahne auf die Spur der Hütte gemacht und der Fantasien, die sie umgeben. Sie ist mit Alexis de Tocqueville zu den Blockhütten der amerikanischen Siedler gereist und mit den Überlebenden einer gescheiterten Antarktis-Expedition zu dem windumtosten Obdach auf Elephant Island. Sie hat einen Mann getroffen, der seit 55 Jahren allein in einer Hütte lebt, und den FBI-Beamten, der als einer der Ersten das Holzhaus des Unabombers in Montana betrat. Sie hat die Hüttenträume von früher mit denen von heute verglichen. Die Sehnsucht der Städter nach dem Häuschen im Grünen ist groß. Heute mehr denn je hinterfragt die Hütte, was wichtig ist und wie wir leben wollen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.07.2019Ein Drinnen, wo vorher nur Draußen war
Aus Wünschen und scharfkantigen Hölzern: Petra Ahne folgt den Träumen von der elementaren Behausung.
Zu den Neurosen westlicher Weltbewohner des einundzwanzigsten Jahrhunderts gehört der Wunsch, im Verzicht auf alles, was sie nicht zu benötigen meinen, die Erlösung zu finden. Diese Neurose teilen die Bewohner des einundzwanzigsten auch mit ihren Vorfahren des neunzehnten, achtzehnten, siebzehnten und so weiter: Denn seit der Mensch über sich selbst nachdenkt, kam immer wieder jemand daher und erklärte seinen Zeitgenossen, die sich gerade erst über Seife, Kanalisation, Zahnärzte, Internet oder E-Roller gefreut hatten, diese Sache mit der Zivilisation sei ein Irrweg, die Anhäufung der Güter Verblendung, Seelenheil liege einzig im Wegwerfen und Weggehen.
In ihrem Buch buchstabiert die Berliner Journalistin Petra Ahne dieses Phänomen am Beispiel der Hütte durch: Seit der Mensch aus seiner ersten ausgezogen ist (wahlweise war das vor vierhunderttausend Jahren oder zu Zeiten der Entstehung des Alten Testaments), will er wieder zurück in die Ursprünglichkeit der einfachsten Unterkunft: vier Wände, ein Dach, eine Tür, vielleicht ein Fenster. Egal ob Städter wie die Autorin selbst, die ihr Buch an der Baugeschichte ihrer eigenen Hütte in Brandenburg entlang erzählt, ob Philosophen wie Thoreau oder Terroristen wie der "Unabomber" Ted Kaczynski, ja sogar einer der berühmtesten Architekten der Moderne, Le Corbusier: Sie alle träumten von Hütten. Oder lebten zeitweilig darin.
Corbusier stellte seine "Cabanon" - Ahne spricht hübscherweise vom "Wohnmaschinchen" - im Garten eines Anwesens an der Riviera auf - und schenkte sie seiner Frau Yvonne, die sich allerdings beklagte, dass sie mit dem Kopf in der Toilette liegen müsse, so klein war das Ding. In seinen theoretischen Schriften hatte der Architekt diese Hütte vorausgedacht und sich an französischen Fischerhütten orientiert: "Alles dient", auf diese Formel brachte er sie, und auch aus diesem Pathos der Unterordnung hört man wieder den Wunsch heraus, nicht zu viel zu verlangen oder hineinzustecken in die Dinge, mit denen sich der Mensch umgibt.
Auf der Suche nach dem "unverbildeten Schöpfungsakt" (P. Ahne) fand Corbusier die idealen Maße: 3,66 Meter lang, 3,66 Meter tief, 2,26 Meter hoch. Das sind die Koordinaten des Ursprungs. Sie exakt errechnet zu haben, statt die "Natur" (was auch immer das sein mag) die Axt führen zu lassen, könnte man allerdings schon als Indiz jener Verbildung werten, die Corbusier zu überwinden hoffte.
In ihrer knappen Kulturgeschichte reiht Petra Ahne in klaren Worten die berühmtesten Vertreter der Hütte aneinander, Corbusier also, Thoreau natürlich, den Theoretiker Marc-Antoine Laugier, den Schiffbrüchigen Robinson Crusoe - und zählt in einer cleveren Pointe auch den amerikanischen Milliardär Howard Hughes dazu, der sich als Eremit in ein Hotel in Las Vegas zurückzog. Shackletons Matrosen seines im antarktischen Eis havarierten Schiffs wiederum ersehnten auf Elephant Island unter umgedrehten Rettungsbooten monatelang die Rückkehr ihres "Bosses": Dann kam er - und warf zu ihrer Enttäuschung keinen Blick auf ihre Notunterkünfte.
Die Pilgerväter wiederum zivilisierten die amerikanische Wildnis mittels der Blockhütte - deren Bauweise sie von den deutschen und schwedischen Einwanderern lernen mussten. "Der Mensch benutzt die Natur, um sie hinter sich zu lassen", so beschreibt Ahne diese Bewegung nach Westen; aus Holz wird ein Heim, klein, aber dein. Die Hütte, lautet eine andere prägnante Formel der Autorin, "schafft ein Drinnen, wo vorher nur Draußen war". In ihrem reduzierten Stil spiegelt sie ein Wunschleben höchster Konzentration in Abgrenzung zu jener Verbildung, Überschmückung und Entfremdung, die angeblich mit einem Leben auf der Höhe materieller Möglichkeiten unweigerlich einhergeht.
Aber diese Reduktion muss man sich eben leisten können. Die Hütte als Ort der Flucht vor der Zivilisation ist ohne Zivilisation nicht denkbar: "Von einem Leben in der Hütte träumen nur die, die die Freiheit haben, sich dafür zu entscheiden", schreibt Ahne. Sie selbst baut sich, fünfundvierzig Minuten außerhalb Berlins, für ihre Familie - und einen Hund, der noch kommen muss -, auf dem Grundstück einer baufälligen Datscha aus DDR-Zeiten eine Hütte. Aus lauter Wünschen und scharfkantigem Lärchenholz. "Um unser Leben am Wochenende kleiner machen zu können", so schließt Petra Ahne ihr Buch, "haben wir es vergrößert: An zwei Orten läuft jetzt eine Heizung, eine Toilettenspülung, eine Dusche, ein Kühlschrank. Zwischen beiden Orten fährt das Auto hin und her. An einem ist der Alltag, an dem anderen erholen wir uns von ihm." Vielleicht liegt die Erlösung für Menschen von heute eben nicht im Verzicht, sondern in der erkenntnisstiftenden Wirkung leiser Selbstironie.
TOBIAS RÜTHER
Petra Ahne: "Hütten".
Obdach und Sehnsucht.
Matthes & Seitz Verlag,
Berlin 2019.
132 S., Abb., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aus Wünschen und scharfkantigen Hölzern: Petra Ahne folgt den Träumen von der elementaren Behausung.
Zu den Neurosen westlicher Weltbewohner des einundzwanzigsten Jahrhunderts gehört der Wunsch, im Verzicht auf alles, was sie nicht zu benötigen meinen, die Erlösung zu finden. Diese Neurose teilen die Bewohner des einundzwanzigsten auch mit ihren Vorfahren des neunzehnten, achtzehnten, siebzehnten und so weiter: Denn seit der Mensch über sich selbst nachdenkt, kam immer wieder jemand daher und erklärte seinen Zeitgenossen, die sich gerade erst über Seife, Kanalisation, Zahnärzte, Internet oder E-Roller gefreut hatten, diese Sache mit der Zivilisation sei ein Irrweg, die Anhäufung der Güter Verblendung, Seelenheil liege einzig im Wegwerfen und Weggehen.
In ihrem Buch buchstabiert die Berliner Journalistin Petra Ahne dieses Phänomen am Beispiel der Hütte durch: Seit der Mensch aus seiner ersten ausgezogen ist (wahlweise war das vor vierhunderttausend Jahren oder zu Zeiten der Entstehung des Alten Testaments), will er wieder zurück in die Ursprünglichkeit der einfachsten Unterkunft: vier Wände, ein Dach, eine Tür, vielleicht ein Fenster. Egal ob Städter wie die Autorin selbst, die ihr Buch an der Baugeschichte ihrer eigenen Hütte in Brandenburg entlang erzählt, ob Philosophen wie Thoreau oder Terroristen wie der "Unabomber" Ted Kaczynski, ja sogar einer der berühmtesten Architekten der Moderne, Le Corbusier: Sie alle träumten von Hütten. Oder lebten zeitweilig darin.
Corbusier stellte seine "Cabanon" - Ahne spricht hübscherweise vom "Wohnmaschinchen" - im Garten eines Anwesens an der Riviera auf - und schenkte sie seiner Frau Yvonne, die sich allerdings beklagte, dass sie mit dem Kopf in der Toilette liegen müsse, so klein war das Ding. In seinen theoretischen Schriften hatte der Architekt diese Hütte vorausgedacht und sich an französischen Fischerhütten orientiert: "Alles dient", auf diese Formel brachte er sie, und auch aus diesem Pathos der Unterordnung hört man wieder den Wunsch heraus, nicht zu viel zu verlangen oder hineinzustecken in die Dinge, mit denen sich der Mensch umgibt.
Auf der Suche nach dem "unverbildeten Schöpfungsakt" (P. Ahne) fand Corbusier die idealen Maße: 3,66 Meter lang, 3,66 Meter tief, 2,26 Meter hoch. Das sind die Koordinaten des Ursprungs. Sie exakt errechnet zu haben, statt die "Natur" (was auch immer das sein mag) die Axt führen zu lassen, könnte man allerdings schon als Indiz jener Verbildung werten, die Corbusier zu überwinden hoffte.
In ihrer knappen Kulturgeschichte reiht Petra Ahne in klaren Worten die berühmtesten Vertreter der Hütte aneinander, Corbusier also, Thoreau natürlich, den Theoretiker Marc-Antoine Laugier, den Schiffbrüchigen Robinson Crusoe - und zählt in einer cleveren Pointe auch den amerikanischen Milliardär Howard Hughes dazu, der sich als Eremit in ein Hotel in Las Vegas zurückzog. Shackletons Matrosen seines im antarktischen Eis havarierten Schiffs wiederum ersehnten auf Elephant Island unter umgedrehten Rettungsbooten monatelang die Rückkehr ihres "Bosses": Dann kam er - und warf zu ihrer Enttäuschung keinen Blick auf ihre Notunterkünfte.
Die Pilgerväter wiederum zivilisierten die amerikanische Wildnis mittels der Blockhütte - deren Bauweise sie von den deutschen und schwedischen Einwanderern lernen mussten. "Der Mensch benutzt die Natur, um sie hinter sich zu lassen", so beschreibt Ahne diese Bewegung nach Westen; aus Holz wird ein Heim, klein, aber dein. Die Hütte, lautet eine andere prägnante Formel der Autorin, "schafft ein Drinnen, wo vorher nur Draußen war". In ihrem reduzierten Stil spiegelt sie ein Wunschleben höchster Konzentration in Abgrenzung zu jener Verbildung, Überschmückung und Entfremdung, die angeblich mit einem Leben auf der Höhe materieller Möglichkeiten unweigerlich einhergeht.
Aber diese Reduktion muss man sich eben leisten können. Die Hütte als Ort der Flucht vor der Zivilisation ist ohne Zivilisation nicht denkbar: "Von einem Leben in der Hütte träumen nur die, die die Freiheit haben, sich dafür zu entscheiden", schreibt Ahne. Sie selbst baut sich, fünfundvierzig Minuten außerhalb Berlins, für ihre Familie - und einen Hund, der noch kommen muss -, auf dem Grundstück einer baufälligen Datscha aus DDR-Zeiten eine Hütte. Aus lauter Wünschen und scharfkantigem Lärchenholz. "Um unser Leben am Wochenende kleiner machen zu können", so schließt Petra Ahne ihr Buch, "haben wir es vergrößert: An zwei Orten läuft jetzt eine Heizung, eine Toilettenspülung, eine Dusche, ein Kühlschrank. Zwischen beiden Orten fährt das Auto hin und her. An einem ist der Alltag, an dem anderen erholen wir uns von ihm." Vielleicht liegt die Erlösung für Menschen von heute eben nicht im Verzicht, sondern in der erkenntnisstiftenden Wirkung leiser Selbstironie.
TOBIAS RÜTHER
Petra Ahne: "Hütten".
Obdach und Sehnsucht.
Matthes & Seitz Verlag,
Berlin 2019.
132 S., Abb., geb., 28,- [Euro].
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