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Produktdetails
  • Komponistinnen und Komponisten in Bayern 20
  • Verlag: Schneider, Tutzing
  • 1990.
  • Seitenzahl: 128
  • Deutsch
  • Abmessung: 235mm
  • Gewicht: 292g
  • ISBN-13: 9783795206529
  • Artikelnr.: 26613464
  • Herstellerkennzeichnung
  • Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Autorenporträt
Franzpeter Messmer, geboren 1954, ist Musikwissenschaftler.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.01.2001

Ziemlich gesetzt, diese Moderne
Bettina Schlüters Musiktherapie

Der Komponist und Organist Hugo Distler (1908 bis 1942) gilt als Erneuerer der evangelischen Kirchenmusik. Sein tragischer Freitod mit nur vierunddreißig Jahren, mit dem er sich nationalsozialistischen Pressionen entzog, hat seinem Werk die Aura des Märtyrertums verliehen. Der Vorwurf des Unzeitgemäßen, "Vormodernen" blieb jedoch. Der Name Hugo Distler bezeichnet somit ein grundsätzliches Problem der Musikgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts.

Wie Strawinskys Neoklassizismus greift Distlers neobarocke Vokalpolyphonie auf tradierte Formen, Gesten, Techniken zurück, wobei dann doch die Emanzipation der einzelnen Linien immer wieder harte Fügungen erzeugt, die das Zurückgeholte in ein ganz neues Licht bringen. Drückt sich in solchen Härten ein Scheitern der bald nach dem Ersten Weltkrieg einsetzenden, diversen Rückbesinnungen aus, oder wird nicht vielmehr der gesamte Traditionsbestand einer kritischen Revision unterzogen?

Hindemiths Gebrauchsmusik vergleichbar, komponiert Distler für Laienchöre. Steckt in dieser Annäherung des Hohen ans Populare eine Aufhebung der Trennung von Kunst und Leben oder ein Verlust an Reflexionsniveau? Und wie Poulenc oder dann Messiaen schreibt er religiöse, funktionale Musik. Desavouiert das die Autonomie der Kunst, oder bedeutet es ein autonomes Verhältnis zu den religiösen Gehalten? Werden, so kann man das Problem verallgemeinern, in den Zwanzigern und Dreißigern die Intentionen der Moderne verabschiedet oder verwirklicht? Oder müssen wir überhaupt ganz andere Momente an der Moderne hervorheben?

Mutig beginnt Bettina Schlüter ihre Dissertation, die über eine monographische Arbeit zu Distler weit hinausreicht, mit einem Angriff gegen Hermann Danuser. Der hatte sich für die Auswahlkriterien einer Darstellung der Musik des zwanzigsten Jahrhunderts auf das im Kanon objektivierte ästhetische Werturteil berufen, jedoch auch zugegeben, daß der Kontinuitätsbruch der siebziger Jahre dann eigentlich eine Geschichtsrevision erfordere, die die Moderne als Vorgeschichte der Postmoderne behandelt.

Diese Aporie versuchte er zu entschärfen, indem er gegen das Trugbild eines objektiven Historismus auf die notwendige Subjektivität des Autors verweist und indem er vom ästhetischen aufs historische Werturteil ausweicht: Die Kategorien der Moderne, Neuheit und Fortschritt, seien schließlich wegweisend gewesen. So wird am Ende die grundstürzende Erfahrung der Postmoderne rein quantitativ als Erweiterung des Kernbestandes der Neuen Musik neutralisiert, als ließen sich diese beiden Standpunkte irgendwie vereinbaren. Für Bettina Schlüter eine hilflose Flucht vor der Einsicht, daß die Linienziehung musikhistorischer Kontinuitäten sich ästhetischen Setzungen verdankt und diese Setzungen mit dem Abdanken der Avantgarde ihre Suggestivkraft verloren haben.

Die einzige Alternative sei, die ästhetischen Ideen als Kategorien der Selbstbeschreibung dem beobachteten Gegenstandsbereich zuzuweisen. In bewundernswert souveräner Verfügung über die Terminologie der Systemtheorie wird das am Beispiel der Kirchenmusikbewegung durchgespielt. Das Beispiel scheint der Problemweite nicht ganz angemessen. Aber einerseits läßt sich hier in einem abgegrenzten und gut dokumentierten Feld detailliert verfolgen, wie eine solche Bewegung auf die Ausdifferenzierung der Gesellschaft mit Entdifferenzierungsprogrammen reagiert, die der Erfahrung von Kontingenz Invarianten entgegenzustellen versuchen. Andererseits zeigen geschickt gewählte Parallelzitate von Danuser, Dahlhaus und Adorno, daß auch die Neue Musik einen solchen Bewegungscharakter hatte. Zumal die Neigung, die eigenen ästhetischen Ideen als Erfüllung geschichtlicher Tendenzen zu legitimieren, teile die Neue-Musik-Bewegung mit der Kirchenmusikbewegung.

Aber bleibt ein solches Beobachten der Selbstbeschreibungen dem Beobachteten gegenüber nicht parasitär auf die Verblendung der Welt angewiesen, weil ihm sonst die Gegenstände ausgingen? Und trifft es mit den Selbstbeschreibungen überhaupt die Musik selber, wenn doch ausdrücklich die Künstler kein Interpretationsprivileg besitzen sollen? Bettina Schlüter möchte auf Wahrheit und Wirklichkeit verzichten. Doch in Wahrheit empört sie sich über die Bodenlosigkeit von Danusers Argumentation und zeigt energisch den ideologischen Charakter der Kirchenmusikbewegung auf. Und in Wahrheit hat auch sie eine Geschichtsphilosophie. Ansatzweise wird eine systemtheoretische Rekonstruktion der traditionellen analytischen Kategorien gegeben. Da finden sich dann kaum verborgen Ideen von fortschreitender Integration und Differenzierung, fortschreitender Materialbeherrschung, fortschreitender Reflexivität, und die Rede von Authentizität wird als Strategie enttarnt, die Gemachtheit des Werkes zu verbergen.

Das wirkt selbst in diesen Ansätzen solide. Und es wirkt solide, weil es auf einer ausgearbeiteten Gesellschaftstheorie fußt. Denn nicht daß er geschichtsphilosophisch operiert, war das Problem an Danuser, sondern daß er meinte, diese Geschichtsphilosophie rein an der Kompositionsgeschichte ablesen zu können, um dann zwischen der wirklichen und der sein sollenden Geschichte und der Subjektivität des Historikers ins Trudeln zu kommen.

GUSTAV FALKE

Bettina Schlüter: "Hugo Distler". Musikwissenschaftliche Untersuchungen in systemtheoretischer Perspektive. Monolithographien I. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2000. 1 CD, 30,- DM.

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