»Nur im Wechsel ertragen wir unser Leben« Hugo von Hofmannsthal
Unter den großen Autoren der literarischen Moderne ist Hugo von Hofmannsthal ein faszinierender Sonderfall, reich an Widersprüchen und vielfältig in seiner weitgespannten Produktivität. Figuren wie der Rosenkavalier, Lord Chandos oder Jedermann beleben seit über hundert Jahren die Text- und Bühnenwelt. Diese große Gesamtdarstellung zeigt die Texte und Projekte Hofmannsthals in ihren unablässigen Verwandlungen. Besonderen Stellenwert haben die in unterschiedliche künstlerische Welten ausgespannten Netzwerke und Freundschaften, etwa mit Arthur Schnitzler, mit Max Reinhardt oder Richard Strauss. Die Krisen und Konstanten dieses Lebenswerks werden ausgeleuchtet vor dem geschichtlichen Hintergrund eines dramatischen Zeitenwechsels - von der nervösen Jahrhundertwende über die Erschütterungen des Weltkriegs bis hin zur Unübersichtlichkeit der späten zwanziger Jahre. Eine große, fesselnde Biographie und das beeindruckende Porträt eines Schaffens, das erstaunlich lebendig geblieben ist.
Unter den großen Autoren der literarischen Moderne ist Hugo von Hofmannsthal ein faszinierender Sonderfall, reich an Widersprüchen und vielfältig in seiner weitgespannten Produktivität. Figuren wie der Rosenkavalier, Lord Chandos oder Jedermann beleben seit über hundert Jahren die Text- und Bühnenwelt. Diese große Gesamtdarstellung zeigt die Texte und Projekte Hofmannsthals in ihren unablässigen Verwandlungen. Besonderen Stellenwert haben die in unterschiedliche künstlerische Welten ausgespannten Netzwerke und Freundschaften, etwa mit Arthur Schnitzler, mit Max Reinhardt oder Richard Strauss. Die Krisen und Konstanten dieses Lebenswerks werden ausgeleuchtet vor dem geschichtlichen Hintergrund eines dramatischen Zeitenwechsels - von der nervösen Jahrhundertwende über die Erschütterungen des Weltkriegs bis hin zur Unübersichtlichkeit der späten zwanziger Jahre. Eine große, fesselnde Biographie und das beeindruckende Porträt eines Schaffens, das erstaunlich lebendig geblieben ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.02.2024So wurde er noch nicht erzählt
Unglaublich, aber wahr: Erst jetzt zum 150. Geburtstag von Hugo von Hofmannsthal erscheint die erste Biographie. Sie legt Zeugnis ab von einem Leben voller Unruhe und Sehnsucht - und beweist in seinem Werk eine bezwingende Modernität.
Jeeeedermann!" schallt es jeden Sommer aufs Neue durch Salzburg. "Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes" von Hugo von Hofmannsthal, 1911 im Berliner Zirkus Schumann uraufgeführt, gibt traditionell den Auftakt zu den Festspielen, die Hofmannsthal mit Max Reinhardt und Richard Strauss 1920 ins Leben rief, um "allen Menschen" nach dem Elend des Krieges "geistige Freude" zu bereiten.
Der "Jedermann" wird seit seiner ersten Verkörperung durch Alexander Moissi stets neu ausgedeutet. Doch erst seit der Detektivarbeit der Kritischen Hofmannsthal-Gesamtausgabe gilt Robert Burton mit seiner Abhandlung "Anatomie der Melancholie" von 1621 als heimlicher Ideengeber für das Mysterienspiel. So wird mit dem englischen Gelehrten offenbar, warum Hofmannsthal seinen Jedermann exakt vierzig Jahre alt sein lässt: weil in diesem Lebensjahr Burton zufolge die Schwermut des geborenen Melancholikers ausbricht. Jedermann ist also nicht als Kraftmensch angelegt, der sich bei der Begegnung mit dem Tod auf dem Höhepunkt seines Lebens befindet, sondern als Melancholiker.
Erst die Hofmannsthal-Biographie der Basler Germanisten Elsbeth Dangel-Pelloquin und Alexander Honold, die jetzt pünktlich zum 150. Geburtstag im S. Fischer Verlag erscheint, lässt aber nun verstehen, warum der 1874 in Wien geborene Autor, Lyriker, Dramatiker, Erzähler und Essayist, der um die Jahrhundertwende die Lyrik des Jungen Wiens auf ihren Höhepunkt führte und später den Blick auf den Zusammenbruch des alten Österreichs richtete, sich mit Burton befasste. Das hatte längst nicht nur theoretische Gründe.
In ihrer groß angelegten Studie legen Dangel-Pelloquin und Honold erstmals ausführlich dar, was die Forschung bislang nicht im Blick hatte: wie sehr seine Arbeit, ja seine gesamte schriftstellerische Existenz von Gemütsschwankungen geprägt war. Wie sich Schaffenskrisen und Höhenrausch von früh an abwechselten, arbeiten die Biographen insbesondere anhand der Briefe heraus. Von "Flut und Ebbe" spricht der junge Hofmannsthal und vom völligen Austrocknen, das er zunächst mithilfe von Ortswechseln und der Entfernung von den Eltern, zu denen er zeitlebens ein enges Verhältnis hatte, selbst zu kurieren sucht. Später glaubt er nicht mehr daran, sich helfen zu können, sondern beklagt, nie zu wissen, "wann diese Art torpeur der Phantasie" zuschlägt. Mitunter dauern diese Phasen mehrere Monate an.
Dabei spielen äußere Faktoren wie die Jahreszeiten eine Rolle, Sommer und Herbst sind der Arbeit dienlich, dagegen "der Winter verheerend", Hofmannsthal ist extrem wetterfühlig. Seine Briefe gleichen "meteorologischen Berichten", und das Barometer wird Hofmannsthal zum "Messgerät" für die eigene Verfasstheit: "Eine einfach wahnwitzige Instabilität! Nach 2 Tagen schönen Wetters dabei sehr kühl, und mit hohem Barometer, heute scheußlich trüb und dabei so saukalt wie sonst nicht im October. Bei mir natürlich vollständige Stockung. Ich verstehe meine Notizen nicht einmal!", schreibt er 1909 den Eltern.
Auch deshalb war der reizbare Dichter, der stets die Verlassenheit des Menschen und den Verlust der Identität durchdekliniert, ständig unterwegs und suchte "Fluchtorte" auf, etwa den Semmering und Aussee im Salzkammergut. Er hatte keinen Schreibort und festgelegte Zeiten wie Thomas Mann, sondern war umtriebig, arbeitete gern im Freien und mit Bleistift und trug seine Materialien stets mit sich herum. Aber selbst wenn die Natur gebannt und das Wetter stimmig waren, konnte ihn die Schwermut urplötzlich überfallen, neben "Stockung" spricht er dann von "Erstarrung", "Verdüsterung" oder "Öde", die ihn lahmlegen, bis das Blatt sich zugunsten von Glücksgefühlen und Arbeitselan wendet; dann ist von "Strömen und Fließen" die Rede.
Die Wasser- und Wettermetaphorik im Hinblick auf seine Produktivität wird von den Biographen dabei ebenso herausgearbeitet, wie sie noch dem Chandos-Brief, diesem ikonischen Text der Literaturgeschichte (1902), unzählige Male durchgekaut, auf dieser Folie Neues abgewinnen können. Es mag erstaunen, dass mit "Grenzenlose Verwandlung" erstmals überhaupt eine Hofmannsthal-Biographie vorliegt, zwei Jahre nach dem Abschluss der vierzig Bände umfassenden Kritischen Gesamtausgabe. Zwar gibt es vereinzelte biographische Schriften wie das Rororo-Bändchen von Werner Volke von 1967, das gerade hundert Seiten lang ist, oder "Hofmannsthal. Skizzen zu seinem Bild" von Ulrich Weinzierl (S. Fischer, 2007), das aber keine Biographie ist, sondern eine Annäherung an bestimmte Themenkreise. Und Konrad Heumann, der Leiter der Handschriftenabteilung des Freien Deutschen Hochstifts, hat den Band "Hofmannsthal. Orte. 20 biographische Erkundungen" mitherausgegeben. In "Grenzenlose Verwandlung" schlüsseln die Autoren aber erstmals und auf mehr als 900 Seiten das Leben des Autors in all seinen Widersprüchen und Ambivalenzen auf. Dabei gelingt das Kunststück, fesselnd und lehrreich immer wieder neue Schneisen durch das Dickicht des Hofmannsthal-OEuvres zu schlagen, was angesichts von fast 1300 Werken und Werkplänen schon für sich genommen eine Leistung ist.
Die Biographie führt vor Augen, wie ungeheuer vielschichtig dieses Werk ist. Die chronologische Lebensbeschreibung (Dangel) und "Lektüren" überschriebene Werkanalysen (Honold) wechseln einander ab. Es beginnt mit der Wiener Kindheit; Hofmannsthal, der als einziger Sohn eines Bankangestellten mit jüdischen Vorfahren aufwächst, wird zeitlebens unterstellt, von Haus aus vermögend zu sein. Dabei gilt er vielmehr als der erste freischaffende Schriftsteller Österreichs, und Geld, Honorare und Tantiemen spielen bei ihm stets eine Rolle, weil er den Unterhalt für sich und seine Familie selbst verdienen muss.
Akribisch und detailliert erschließt die Biographie die Figur Hofmannsthal und macht Bezüge sichtbar, indem sie etwa Einblicke gibt in das immense Netzwerk, das er unterhielt. Er selbst hatte Listen seiner Bekannten erstellt, gut 150 Personen waren das, "nach Ort oder Berufssparte geordnet", von hochmögenden Adeligen bis zur Vermieterin in Rodaun. Die frühen Wiener Freundschaften zu Richard Beer-Hofmann über Hermann Bahr bis zu Felix Salten werden geschildert, die stets spannungsreiche Freundschaft zu Arthur Schnitzler wie auch die produktiven Arbeitsgemeinschaften mit Max Reinhardt oder Richard Strauss, die belegen, wie sehr Hofmannsthal in seinen Bühnentexten die szenische Umsetzung bereits mitdenkt.
Den Krisen, ob mit Stefan George oder Institutionen wie dem Wiener Burgtheater, stehen Konstanten gegenüber: die Nähe zu den Eltern, die bemerkenswert offene Beziehung zu seiner Frau Gerty. Das alles wird beleuchtet vor dem Hintergrund der Zeitenwende von 1900, die auch bei Hofmannsthal zur kreativen Wende führt, sowie den nachfolgenden Erschütterungen des Ersten Weltkriegs. Hofmannsthal wird mit dem Ton der Neuen Sachlichkeit der Zwanzigerjahre mitunter fremdeln, um dann letztlich auch mit diesem Ton zu spielen. Das bittere Schicksal seiner Frau sowie Freunde und Verwandten, die nach 1933 aus Deutschland und Österreich fliehen müssen, sofern sie nicht dem NS-Terror zum Opfer gefallen sind, bleibt Hofmannsthal erspart. Er stirbt, völlig überraschend, am 15. Juli 1929 erst 55 Jahre alt, kurz vor der Beerdigung seines Sohnes Franz, der sich zwei Tage zuvor im Elternhaus in Rodaun erschoss. Genau ein Jahr zuvor hatte Hofmannsthal seinem alten Freund Schnitzler kondoliert, dessen Tochter auf dieselbe Weise gestorben war.
"Grenzenlose Verwandlung" ist das lesenswerte Porträt eines Schriftstellers, das Anstoß gibt, über Hofmannsthals Dauerbrenner hinaus - die Lyrik, der er später den Rücken kehrte, was Thomas Mann ihm nie verzieh, sowie den Opernlibretti zum "Rosenkavalier" oder "Elektra" - manches neu zu entdecken: das märchenhafte Drama "Bergwerk zu Falun", das lange Zeit als unaufführbar galt; "Der Turm", der, gänzlich frauenlos, heutige Regisseure vor Herausforderungen, dabei die aktuelle Frage nach den Möglichkeiten gerechter Herrschaft stellt; die Charakterkomödie "Der Schwierige"; die selten gespielte mythologische Oper "Die ägyptische Helena" mit Ausschlag hin zur Operette und vorletzte Zusammenarbeit mit Richard Strauss; der Fragment gebliebene Roman "Andreas" über die existenziellen Nöte eines jungen Reisenden, dessen Weg in die Abgründe von Gewalt, sozialem Abstieg und surrealer Erfahrung von Sexualität mündet und gerade als neues Hörspiel vom SWR herausgebracht wurde.
Ein Großteil des Hofmannsthal-Nachlasses wird seit den Sechzigerjahren vom Freien Deutschen Hochstift verwahrt. Nicht zuletzt der Frankfurter Institution ist es zu verdanken, dass es um den Wiener Star der literarischen Moderne nie wirklich still geworden ist. Am 3. Oktober eröffnet dort die große Ausstellung "Hofmannsthal. Szenen", die dessen erstaunliches Ausdrucksspektrum anhand neuer Archivfunde präsentiert. Zugleich findet im Hochstift die Tagung "Hofmannsthal lesen" statt, die seine Texte aus heutiger Sicht verschiedenen Haltbarkeitstests unterzieht. Das Theatermuseum Wien hat soeben die Ausstellung "Staging Hofmannsthal" eröffnet, die seine Bühnenprojekte mit Strauss und Alfred Roller in den Blick nimmt. Im S. Fischer Verlag wird im Herbst der gänzlich unbekannte Briefwechsel zwischen Hofmannsthal und seiner Frau Gerty erscheinen, die erstaunliche Innenansicht einer sehr modernen Ehe. Die zahlreichen Tiefenbohrungen in das materialreiche OEuvre wird auf die Hofmannsthal-Rezeption selbst zurückwirken und neue Impulse geben. Den gelungenen Auftakt ins Hofmannsthal-Jahr macht die Biographie. SANDRA KEGEL
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Unglaublich, aber wahr: Erst jetzt zum 150. Geburtstag von Hugo von Hofmannsthal erscheint die erste Biographie. Sie legt Zeugnis ab von einem Leben voller Unruhe und Sehnsucht - und beweist in seinem Werk eine bezwingende Modernität.
Jeeeedermann!" schallt es jeden Sommer aufs Neue durch Salzburg. "Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes" von Hugo von Hofmannsthal, 1911 im Berliner Zirkus Schumann uraufgeführt, gibt traditionell den Auftakt zu den Festspielen, die Hofmannsthal mit Max Reinhardt und Richard Strauss 1920 ins Leben rief, um "allen Menschen" nach dem Elend des Krieges "geistige Freude" zu bereiten.
Der "Jedermann" wird seit seiner ersten Verkörperung durch Alexander Moissi stets neu ausgedeutet. Doch erst seit der Detektivarbeit der Kritischen Hofmannsthal-Gesamtausgabe gilt Robert Burton mit seiner Abhandlung "Anatomie der Melancholie" von 1621 als heimlicher Ideengeber für das Mysterienspiel. So wird mit dem englischen Gelehrten offenbar, warum Hofmannsthal seinen Jedermann exakt vierzig Jahre alt sein lässt: weil in diesem Lebensjahr Burton zufolge die Schwermut des geborenen Melancholikers ausbricht. Jedermann ist also nicht als Kraftmensch angelegt, der sich bei der Begegnung mit dem Tod auf dem Höhepunkt seines Lebens befindet, sondern als Melancholiker.
Erst die Hofmannsthal-Biographie der Basler Germanisten Elsbeth Dangel-Pelloquin und Alexander Honold, die jetzt pünktlich zum 150. Geburtstag im S. Fischer Verlag erscheint, lässt aber nun verstehen, warum der 1874 in Wien geborene Autor, Lyriker, Dramatiker, Erzähler und Essayist, der um die Jahrhundertwende die Lyrik des Jungen Wiens auf ihren Höhepunkt führte und später den Blick auf den Zusammenbruch des alten Österreichs richtete, sich mit Burton befasste. Das hatte längst nicht nur theoretische Gründe.
In ihrer groß angelegten Studie legen Dangel-Pelloquin und Honold erstmals ausführlich dar, was die Forschung bislang nicht im Blick hatte: wie sehr seine Arbeit, ja seine gesamte schriftstellerische Existenz von Gemütsschwankungen geprägt war. Wie sich Schaffenskrisen und Höhenrausch von früh an abwechselten, arbeiten die Biographen insbesondere anhand der Briefe heraus. Von "Flut und Ebbe" spricht der junge Hofmannsthal und vom völligen Austrocknen, das er zunächst mithilfe von Ortswechseln und der Entfernung von den Eltern, zu denen er zeitlebens ein enges Verhältnis hatte, selbst zu kurieren sucht. Später glaubt er nicht mehr daran, sich helfen zu können, sondern beklagt, nie zu wissen, "wann diese Art torpeur der Phantasie" zuschlägt. Mitunter dauern diese Phasen mehrere Monate an.
Dabei spielen äußere Faktoren wie die Jahreszeiten eine Rolle, Sommer und Herbst sind der Arbeit dienlich, dagegen "der Winter verheerend", Hofmannsthal ist extrem wetterfühlig. Seine Briefe gleichen "meteorologischen Berichten", und das Barometer wird Hofmannsthal zum "Messgerät" für die eigene Verfasstheit: "Eine einfach wahnwitzige Instabilität! Nach 2 Tagen schönen Wetters dabei sehr kühl, und mit hohem Barometer, heute scheußlich trüb und dabei so saukalt wie sonst nicht im October. Bei mir natürlich vollständige Stockung. Ich verstehe meine Notizen nicht einmal!", schreibt er 1909 den Eltern.
Auch deshalb war der reizbare Dichter, der stets die Verlassenheit des Menschen und den Verlust der Identität durchdekliniert, ständig unterwegs und suchte "Fluchtorte" auf, etwa den Semmering und Aussee im Salzkammergut. Er hatte keinen Schreibort und festgelegte Zeiten wie Thomas Mann, sondern war umtriebig, arbeitete gern im Freien und mit Bleistift und trug seine Materialien stets mit sich herum. Aber selbst wenn die Natur gebannt und das Wetter stimmig waren, konnte ihn die Schwermut urplötzlich überfallen, neben "Stockung" spricht er dann von "Erstarrung", "Verdüsterung" oder "Öde", die ihn lahmlegen, bis das Blatt sich zugunsten von Glücksgefühlen und Arbeitselan wendet; dann ist von "Strömen und Fließen" die Rede.
Die Wasser- und Wettermetaphorik im Hinblick auf seine Produktivität wird von den Biographen dabei ebenso herausgearbeitet, wie sie noch dem Chandos-Brief, diesem ikonischen Text der Literaturgeschichte (1902), unzählige Male durchgekaut, auf dieser Folie Neues abgewinnen können. Es mag erstaunen, dass mit "Grenzenlose Verwandlung" erstmals überhaupt eine Hofmannsthal-Biographie vorliegt, zwei Jahre nach dem Abschluss der vierzig Bände umfassenden Kritischen Gesamtausgabe. Zwar gibt es vereinzelte biographische Schriften wie das Rororo-Bändchen von Werner Volke von 1967, das gerade hundert Seiten lang ist, oder "Hofmannsthal. Skizzen zu seinem Bild" von Ulrich Weinzierl (S. Fischer, 2007), das aber keine Biographie ist, sondern eine Annäherung an bestimmte Themenkreise. Und Konrad Heumann, der Leiter der Handschriftenabteilung des Freien Deutschen Hochstifts, hat den Band "Hofmannsthal. Orte. 20 biographische Erkundungen" mitherausgegeben. In "Grenzenlose Verwandlung" schlüsseln die Autoren aber erstmals und auf mehr als 900 Seiten das Leben des Autors in all seinen Widersprüchen und Ambivalenzen auf. Dabei gelingt das Kunststück, fesselnd und lehrreich immer wieder neue Schneisen durch das Dickicht des Hofmannsthal-OEuvres zu schlagen, was angesichts von fast 1300 Werken und Werkplänen schon für sich genommen eine Leistung ist.
Die Biographie führt vor Augen, wie ungeheuer vielschichtig dieses Werk ist. Die chronologische Lebensbeschreibung (Dangel) und "Lektüren" überschriebene Werkanalysen (Honold) wechseln einander ab. Es beginnt mit der Wiener Kindheit; Hofmannsthal, der als einziger Sohn eines Bankangestellten mit jüdischen Vorfahren aufwächst, wird zeitlebens unterstellt, von Haus aus vermögend zu sein. Dabei gilt er vielmehr als der erste freischaffende Schriftsteller Österreichs, und Geld, Honorare und Tantiemen spielen bei ihm stets eine Rolle, weil er den Unterhalt für sich und seine Familie selbst verdienen muss.
Akribisch und detailliert erschließt die Biographie die Figur Hofmannsthal und macht Bezüge sichtbar, indem sie etwa Einblicke gibt in das immense Netzwerk, das er unterhielt. Er selbst hatte Listen seiner Bekannten erstellt, gut 150 Personen waren das, "nach Ort oder Berufssparte geordnet", von hochmögenden Adeligen bis zur Vermieterin in Rodaun. Die frühen Wiener Freundschaften zu Richard Beer-Hofmann über Hermann Bahr bis zu Felix Salten werden geschildert, die stets spannungsreiche Freundschaft zu Arthur Schnitzler wie auch die produktiven Arbeitsgemeinschaften mit Max Reinhardt oder Richard Strauss, die belegen, wie sehr Hofmannsthal in seinen Bühnentexten die szenische Umsetzung bereits mitdenkt.
Den Krisen, ob mit Stefan George oder Institutionen wie dem Wiener Burgtheater, stehen Konstanten gegenüber: die Nähe zu den Eltern, die bemerkenswert offene Beziehung zu seiner Frau Gerty. Das alles wird beleuchtet vor dem Hintergrund der Zeitenwende von 1900, die auch bei Hofmannsthal zur kreativen Wende führt, sowie den nachfolgenden Erschütterungen des Ersten Weltkriegs. Hofmannsthal wird mit dem Ton der Neuen Sachlichkeit der Zwanzigerjahre mitunter fremdeln, um dann letztlich auch mit diesem Ton zu spielen. Das bittere Schicksal seiner Frau sowie Freunde und Verwandten, die nach 1933 aus Deutschland und Österreich fliehen müssen, sofern sie nicht dem NS-Terror zum Opfer gefallen sind, bleibt Hofmannsthal erspart. Er stirbt, völlig überraschend, am 15. Juli 1929 erst 55 Jahre alt, kurz vor der Beerdigung seines Sohnes Franz, der sich zwei Tage zuvor im Elternhaus in Rodaun erschoss. Genau ein Jahr zuvor hatte Hofmannsthal seinem alten Freund Schnitzler kondoliert, dessen Tochter auf dieselbe Weise gestorben war.
"Grenzenlose Verwandlung" ist das lesenswerte Porträt eines Schriftstellers, das Anstoß gibt, über Hofmannsthals Dauerbrenner hinaus - die Lyrik, der er später den Rücken kehrte, was Thomas Mann ihm nie verzieh, sowie den Opernlibretti zum "Rosenkavalier" oder "Elektra" - manches neu zu entdecken: das märchenhafte Drama "Bergwerk zu Falun", das lange Zeit als unaufführbar galt; "Der Turm", der, gänzlich frauenlos, heutige Regisseure vor Herausforderungen, dabei die aktuelle Frage nach den Möglichkeiten gerechter Herrschaft stellt; die Charakterkomödie "Der Schwierige"; die selten gespielte mythologische Oper "Die ägyptische Helena" mit Ausschlag hin zur Operette und vorletzte Zusammenarbeit mit Richard Strauss; der Fragment gebliebene Roman "Andreas" über die existenziellen Nöte eines jungen Reisenden, dessen Weg in die Abgründe von Gewalt, sozialem Abstieg und surrealer Erfahrung von Sexualität mündet und gerade als neues Hörspiel vom SWR herausgebracht wurde.
Ein Großteil des Hofmannsthal-Nachlasses wird seit den Sechzigerjahren vom Freien Deutschen Hochstift verwahrt. Nicht zuletzt der Frankfurter Institution ist es zu verdanken, dass es um den Wiener Star der literarischen Moderne nie wirklich still geworden ist. Am 3. Oktober eröffnet dort die große Ausstellung "Hofmannsthal. Szenen", die dessen erstaunliches Ausdrucksspektrum anhand neuer Archivfunde präsentiert. Zugleich findet im Hochstift die Tagung "Hofmannsthal lesen" statt, die seine Texte aus heutiger Sicht verschiedenen Haltbarkeitstests unterzieht. Das Theatermuseum Wien hat soeben die Ausstellung "Staging Hofmannsthal" eröffnet, die seine Bühnenprojekte mit Strauss und Alfred Roller in den Blick nimmt. Im S. Fischer Verlag wird im Herbst der gänzlich unbekannte Briefwechsel zwischen Hofmannsthal und seiner Frau Gerty erscheinen, die erstaunliche Innenansicht einer sehr modernen Ehe. Die zahlreichen Tiefenbohrungen in das materialreiche OEuvre wird auf die Hofmannsthal-Rezeption selbst zurückwirken und neue Impulse geben. Den gelungenen Auftakt ins Hofmannsthal-Jahr macht die Biographie. SANDRA KEGEL
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Ergriffen, nachdenklich und bereichert schließt man die neunhundertseitige Hofmannsthal-Biografie [...]. Cornelius Hell Österreichischer Rundfunk, Ö1 (Ex libris) 20240303