Produktdetails
- Verlag: Nicolai Berlin
- Seitenzahl: 172
- Abmessung: 215mm
- Gewicht: 371g
- ISBN-13: 9783875847154
- ISBN-10: 3875847156
- Artikelnr.: 24662345
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.11.1998Verständige Zauberei
Zerzupfter Dunst: Jürgen Eggebrechts Wörterbuch der Kindheit
Auf dem Tisch im Studierzimmer des Vaters liegen die Werke des Theologen Johann Albrecht Bengel, zwischen den Rehgehörnen hängt ein Porträt Martin Luthers, und im Haus des Onkels gibt es, handkoloriert, die Apostelgestalten Dürers. Den "Fanatismus zur Transzendenz" allerdings, von dem der Pfarrerssohn Gottfried Benn in Erinnerung an die Atmosphäre seines Vaterhauses sprach, gibt es nicht. Dieses Buch des Verlagslektors, Rundfunkredakteurs und Schriftstellers Jürgen Eggebrecht, der vor hundert Jahren, am 17. November 1898, als Sohn des Dorfpfarrers in Baben in der Altmark geboren wurde und 1982 in München starb, ist durch und durch irdisch und sehr vertrackt. Innerhalb der großen literarischen Tradition, die dem deutschen protestantischen Pfarrhaus entstammt, schlägt es einen sehr eigenen Ton an. Von den letzten Dingen ist es darin nicht weit zum Schabernack, von den Bibelstellen, über die der Vater predigt, nicht weit zu einer Anekdote.
Das Buch verrätselt die Herkunftswelt des Autors ebensogut, wie es sie erzählt. Ein Motto ist von Laurence Sterne und lobt den wahren Leser, der "die halben Kosten seiner Unterhaltung" selbst trägt. Das andere entstammt einem Schreiben Friedrichs des Zweiten an Voltaire: "empfangen Sie mit meinen guten Wünschen die aller Bewohner des Nordens und dieser Gegenden". Eggebrechts Erinnerungen erschienen erstmals im Jahre 1971 unter dem Titel "Vaters Haus". Der nun wiederhergestellte Originaltitel dürfte dem Verlag allzu kryptisch gewesen sein. Die Provinz, die hier erinnert wurde, war aus dem Blickwinkel geraten. Stendal, Osterburg und Salzwedel lagen irgendwo in der DDR, die Gegend um Königslutter war Zonenrandgebiet. Befremdlich mußte zudem die tief im achtzehnten Jahrhundert verwurzelte Sprache in einer Zeit wirken, in der sich die Modernisierung des Alltagslebens und des Nachkriegsdeutsch drastisch beschleunigte. Nicht nur in den Krähenschwärmen über ihren Schneefeldern nahm hier die Altmark Gestalt an, sondern auch in ihrer Mundart.
Das Platt der Dorfbevölkerung und die Einsprengsel der klassisch-humanistischen Gelehrsamkeit und literarischen Bildung des Pfarrhauses sind ähnlich fest verflochten wie die Körbe, in denen Kräuter mit nahezu ausgestorbenen Namen und Gemüse sich sammeln.
Wie Johannes Bobrowskis "Levins Mühle" (1964) ist auch dieses Buch die Prosaarbeit eines Lyrikers, der seine Worte mit der Stimmgabel prüft. Eggebrecht, mit Günter Eich und Peter Huchel befreundet, mußte Ende der fünfziger Jahre seine Stellung als Leiter des Kulturellen Wortes im Nordwestdeutschen Rundfunk wegen eines Tumors im Kopf aufgeben. Nach einer Gehirnoperation verlor er die Sprache und gewann sie nur mühsam zurück. Diese Erfahrung eines zweiten Spracherwerbs mag in die Beharrlichkeit eingegangen sein, mit der er dem Wörterbuch der eigenen Kindheit, der Väter und Großväter die Treue gehalten wird. "Sie jachterten heim in einem rauchig zerzupften Dunst." Ein kleines Lexikon voller Dorfkossathen, Taternwagen und schwippen Weiden ließe sich aus diesem Buch herausschreiben. Von behäbiger Provinzschnurrerei ist es dennoch weit entfernt. Die große Literatur bis hinab zu Horaz und Ovid, nicht die kleine Lebenswelt bildet den Echoraum. Auf einem Dorffriedhof kommt einem das Motto von Lessings "Nathan" entgegen: "Tretet ein, denn auch hier sind Götter". Techniken der Abbreviatur und Andeutung geben mancherlei Rätsel auf. Von der Kindheit und Jugend wird, in der Nachfolge Sternes, in episodischen Miniaturen statt in gemächlicher Chronologie erzählt. Mit dem Tod des Vaters, des Pfarrers, im Dezember 1941 beginnt das Buch, im Juli 1914, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, endet es.
Ein Schlüsselkapitel heißt "Neues zum Beylismus". Auf der Oberfläche ist es eine launige literarhistorische Mystifikation. Dem großen "Egotisten", Abgesandten Napoleons und Verfasser von "De l'Amour", dichtet es eine kleine Stendaler Liebesepisode an, die besser als der nicht sehr weitreichende Respekt vor Winckelmann erklären könnte, warum Stendhal sich den Namen der Provinzstadt in der Altmark beilegte. Unterhalb dieser luftigen Oberfläche hat Eggebrecht die Poetik seines auch im Wortsinne irdischen Buches versteckt. Die Ironisierung des Klassizisten Winckelmann mit Hilfe eines faunsköpfigen Gymnasialprofessors ist darin der Ausgangspunkt, die Archäologie der Altmark das Ziel. Vom Gespräch über die Elementargeister und Grabstätten der Slawen versteht der Knabe "Lentulus" immerhin so viel, "daß der Obotrite Schliemann aus dem nahen Mecklenburg, statt Burgen und Festungen in Kleinasien und Griechenland umzupflügen, hierher hätte kommen sollen, um in die Schlüfte und Zeiten der alten Wendenfriedhöfe zu blicken". Chamisso spukt nicht nur als Lyriker und Weltumsegler, sondern auch als Erforscher der Torfmoore im Havelland durch die Kapitel.
Eggebrecht spielt gelegentlich mit dem Genre der humoristischen Dorfidylle. Die Jungen streifen als Indianer durch die Felder, ein Kind versteckt sich im Backofen, es gibt Vikare und Schulmeister wie aus dem Jean-Paulschen Lehrbuch, und der Scheidungsanwalt aus Braunschweig verkehrt in Wilhelms Raabes Stammgasthaus. Doch gibt es in diesem Buch keine gänzlich harmlose Heiterkeit. Seine literarische Archäologie ist gräberzentriert. Das geheime Zentrum des Kapitels über Winckelmann und Stendhal ist eine Würdigung der Totentanzdarstellung in den backsteingotischen Kirchen der Mark. Eine furiose Passage schildert einen drastisch-derben Totentanz unter der Oberfläche des Dorffriedhofs. Das Einswerden der Leichen mit der Erde erscheint darin als "ein unterirdisches Sauf- und Freßgelage, daß man glauben mußte, Landsknechte würfelten aus Knobelbechern und droschen, als die Haut des Objekts von den Würmern platzte und sich mit einer aus ihrem Darm kommenden immmer neuen Erde vermischte, aufeinander los".
Die Allgegenwart des Todes noch in den vergnüglichsten Passagen dieses im Sinne des achtzehnten Jahrhunderts "witzigen" Buches hat eine historische Signatur. Ebenso unaufdringlich wie unübersehbar ist in diese Kindheitserinnerung das Porträt einer Vorkriegsepoche eingezeichnet. Einmal blitzten die Schrecken auf, die der Erzähler als junger Soldat im Ersten Weltkrieg erleben wird. Im Nachspielen glorreicher Schlachten beim Sedansfest, beim Besuch der Kaiserin Auguste Viktoria nimmt die späte wilhelminische Ära Gestalt an. Der Tod des Bruders setzt den Schlußpunkt unter die Erinnerungen, die mit dem Tod des Vaters begannen. Beiläufiger als hier dürfte die Epochenzäsur, die der Erste Weltkrieg bedeutete, kaum jemals in die Schilderung seines Vorabends eingezeichnet, lakonischer der Opfer kaum je gedacht worden sein als in dem Epitaph, den der Schlußsatz des Buches dem Bruder und seinem Freund setzt, die die Marschordnung des deutsches Heeres bereits haben lernen müssen: "Sie waren zwanzig - einundzwanzig wurden sie nicht." LOTHAR MÜLLER
Jürgen Eggebrecht: "Huldigung der nördlichen Stämme." Mit einer Einleitung von Sten Nadolny und Fotografien von Manfred Hamm. Nicolai Verlag, Berlin 1998. 172 S., Abb., geb., 29,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zerzupfter Dunst: Jürgen Eggebrechts Wörterbuch der Kindheit
Auf dem Tisch im Studierzimmer des Vaters liegen die Werke des Theologen Johann Albrecht Bengel, zwischen den Rehgehörnen hängt ein Porträt Martin Luthers, und im Haus des Onkels gibt es, handkoloriert, die Apostelgestalten Dürers. Den "Fanatismus zur Transzendenz" allerdings, von dem der Pfarrerssohn Gottfried Benn in Erinnerung an die Atmosphäre seines Vaterhauses sprach, gibt es nicht. Dieses Buch des Verlagslektors, Rundfunkredakteurs und Schriftstellers Jürgen Eggebrecht, der vor hundert Jahren, am 17. November 1898, als Sohn des Dorfpfarrers in Baben in der Altmark geboren wurde und 1982 in München starb, ist durch und durch irdisch und sehr vertrackt. Innerhalb der großen literarischen Tradition, die dem deutschen protestantischen Pfarrhaus entstammt, schlägt es einen sehr eigenen Ton an. Von den letzten Dingen ist es darin nicht weit zum Schabernack, von den Bibelstellen, über die der Vater predigt, nicht weit zu einer Anekdote.
Das Buch verrätselt die Herkunftswelt des Autors ebensogut, wie es sie erzählt. Ein Motto ist von Laurence Sterne und lobt den wahren Leser, der "die halben Kosten seiner Unterhaltung" selbst trägt. Das andere entstammt einem Schreiben Friedrichs des Zweiten an Voltaire: "empfangen Sie mit meinen guten Wünschen die aller Bewohner des Nordens und dieser Gegenden". Eggebrechts Erinnerungen erschienen erstmals im Jahre 1971 unter dem Titel "Vaters Haus". Der nun wiederhergestellte Originaltitel dürfte dem Verlag allzu kryptisch gewesen sein. Die Provinz, die hier erinnert wurde, war aus dem Blickwinkel geraten. Stendal, Osterburg und Salzwedel lagen irgendwo in der DDR, die Gegend um Königslutter war Zonenrandgebiet. Befremdlich mußte zudem die tief im achtzehnten Jahrhundert verwurzelte Sprache in einer Zeit wirken, in der sich die Modernisierung des Alltagslebens und des Nachkriegsdeutsch drastisch beschleunigte. Nicht nur in den Krähenschwärmen über ihren Schneefeldern nahm hier die Altmark Gestalt an, sondern auch in ihrer Mundart.
Das Platt der Dorfbevölkerung und die Einsprengsel der klassisch-humanistischen Gelehrsamkeit und literarischen Bildung des Pfarrhauses sind ähnlich fest verflochten wie die Körbe, in denen Kräuter mit nahezu ausgestorbenen Namen und Gemüse sich sammeln.
Wie Johannes Bobrowskis "Levins Mühle" (1964) ist auch dieses Buch die Prosaarbeit eines Lyrikers, der seine Worte mit der Stimmgabel prüft. Eggebrecht, mit Günter Eich und Peter Huchel befreundet, mußte Ende der fünfziger Jahre seine Stellung als Leiter des Kulturellen Wortes im Nordwestdeutschen Rundfunk wegen eines Tumors im Kopf aufgeben. Nach einer Gehirnoperation verlor er die Sprache und gewann sie nur mühsam zurück. Diese Erfahrung eines zweiten Spracherwerbs mag in die Beharrlichkeit eingegangen sein, mit der er dem Wörterbuch der eigenen Kindheit, der Väter und Großväter die Treue gehalten wird. "Sie jachterten heim in einem rauchig zerzupften Dunst." Ein kleines Lexikon voller Dorfkossathen, Taternwagen und schwippen Weiden ließe sich aus diesem Buch herausschreiben. Von behäbiger Provinzschnurrerei ist es dennoch weit entfernt. Die große Literatur bis hinab zu Horaz und Ovid, nicht die kleine Lebenswelt bildet den Echoraum. Auf einem Dorffriedhof kommt einem das Motto von Lessings "Nathan" entgegen: "Tretet ein, denn auch hier sind Götter". Techniken der Abbreviatur und Andeutung geben mancherlei Rätsel auf. Von der Kindheit und Jugend wird, in der Nachfolge Sternes, in episodischen Miniaturen statt in gemächlicher Chronologie erzählt. Mit dem Tod des Vaters, des Pfarrers, im Dezember 1941 beginnt das Buch, im Juli 1914, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, endet es.
Ein Schlüsselkapitel heißt "Neues zum Beylismus". Auf der Oberfläche ist es eine launige literarhistorische Mystifikation. Dem großen "Egotisten", Abgesandten Napoleons und Verfasser von "De l'Amour", dichtet es eine kleine Stendaler Liebesepisode an, die besser als der nicht sehr weitreichende Respekt vor Winckelmann erklären könnte, warum Stendhal sich den Namen der Provinzstadt in der Altmark beilegte. Unterhalb dieser luftigen Oberfläche hat Eggebrecht die Poetik seines auch im Wortsinne irdischen Buches versteckt. Die Ironisierung des Klassizisten Winckelmann mit Hilfe eines faunsköpfigen Gymnasialprofessors ist darin der Ausgangspunkt, die Archäologie der Altmark das Ziel. Vom Gespräch über die Elementargeister und Grabstätten der Slawen versteht der Knabe "Lentulus" immerhin so viel, "daß der Obotrite Schliemann aus dem nahen Mecklenburg, statt Burgen und Festungen in Kleinasien und Griechenland umzupflügen, hierher hätte kommen sollen, um in die Schlüfte und Zeiten der alten Wendenfriedhöfe zu blicken". Chamisso spukt nicht nur als Lyriker und Weltumsegler, sondern auch als Erforscher der Torfmoore im Havelland durch die Kapitel.
Eggebrecht spielt gelegentlich mit dem Genre der humoristischen Dorfidylle. Die Jungen streifen als Indianer durch die Felder, ein Kind versteckt sich im Backofen, es gibt Vikare und Schulmeister wie aus dem Jean-Paulschen Lehrbuch, und der Scheidungsanwalt aus Braunschweig verkehrt in Wilhelms Raabes Stammgasthaus. Doch gibt es in diesem Buch keine gänzlich harmlose Heiterkeit. Seine literarische Archäologie ist gräberzentriert. Das geheime Zentrum des Kapitels über Winckelmann und Stendhal ist eine Würdigung der Totentanzdarstellung in den backsteingotischen Kirchen der Mark. Eine furiose Passage schildert einen drastisch-derben Totentanz unter der Oberfläche des Dorffriedhofs. Das Einswerden der Leichen mit der Erde erscheint darin als "ein unterirdisches Sauf- und Freßgelage, daß man glauben mußte, Landsknechte würfelten aus Knobelbechern und droschen, als die Haut des Objekts von den Würmern platzte und sich mit einer aus ihrem Darm kommenden immmer neuen Erde vermischte, aufeinander los".
Die Allgegenwart des Todes noch in den vergnüglichsten Passagen dieses im Sinne des achtzehnten Jahrhunderts "witzigen" Buches hat eine historische Signatur. Ebenso unaufdringlich wie unübersehbar ist in diese Kindheitserinnerung das Porträt einer Vorkriegsepoche eingezeichnet. Einmal blitzten die Schrecken auf, die der Erzähler als junger Soldat im Ersten Weltkrieg erleben wird. Im Nachspielen glorreicher Schlachten beim Sedansfest, beim Besuch der Kaiserin Auguste Viktoria nimmt die späte wilhelminische Ära Gestalt an. Der Tod des Bruders setzt den Schlußpunkt unter die Erinnerungen, die mit dem Tod des Vaters begannen. Beiläufiger als hier dürfte die Epochenzäsur, die der Erste Weltkrieg bedeutete, kaum jemals in die Schilderung seines Vorabends eingezeichnet, lakonischer der Opfer kaum je gedacht worden sein als in dem Epitaph, den der Schlußsatz des Buches dem Bruder und seinem Freund setzt, die die Marschordnung des deutsches Heeres bereits haben lernen müssen: "Sie waren zwanzig - einundzwanzig wurden sie nicht." LOTHAR MÜLLER
Jürgen Eggebrecht: "Huldigung der nördlichen Stämme." Mit einer Einleitung von Sten Nadolny und Fotografien von Manfred Hamm. Nicolai Verlag, Berlin 1998. 172 S., Abb., geb., 29,80 DM.
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