Produktdetails
- dtv Taschenbücher
- Verlag: DTV
- Abmessung: 191mm x 120mm x 25mm
- Gewicht: 390g
- ISBN-13: 9783423122412
- Artikelnr.: 24129111
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.2009Die Nebel von Macondo
Ich habe es ja versucht. Als ich im Buch irgendwann nicht mehr weiterkam, habe ich es mir sogar vorlesen lassen, im Norddeutschen Rundfunk, immer um halb neun Uhr morgens. Aber auch das dauerte und quälte und zog sich hin. Weil der Schauspieler, der "Hundert Jahre Einsamkeit" von Gabriel García Márquez damals vortrug, es war vermutlich Gert Westphal, die knappe halbe Stunde, die er dazu hatte, meist damit vergeuden musste, immer wieder diesen unendlichen Namen durchzubuchstabieren: José Arcadio Buendía. Noch ein José Arcadio Buendía. Und dazu ein José Arcadio Segundo Buendía. Und danach schon wieder ein José Arcadio Buendía. Dessen Schwester heißt Renata Remedios Buendía. Und deren Mutter Aureliana Segundo Buendía. Nicht zu vergessen Santa Sofia von der Frömmigkeit. Aureliano Triste. Mauricio Babilonia. Oda-Gebbine Holze-Stäblein. Thorsten Schäfer-Gümbel. Dann waren die dreißig Minuten am Radio vorbei und Vorleser und Zuhörer gleichermaßen erschöpft.
Ich vermute, in Wirklichkeit hat dieser Amazonas von Vornamen und Nachnamen und Rängen den entrückten Zustand hervorgebracht, den man magischen Realismus nannte. Lateinamerika, das war für mich kein Geisterhaus, sondern ein Standesamt. Wenn einen aber Meisterwerke nobelpreisprämierter Großschriftsteller nerven, die andere in Wallung bringen, traut man zuerst einmal der eigenen Urteilskraft nicht mehr. Und beginnt, die Schuld bei sich selbst zu suchen: zu einsilbig. Zu kaltblütig. Zu diesseitig. Zu wenig Vornamen. Zu viel Norddeutscher Rundfunk, zu wenig Fitzcarraldo. Aber dann las ich, wie Julian Barnes in "Flauberts Papagei" eine Art Kontinentalsperre für südamerikanische Romane forderte, und war wieder beruhigt. Barnes hatte offenbar auch die Nase voll vom dampfenden Geruch des Regenwalds, von fadenscheinigen Damen mit zweitem Gesicht, Zaubervögeln (Flauberts Papagei hat damit nichts zu tun, der war ausgestopft!), flüsternden Nebeln, hellsehenden Bäumen, Dschungeldörfern, wundertätigen Wurzeln und ewigen Alten - und verlangte nach Subventionen für Romane, die am Nord- oder Südpol spielen.
Für diese Bücher wiederum könnte man mittlerweile zwar auch und mit gleichem Recht eine Kontinentalsperre fordern. Damals aber, als die Leute nicht genug vom schwülen Klima verrätselter Familiengeschichten bekommen konnten, verstand ich den Bedarf an kaltem, klarem Wasser genau. Das Fabulierpathos von "Hundert Jahre Einsamkeit", der Überdruss an Phantasie, der Aberglaube als Erzählmodus: Alles schön und gut. Aber wenn heute infantile Regression beklagt wird, weil sich Leser jenseits der mittleren Reife tief in die Welt von Harry Potter hineinfräsen, kann ich nur sagen: Da waren wir schon mal. (Barnes hat in "Flauberts Papagei" übrigens auch einen Auslieferungsstopp für englische Schuluniformromane gefordert.) Und hat man Südamerika, das in der mittleren Phase der alten Bundesrepublik als Sorgenkind und Sehnsuchtsort zugleich entdeckt wurde, eigentlich gut damit getan, es vor allem als Land exotischer Riten und Familienbünde zu genießen? Dort drüben allerdings wurde "Hundert Jahre Einsamkeit" unvorstellbar oft gelesen. Vielleicht bin ich doch das Problem.
TOBIAS RÜTHER
Gabriel García Márquez: "Hundert Jahre Einsamkeit". Fischer-Taschenbuch-Verlag, 10 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ich habe es ja versucht. Als ich im Buch irgendwann nicht mehr weiterkam, habe ich es mir sogar vorlesen lassen, im Norddeutschen Rundfunk, immer um halb neun Uhr morgens. Aber auch das dauerte und quälte und zog sich hin. Weil der Schauspieler, der "Hundert Jahre Einsamkeit" von Gabriel García Márquez damals vortrug, es war vermutlich Gert Westphal, die knappe halbe Stunde, die er dazu hatte, meist damit vergeuden musste, immer wieder diesen unendlichen Namen durchzubuchstabieren: José Arcadio Buendía. Noch ein José Arcadio Buendía. Und dazu ein José Arcadio Segundo Buendía. Und danach schon wieder ein José Arcadio Buendía. Dessen Schwester heißt Renata Remedios Buendía. Und deren Mutter Aureliana Segundo Buendía. Nicht zu vergessen Santa Sofia von der Frömmigkeit. Aureliano Triste. Mauricio Babilonia. Oda-Gebbine Holze-Stäblein. Thorsten Schäfer-Gümbel. Dann waren die dreißig Minuten am Radio vorbei und Vorleser und Zuhörer gleichermaßen erschöpft.
Ich vermute, in Wirklichkeit hat dieser Amazonas von Vornamen und Nachnamen und Rängen den entrückten Zustand hervorgebracht, den man magischen Realismus nannte. Lateinamerika, das war für mich kein Geisterhaus, sondern ein Standesamt. Wenn einen aber Meisterwerke nobelpreisprämierter Großschriftsteller nerven, die andere in Wallung bringen, traut man zuerst einmal der eigenen Urteilskraft nicht mehr. Und beginnt, die Schuld bei sich selbst zu suchen: zu einsilbig. Zu kaltblütig. Zu diesseitig. Zu wenig Vornamen. Zu viel Norddeutscher Rundfunk, zu wenig Fitzcarraldo. Aber dann las ich, wie Julian Barnes in "Flauberts Papagei" eine Art Kontinentalsperre für südamerikanische Romane forderte, und war wieder beruhigt. Barnes hatte offenbar auch die Nase voll vom dampfenden Geruch des Regenwalds, von fadenscheinigen Damen mit zweitem Gesicht, Zaubervögeln (Flauberts Papagei hat damit nichts zu tun, der war ausgestopft!), flüsternden Nebeln, hellsehenden Bäumen, Dschungeldörfern, wundertätigen Wurzeln und ewigen Alten - und verlangte nach Subventionen für Romane, die am Nord- oder Südpol spielen.
Für diese Bücher wiederum könnte man mittlerweile zwar auch und mit gleichem Recht eine Kontinentalsperre fordern. Damals aber, als die Leute nicht genug vom schwülen Klima verrätselter Familiengeschichten bekommen konnten, verstand ich den Bedarf an kaltem, klarem Wasser genau. Das Fabulierpathos von "Hundert Jahre Einsamkeit", der Überdruss an Phantasie, der Aberglaube als Erzählmodus: Alles schön und gut. Aber wenn heute infantile Regression beklagt wird, weil sich Leser jenseits der mittleren Reife tief in die Welt von Harry Potter hineinfräsen, kann ich nur sagen: Da waren wir schon mal. (Barnes hat in "Flauberts Papagei" übrigens auch einen Auslieferungsstopp für englische Schuluniformromane gefordert.) Und hat man Südamerika, das in der mittleren Phase der alten Bundesrepublik als Sorgenkind und Sehnsuchtsort zugleich entdeckt wurde, eigentlich gut damit getan, es vor allem als Land exotischer Riten und Familienbünde zu genießen? Dort drüben allerdings wurde "Hundert Jahre Einsamkeit" unvorstellbar oft gelesen. Vielleicht bin ich doch das Problem.
TOBIAS RÜTHER
Gabriel García Márquez: "Hundert Jahre Einsamkeit". Fischer-Taschenbuch-Verlag, 10 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.06.2017Im Löwenrachen
Vor fünfzig Jahren erschien „Hundert Jahre Einsamkeit“ von
Gabriel García Márquez. Jetzt gibt es eine deutsche Neuübersetzung
VON NICOLAS FREUND
Haben Übersetzungen ein Verfallsdatum? „Übersetzungen veralten bekanntlich schneller als die Originale, eine Folge der individuellen und zeitbedingten Interpretation des Textes“, schreibt Dagmar Ploetz im Nachwort ihrer Neuübersetzung von Gabriel García Márquez’ „Hundert Jahre Einsamkeit“. Die bisherige deutsche Übersetzung des Autors, Herausgebers und Lateinamerikaexperten Curt Meyer-Clason erschien 1970 und ist damit fast so alt wie der im spanischen Original 1967 erschienene Roman. Kann denn eine Übersetzung, die zeitlich so nah am Originaltext und seiner Zeit liegt, veralten, ohne dass man dasselbe über die Vorlage sagen kann? Wenn das Werk altern darf, warum nicht auch die Übersetzung? Oder anders gefragt: Wenn Übersetzungen immer „zeitbedingt“ interpretieren, braucht man dann eine deutsche Version von „Hundert Jahre Einsamkeit“ aus dem Jahr 2017?
„Hundert Jahre Einsamkeit“ ist heute von seiner Rezeptionsgeschichte nicht mehr zu trennen. Der immense Erfolg des Romans in Europa machte ihn seit den 1970er- und 1980er-Jahren zur Brücke zwischen den Kontinenten, vor allem zwischen Südamerika und Europa. Obwohl schon in den Zwanziger- und Dreißigerjahren von einem magischen Realismus in Kunst und Literatur die Rede war, gelang es erst García Márquez, das Werk vorzulegen, das den Begriff definieren sollte. In der viele Generationen umspannenden Geschichte des fiktiven südamerikanischen Dorfes Macondo, das von einer Expedition Aussteiger, einfach weil sie nicht mehr weiter wussten, „an der kühlsten Stelle“ eines Flusses mitten im Urwald gegründet wurde, fand die offene europäische Erzählform des Romans in den assoziativen, von wundersamen Ereignissen und keiner messbaren Chronologie geleiteten archaischen Erzählformen indigener Völker, aber eigentlich jeder ursprünglichen Kultur, eine neue Stimme. Diese Stimme hatte sensationellen Erfolg. Die Faszination, die der magische Realismus für Lateinamerika, aber auch für neue Formen der Darstellung im Roman auslöste, lässt sich direkt in die Werke des britisch-indischen Autors Salman Rushdie und in die Texte von Günter Grass verfolgen. Der magische Realismus forderte damit die nordamerikanische Literatur heraus, die der neuen Ästhetik von den Rändern der weltkulturellen Landkarte zunächst wenig entgegenzusetzen hatte. Manche sprachen sogar von einer Renaissance des Romans, was aber eher für den Übermut der damaligen Kommentatoren spricht als für eine tatsächliche Krise des Romans, aus der ihn der magische Realismus hätte retten müssen.
In „Hundert Jahre Einsamkeit“ gibt es eine imperialistische Bananengesellschaft, die sich nach Jahren endlosen Regens aus dem Dorf Macondo zurückziehen muss. „Die Überlebenden der Katastrophe, ebenjene, die schon in Macondo lebten, bevor der Orkan der Bananengesellschaft den Ort durcheinanderwirbelte, saßen auf der Straße und genossen die ersten Sonnenstrahlen. Ihre Haut war zwar noch algengrün und roch nach Regenmoder, aber im Grunde ihrer Herzen schienen sie zufrieden damit, das Dorf, in dem sie geboren waren, zurückgewonnen zu haben“, heißt es in der neuen Übersetzung. Was bleibt, ist ein verwüstetes Dorf, der Abzug der Amerikaner läutet auch das Ende Macondos ein.
Eine ähnliche Schneise schlug der Roman in den Augen vieler in den nordamerikanischen Kulturimperialismus, und zugleich überschattete sein Erfolg alle anderen literarischen Strömungen Lateinamerikas. Für Jahrzehnte schien die aktuelle Literatur aus Lateinamerika mit dem magischen Realismus praktisch identisch zu sein. So groß war dessen Übermacht, dass der andere große südamerikanische Autor des zwanzigsten Jahrhunderts, Roberto Bolaño, es mehrmals für nötig hielt, sich in aller Deutlichkeit von diesem Stil zu distanzieren. Spuren des magischen Realismus sind auch in seinem Werk nicht zu leugnen, aber Bolaño berief sich immer lieber auf Jorge Luis Borges, auf den er sich wahrscheinlich mit García Márquez hätte einigen können.
Zum fünfzigsten Jahrestag des Erscheinens der Erstausgabe von „Hundert Jahre Einsamkeit“ hat der amerikanische Literaturwissenschaftler Fredric Jameson in einem Essay im London Review of Books geschrieben, der Roman sei „eine Art Tier, und so wie wir darüber spekulieren, wie ein Hund Zeit erfährt, oder eine Schildkröte oder ein Falke, so lebt und atmet auch jeder einzelne Roman eine Art phänomenologischer Zeit, hinter der manchmal nicht-zeitliche Strukturen aufscheinen“. Die Erinnerungen seien keine subjektiven Eindrücke, sondern einer Art kollektivem Gedächtnis entsprungen, das auch eine Allegorie auf die Geschichte Lateinamerikas ist. „Die großen Bilder – Gespenster, die alt werden und sterben, der Liebhaber, der gelbe Schmetterlinge verströmt – sind weder Symbole noch Metaphern, sondern bestimmen selbst den Lauf der Erzählung in seinem unaufhaltsamen zeitlichen Fortschritt und seiner sturen Ablehnung jeder Unterscheidung zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven, dem eigenen Gefühl und der äußeren Welt.“
„Hundert Jahre Einsamkeit“ ist zugleich eine Absage an die westliche Moderne, als auch ihre Bestätigung, wenn am Ende des Romans die Geschichte des Dorfes mit den Seiten des Buches, auf denen diese festgehalten wird, zusammengebracht werden. Der Roman über das aus der Welt gefallene Macondo ist seine eigene Geschichte geworden.
Die Neuübersetzung ins Deutsche durch Dagmar Ploetz versucht nun nicht, den Roman mit aller Macht in die deutsche Gegenwart einzupassen, wie man es befürchten könnte, eher ist sie so etwas wie eine Aktualisierung der Erstübersetzung. Ihr sei es, schreibt Dagmar Ploetz im Nachwort, vor allem darum gegangen, die leichte Überbetonung des Exotischen und den „ein wenig altertümlichen“, am Roman des 19. Jahrhunderts orientierten Stil der Erstübersetzung auszubessern. Obwohl dieser Stil ganz gut zu dem Buch gepasst hat, in dem Jahrzehnte in einem Nebensatz vergehen und sich Kapitel ausgehend von einer kleinen Anekdote über Jahrhunderte erstrecken können.
Ploetz weist darauf hin, dass sie viele Formulierungen von ihrem Vorgänger übernommen hat, was die Frage aufwirft, ob eine Neuübersetzung, die sich oft nur in Details von ihrer Vorgängerin unterscheidet, wirklich notwendig ist. Besonders wenn sich an der „zeitbedingten Interpretation des Textes“ nicht allzu viel Grundlegendes geändert zu haben scheint.
Die Ansätze beider Übersetzungen lassen sich schon am ersten Satz erkennen, der bei Meyer-Clason lautet: „Viele Jahre später sollte der Oberst Aureliano Buendia sich vor dem Erschießungskommando an jenen fernen Nachmittag erinnern, an dem sein Vater ihn mitnahm, um das Eis kennenzulernen.“ Die Poetik des Romans, in dem eines zum anderen führt und jede Abzweigung genommen werden kann, greift schon in diesem ersten Kapitel, das in der neuen Übersetzung 22 Seiten braucht, um an jenen fernen Nachmittag zu gelangen.
Bei Ploetz heißt es: „Viele Jahre später, vor dem Erschießungskommando, sollte Oberst Aureliano Buendia sich an jenen fernen Nachmittag erinnern, als sein Vater ihn mitnahm, das Eis kennenzulernen.“ Bewegt hat sich vor allem das Erschießungskommando, das nun, wie im spanischen Original, in einem Nebensatz auftaucht. Die neue Übersetzung übernimmt oft den spanischen Satzbau und versucht an vielen Stellen, alle wichtigen Nuancen der Vorlage zu transportieren, auch wenn dadurch aus dem schönen „Theater mit den Löwenrachen“ das korrektere „Theater mit den löwenmaulförmigen Kassen wird“. Dagmar Ploetz versucht dem Original, wie sie es versteht, möglichst nahezukommen und es leicht lesbar zu machen, aber das schönere Deutsch schreibt Curt Meyer-Clason.
Ploetz hat in ihrer Neuübersetzung einige kleine Fehler der alten Übersetzung ausgebessert, etwa das Alter des Sohnes von Oberst Aureliano Buendia, der jetzt wie im spanischen Original bei seinem Tod 34 Jahre alt ist und nicht wie bei Meyer-Clason getötet wird, „bevor er das fünfunddreißigste Lebensjahr erreichte“, mithin den 34. Geburtstag, also 33 Jahre alt ist. Aus dem „eingeborenen Zauberkünstler“ Meyer-Clasons ist, um die überbordende Exotik abzumildern, der austauschbare „indianische Medizinmann“ geworden. Dafür ist aus einem unverfänglichen „Urgroßvater“ ein raunender „Urahn“ geworden, was verwundert, weil Dagmar Ploetz ihre sonst eher nüchterne Neuübersetzung an Stellen wie diesen trotz anderslautender Ansage fast noch stärker als Meyer-Clason in eben jene leicht romantisierende Richtung drängt, die sie ihrem Vorgänger vorwirft.
Spätestens seit Roberto Bolaños Erfolgen hat „Hundert Jahre Einsamkeit“ seine dominante Stellung in der lateinamerikanischen Literatur verloren. Beim Vergleich der deutschen Übersetzungen entsteht der Eindruck, dass sich in Deutschland in den letzten fünfzig Jahren nur wenig getan hat, was Einfluss auf die Wahrnehmung dieses Buchs gehabt hätte. So ist es gleich, welche dieser zwei insgesamt gelungenen deutschen Übersetzungen eines etwas aus der Mode gekommenen Romans man liest.
Viele sahen damals in diesem
Roman eine Rebellion gegen den
Kulturimperialismus der USA
Gabriel García Márquez: Hundert Jahre Einsamkeit. Roman. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2017. 519 Seiten, 25 Euro. E-Book 14,99 Euro.
Der kolumbianische Schriftsteller Gabriel García Márquez (1927 – 2014).
Foto: YURI CORTEZ, AFP
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Vor fünfzig Jahren erschien „Hundert Jahre Einsamkeit“ von
Gabriel García Márquez. Jetzt gibt es eine deutsche Neuübersetzung
VON NICOLAS FREUND
Haben Übersetzungen ein Verfallsdatum? „Übersetzungen veralten bekanntlich schneller als die Originale, eine Folge der individuellen und zeitbedingten Interpretation des Textes“, schreibt Dagmar Ploetz im Nachwort ihrer Neuübersetzung von Gabriel García Márquez’ „Hundert Jahre Einsamkeit“. Die bisherige deutsche Übersetzung des Autors, Herausgebers und Lateinamerikaexperten Curt Meyer-Clason erschien 1970 und ist damit fast so alt wie der im spanischen Original 1967 erschienene Roman. Kann denn eine Übersetzung, die zeitlich so nah am Originaltext und seiner Zeit liegt, veralten, ohne dass man dasselbe über die Vorlage sagen kann? Wenn das Werk altern darf, warum nicht auch die Übersetzung? Oder anders gefragt: Wenn Übersetzungen immer „zeitbedingt“ interpretieren, braucht man dann eine deutsche Version von „Hundert Jahre Einsamkeit“ aus dem Jahr 2017?
„Hundert Jahre Einsamkeit“ ist heute von seiner Rezeptionsgeschichte nicht mehr zu trennen. Der immense Erfolg des Romans in Europa machte ihn seit den 1970er- und 1980er-Jahren zur Brücke zwischen den Kontinenten, vor allem zwischen Südamerika und Europa. Obwohl schon in den Zwanziger- und Dreißigerjahren von einem magischen Realismus in Kunst und Literatur die Rede war, gelang es erst García Márquez, das Werk vorzulegen, das den Begriff definieren sollte. In der viele Generationen umspannenden Geschichte des fiktiven südamerikanischen Dorfes Macondo, das von einer Expedition Aussteiger, einfach weil sie nicht mehr weiter wussten, „an der kühlsten Stelle“ eines Flusses mitten im Urwald gegründet wurde, fand die offene europäische Erzählform des Romans in den assoziativen, von wundersamen Ereignissen und keiner messbaren Chronologie geleiteten archaischen Erzählformen indigener Völker, aber eigentlich jeder ursprünglichen Kultur, eine neue Stimme. Diese Stimme hatte sensationellen Erfolg. Die Faszination, die der magische Realismus für Lateinamerika, aber auch für neue Formen der Darstellung im Roman auslöste, lässt sich direkt in die Werke des britisch-indischen Autors Salman Rushdie und in die Texte von Günter Grass verfolgen. Der magische Realismus forderte damit die nordamerikanische Literatur heraus, die der neuen Ästhetik von den Rändern der weltkulturellen Landkarte zunächst wenig entgegenzusetzen hatte. Manche sprachen sogar von einer Renaissance des Romans, was aber eher für den Übermut der damaligen Kommentatoren spricht als für eine tatsächliche Krise des Romans, aus der ihn der magische Realismus hätte retten müssen.
In „Hundert Jahre Einsamkeit“ gibt es eine imperialistische Bananengesellschaft, die sich nach Jahren endlosen Regens aus dem Dorf Macondo zurückziehen muss. „Die Überlebenden der Katastrophe, ebenjene, die schon in Macondo lebten, bevor der Orkan der Bananengesellschaft den Ort durcheinanderwirbelte, saßen auf der Straße und genossen die ersten Sonnenstrahlen. Ihre Haut war zwar noch algengrün und roch nach Regenmoder, aber im Grunde ihrer Herzen schienen sie zufrieden damit, das Dorf, in dem sie geboren waren, zurückgewonnen zu haben“, heißt es in der neuen Übersetzung. Was bleibt, ist ein verwüstetes Dorf, der Abzug der Amerikaner läutet auch das Ende Macondos ein.
Eine ähnliche Schneise schlug der Roman in den Augen vieler in den nordamerikanischen Kulturimperialismus, und zugleich überschattete sein Erfolg alle anderen literarischen Strömungen Lateinamerikas. Für Jahrzehnte schien die aktuelle Literatur aus Lateinamerika mit dem magischen Realismus praktisch identisch zu sein. So groß war dessen Übermacht, dass der andere große südamerikanische Autor des zwanzigsten Jahrhunderts, Roberto Bolaño, es mehrmals für nötig hielt, sich in aller Deutlichkeit von diesem Stil zu distanzieren. Spuren des magischen Realismus sind auch in seinem Werk nicht zu leugnen, aber Bolaño berief sich immer lieber auf Jorge Luis Borges, auf den er sich wahrscheinlich mit García Márquez hätte einigen können.
Zum fünfzigsten Jahrestag des Erscheinens der Erstausgabe von „Hundert Jahre Einsamkeit“ hat der amerikanische Literaturwissenschaftler Fredric Jameson in einem Essay im London Review of Books geschrieben, der Roman sei „eine Art Tier, und so wie wir darüber spekulieren, wie ein Hund Zeit erfährt, oder eine Schildkröte oder ein Falke, so lebt und atmet auch jeder einzelne Roman eine Art phänomenologischer Zeit, hinter der manchmal nicht-zeitliche Strukturen aufscheinen“. Die Erinnerungen seien keine subjektiven Eindrücke, sondern einer Art kollektivem Gedächtnis entsprungen, das auch eine Allegorie auf die Geschichte Lateinamerikas ist. „Die großen Bilder – Gespenster, die alt werden und sterben, der Liebhaber, der gelbe Schmetterlinge verströmt – sind weder Symbole noch Metaphern, sondern bestimmen selbst den Lauf der Erzählung in seinem unaufhaltsamen zeitlichen Fortschritt und seiner sturen Ablehnung jeder Unterscheidung zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven, dem eigenen Gefühl und der äußeren Welt.“
„Hundert Jahre Einsamkeit“ ist zugleich eine Absage an die westliche Moderne, als auch ihre Bestätigung, wenn am Ende des Romans die Geschichte des Dorfes mit den Seiten des Buches, auf denen diese festgehalten wird, zusammengebracht werden. Der Roman über das aus der Welt gefallene Macondo ist seine eigene Geschichte geworden.
Die Neuübersetzung ins Deutsche durch Dagmar Ploetz versucht nun nicht, den Roman mit aller Macht in die deutsche Gegenwart einzupassen, wie man es befürchten könnte, eher ist sie so etwas wie eine Aktualisierung der Erstübersetzung. Ihr sei es, schreibt Dagmar Ploetz im Nachwort, vor allem darum gegangen, die leichte Überbetonung des Exotischen und den „ein wenig altertümlichen“, am Roman des 19. Jahrhunderts orientierten Stil der Erstübersetzung auszubessern. Obwohl dieser Stil ganz gut zu dem Buch gepasst hat, in dem Jahrzehnte in einem Nebensatz vergehen und sich Kapitel ausgehend von einer kleinen Anekdote über Jahrhunderte erstrecken können.
Ploetz weist darauf hin, dass sie viele Formulierungen von ihrem Vorgänger übernommen hat, was die Frage aufwirft, ob eine Neuübersetzung, die sich oft nur in Details von ihrer Vorgängerin unterscheidet, wirklich notwendig ist. Besonders wenn sich an der „zeitbedingten Interpretation des Textes“ nicht allzu viel Grundlegendes geändert zu haben scheint.
Die Ansätze beider Übersetzungen lassen sich schon am ersten Satz erkennen, der bei Meyer-Clason lautet: „Viele Jahre später sollte der Oberst Aureliano Buendia sich vor dem Erschießungskommando an jenen fernen Nachmittag erinnern, an dem sein Vater ihn mitnahm, um das Eis kennenzulernen.“ Die Poetik des Romans, in dem eines zum anderen führt und jede Abzweigung genommen werden kann, greift schon in diesem ersten Kapitel, das in der neuen Übersetzung 22 Seiten braucht, um an jenen fernen Nachmittag zu gelangen.
Bei Ploetz heißt es: „Viele Jahre später, vor dem Erschießungskommando, sollte Oberst Aureliano Buendia sich an jenen fernen Nachmittag erinnern, als sein Vater ihn mitnahm, das Eis kennenzulernen.“ Bewegt hat sich vor allem das Erschießungskommando, das nun, wie im spanischen Original, in einem Nebensatz auftaucht. Die neue Übersetzung übernimmt oft den spanischen Satzbau und versucht an vielen Stellen, alle wichtigen Nuancen der Vorlage zu transportieren, auch wenn dadurch aus dem schönen „Theater mit den Löwenrachen“ das korrektere „Theater mit den löwenmaulförmigen Kassen wird“. Dagmar Ploetz versucht dem Original, wie sie es versteht, möglichst nahezukommen und es leicht lesbar zu machen, aber das schönere Deutsch schreibt Curt Meyer-Clason.
Ploetz hat in ihrer Neuübersetzung einige kleine Fehler der alten Übersetzung ausgebessert, etwa das Alter des Sohnes von Oberst Aureliano Buendia, der jetzt wie im spanischen Original bei seinem Tod 34 Jahre alt ist und nicht wie bei Meyer-Clason getötet wird, „bevor er das fünfunddreißigste Lebensjahr erreichte“, mithin den 34. Geburtstag, also 33 Jahre alt ist. Aus dem „eingeborenen Zauberkünstler“ Meyer-Clasons ist, um die überbordende Exotik abzumildern, der austauschbare „indianische Medizinmann“ geworden. Dafür ist aus einem unverfänglichen „Urgroßvater“ ein raunender „Urahn“ geworden, was verwundert, weil Dagmar Ploetz ihre sonst eher nüchterne Neuübersetzung an Stellen wie diesen trotz anderslautender Ansage fast noch stärker als Meyer-Clason in eben jene leicht romantisierende Richtung drängt, die sie ihrem Vorgänger vorwirft.
Spätestens seit Roberto Bolaños Erfolgen hat „Hundert Jahre Einsamkeit“ seine dominante Stellung in der lateinamerikanischen Literatur verloren. Beim Vergleich der deutschen Übersetzungen entsteht der Eindruck, dass sich in Deutschland in den letzten fünfzig Jahren nur wenig getan hat, was Einfluss auf die Wahrnehmung dieses Buchs gehabt hätte. So ist es gleich, welche dieser zwei insgesamt gelungenen deutschen Übersetzungen eines etwas aus der Mode gekommenen Romans man liest.
Viele sahen damals in diesem
Roman eine Rebellion gegen den
Kulturimperialismus der USA
Gabriel García Márquez: Hundert Jahre Einsamkeit. Roman. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2017. 519 Seiten, 25 Euro. E-Book 14,99 Euro.
Der kolumbianische Schriftsteller Gabriel García Márquez (1927 – 2014).
Foto: YURI CORTEZ, AFP
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»Überhaupt ist die neue Übersetzung zurückhaltender und respektiert damit die Klarheit des Erzählers García Márquez, der auch ein brillanter Journalist war. [...] In dieser Gestalt wünscht man dem Roman 47 weitere Jahre.« Paul Ingendaay FAZ 20170821
Trotz der eigentlich tragischen Umstände [...] bringt Gabriel García Márquez eine gewisse Leichtigkeit und Humor in seine Familiensaga hinein. Ruhr Nachrichten 20210122