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Im politisch so umkämpften wie ereignisreichen 20. Jahrhundert kommt dem Surrealismus, wie ihn André Breton 1924 in seinem Ersten Surrealistischen Manifest entwarf, eine Sonderstellung zu: Obwohl er heute selten anders denn als künstlerische Avantgarde rezipiert und erzählt wird, handelte es sich tatsächlich um eine bürgerliche Aufbruchsbewegung, die das Bürgertum selbst vor seine Widersprüche zu stellen versuchte. In Romanen, Aufsätzen und Gedichten konzipierten die Surrealisten eine Politik der minimalen Ansprüche, die das Bürgertum an sich selbst zwingend stellen soll: falls das Bürgertum…mehr

Produktbeschreibung
Im politisch so umkämpften wie ereignisreichen 20. Jahrhundert kommt dem Surrealismus, wie ihn André Breton 1924 in seinem Ersten Surrealistischen Manifest entwarf, eine Sonderstellung zu: Obwohl er heute selten anders denn als künstlerische Avantgarde rezipiert und erzählt wird, handelte es sich tatsächlich um eine bürgerliche Aufbruchsbewegung, die das Bürgertum selbst vor seine Widersprüche zu stellen versuchte. In Romanen, Aufsätzen und Gedichten konzipierten die Surrealisten eine Politik der minimalen Ansprüche, die das Bürgertum an sich selbst zwingend stellen soll: falls das Bürgertum diesen minimalen Redlichkeits- und Folgerichtigkeitsansprüchen nicht gerecht werden sollte, so gehörte es abgeschafft. In beiden Fällen würden sich nämlich die Werte von Freiheit, Gleichheit und Solidarität realisieren, indem bürgerliche Privilegien aufgegeben und gemeinsame Werte erkämpft werden könnten. Hundert Jahre nach seiner Ausrufung ist der Surrealismus brandaktuell für unsere krisengebeutelte Gegenwart, in der die bürgerliche Klasse nicht nur verkennt, dass sie kaum noch gemeinsame Klasseninteressen hat, sondern auch angesichts steigender Ungleichheit ganz und gar historisch gelähmt ist. Der radikale Freiheitsbegriff, der sich aus dem surrealistischen Programm ergibt, erlaubt uns heute, eine Politik der Möglichkeiten angesichts apokalyptischer Aussichten zu denken - wenn wir den Surrealismus nicht nur feiernd historisieren, sondern erneut als konkreten Ausgangspunkt politischer Bewegungen begreifen. Doch dies ist schließlich ein Buch über einen historischen Präzedenzfall: bürgerliche Revolten gegen das Bürgertum sind immer auch Enthemmungsmomente, deren Preis die Gesellschaft unter Umständen schließlich zahlen muss.
Autorenporträt
Pierre-Héli Monot, 1981 in Lausanne (Schweiz) geboren, lehrt Ästhetik und politische Theorie am Amerika-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Maximilian Gillessen hat Pierre-Héli Monots Buch mit Interesse gelesen, erkennt darin aber keine Revolution der Surrealismus-Forschung. Der Amerikanist Monot rekonstruiert darin, wie Gillessen festhält, das Projekt des Surrealismus als ein politisches mehr denn als ästhetisches: Der selbst vornehmlich bourgeoisen Kreisen entstammenden Bewegung sei es darum gegangen, dem Bürgertum den Spiegel vorzuhalten. Diese kritische "Selbstobjektivierung" wolle Monot, so der Rezensent, für die gegenwärtigen, krisengeplagten Zeiten mobilisieren. Eine besondere Leistung des Buches sieht Gillessen in der überraschenden Erkenntnis, dass im Sinne dieser angestrebten Konfrontation mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Surrealismus gerade keine fantastische, sondern vielmehr eine zutiefst realistische Bewegung gewesen sei. Monots sozioanalytischer Begriffsapparat hätte für den Rezensenten allerdings differenzierter, die Materialbasis breiter ausfallen können.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.07.2024

Nur nicht bürgerlich enden

Schon auf den ersten Seiten seines Buches gibt Pierre-Héli Monot zu verstehen, dass er dem Surrealismus keine Kränze flechten will. Dessen Grundzüge seien ihm stets fremd, ja zuwider gewesen, und mit dem Irrationalismus und der Gewaltbereitschaft der Pariser Avantgarde-Gruppe könne er genauso wenig anfangen wie mit ihrer blinden Verehrung des Marquis de Sade oder den in seinen Augen mittelmäßigen Werken eines Louis Aragon oder Paul Éluard. Dennoch muss man von Monot keine Diatribe gegen den Surrealismus erwarten, wie sie vor zwei Jahrzehnten der Kunsthistoriker Jean Clair vorgelegt hat. Anlässlich des hundertsten Jubiläums der Bewegung möchte Monot vielmehr der altbekannten Frage nach dem politischen Engagement der Surrealisten neue Einsichten für die Gegenwart abgewinnen. Ihn interessiert der Surrealismus nicht als künstlerische Avantgarde, als die er heute zumeist rezipiert wird, sondern als revolutionäres Projekt einer bürgerlichen Aufbruchsbewegung.

Bürgersöhne waren Monot zufolge die meisten Mitglieder der Pariser Kerngruppe. Wobei dieser Punkt von ihm etwas hastig abgehandelt wird. Handelt es sich nicht oft um gebrochene Biographien und soziale Identitäten? Aragon, der uneheliche Sohn eines Polizeipräsidenten, wuchs bei seiner Mutter auf; René Crevel erlebte als Jugendlicher den Selbstmord seines Vaters. Und André Breton? Entstammte er nicht einem kleinbürgerlichen Milieu? Materiell abgesichert waren ohnehin nur wenige der Surrealisten.

Letztlich geht es Monot aber nicht um solche biographischen Details, sondern um einen anderen Befund: Breton und seine Mitstreiter, angehende Ärzte und Juristen, potentielle Angehörige also einer intellektuellen Bourgeoisie, hätten das Bürgertum mit seinen Widersprüchen konfrontiert und es vor die Wahl gestellt, die ihm eigenen Privilegien zu universalisieren oder sich selbst abzuschaffen. In dieser Selbstobjektivierung des Bürgertums erblickt Monot die eigentliche Leistung des Surrealismus. Dabei deutet er die gruppeninternen Regeln, Rituale und Verbote als Techniken der Selbstsabotage: Wer Surrealist heißen wollte, musste sich als Bürger unmöglich machen.

Dass die Mittel, Bündnisse und Strategien des revolutionären Surrealismus allerdings wenig geeignet waren, die politischen Ziele zu erreichen, denen sich die Gruppe verschrieben hatte, möchte auch Monot nicht leugnen. Seines Erachtens birgt dieses prominente Beispiel einer bürgerlichen Kritik des Bürgertums trotzdem "eine Reihe an wertvollen Halbwahrheiten". Sie möchte er für eine Gegenwartsdiagnose fruchtbar machen, die sich rasch zusammenfassen lässt: Die Zeiten seien "apokalyptisch", ein "bürgerlich-revolutionäres Subjekt" nicht in Sicht. Wo Handeln notwendig wäre, bleibe es bei Lippenbekenntnissen.

Die Beispiele, die Monot für die "dissoziativen Bewusstseinsstrukturen" des Bürgertums anführt, bilden den Stoff jedes besseren Meinungsartikels über bürgerliche Doppelmoral: Von Gymnasien, die sich Weltoffenheit auf die Fahnen schreiben, aber Schüler mit Migrationshintergrund ausgrenzen, bis hin zu den nicht recycelbaren Papiertrinkhalmen gewisser Fast-Food-Ketten. Mit Hannah Arendt und Alexandre Kojève versucht er, die Toleranz für derartige soziale Paradoxien geschichtsphilosophisch zu erklären: Herrenlos geworden, musste der Bürger sein eigener Herr werden, für sich als für einen anderen arbeiten; die Identität stiftet, wenig überraschend, das Kapital. Will heißen: Man leistet sich gerne ein gutes Gewissen, solange es dem Gewinn keinen Abbruch tut.

Wie könne man "irgendwelche Zärtlichkeit oder Toleranz" gegenüber einem "wie auch immer gearteten sozialen Konservierungsapparat" walten lassen, fragte einst André Breton im "Zweiten Manifest des Surrealismus". Die Surrealisten, so meint Monot, wollten die Dissoziation des bürgerlichen Bewusstseins auflösen. Darin besteht die elegante Pointe einer zuweilen mühselig mäandernden Argumentation: Keine Bewegung des vorigen Jahrhunderts war weniger phantastisch als der Surrealismus. Das wahre Surreale wäre die Realität ohne Selbstbetrug. Nicht umsonst richten sich die Invektiven der Surrealisten zunächst und vor allem gegen die bürgerlichen Intellektuellen. Sie würden die ideologische Vermittlung zwischen Sein und Schein garantieren.

Was Monot umtreibt, ist diese Frage nach dem Status des Intellektuellen. Ihm zufolge könne dieser heute nicht mehr leisten, als sich selbst als Problem zu identifizieren und seinen Anspruch aufzugeben, für andere zu sprechen. Bei aller Revolutions- und Dringlichkeitsrhetorik, die Monot aufbietet, fällt die "Politik der Folgerichtigkeit", die er aus dieser ernüchternden Erkenntnis ableitet, allerdings eher brav aus: "Stimmen Wort und Tat überein? Tun wir, was wir sagen? Sagen wir, was wir tun?"

"Das Bürgertum", "der Kapitalismus", "die Intellektuellen": Auch die freimütige Erklärung, er benutze solche Allgemeinbegriffe als "windige Lexeme", dispensiert einen Autor nicht von Differenzierung. Lieber schwelgt Monot in autobiographischen Anekdoten und gesellschaftskritischen Exkursen. Gewiss, er schreibt mit Witz und Verve, wenn auch nicht jeder Einfall zündet. Dabei sind einige seiner Analysen verdrängter oder nur noch mit Befremden wahrgenommener Aspekte des Surrealismus - etwa dessen Faszination für Verbrechen und Selbstmord - durchaus mit Gewinn zu lesen.

Insgesamt aber bleibt "der Surrealismus" in diesem zwischen literaturwissenschaftlichem Essay und politischem Pamphlet schwankenden Buch ein schemenhaftes Phänomen. Er bildet mehr seinen Anlass als seinen Gegenstand. Dementsprechend schmal ist die Textbasis, die seiner Argumentation zugrunde liegt. Dabei beklagt doch sein Autor selbst, dass einige Hauptquellen des politischen Surrealismus nach wie vor nicht ins Deutsche übersetzt worden seien. Leider verrät er nicht, um welche "schönen, skrupellosen Texte" es sich handelt, geschweige denn dass er aus ihnen zitieren würde. Gerne hätte man eine Auswahl im Anhang seines Buches gefunden. MAXIMILIAN GILLESSEN

Pierre-Héli Monot: "Hundert Jahre Zärtlichkeit". Surrealismus, Bürgertum, Revolution.

Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2024.

199 S., br., 20,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
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