Marktplatzangebote
2 Angebote ab € 9,90 €
  • Gebundenes Buch

Bulgarien. Seit 1989 bereist Ilija Trojanow regelmäßig das Land, in dem er geboren wurde. Er führte Gespräche mit Tätern und Opfern, mit Mitläufern und Oppositionellen - immer auf der Suche nach Antworten auf die Frage: Wie leben Menschen in einem Land, in dem es sich eigentlich nicht leben läßt? Eine bittere Gesellschaftsanalyse und ein wahrer Polit- und Wirtschaftskrimi.

Produktbeschreibung
Bulgarien. Seit 1989 bereist Ilija Trojanow regelmäßig das Land, in dem er geboren wurde. Er führte Gespräche mit Tätern und Opfern, mit Mitläufern und Oppositionellen - immer auf der Suche nach Antworten auf die Frage: Wie leben Menschen in einem Land, in dem es sich eigentlich nicht leben läßt? Eine bittere Gesellschaftsanalyse und ein wahrer Polit- und Wirtschaftskrimi.
Autorenporträt
Ilija Trojanow, geb. 1965 in Bulgarien, aufgewachsen in Kenia, studierte und arbeitete viele Jahre in Deutschland. Seit 1998 lebt er in Bombay. Trojanow ist Autor, Herausgeber und Verleger. Er beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit afrikanischer Geschichte, Kultur und Literatur. Der Autor erhielt zahlreiche Preise: 1995 den Bertelsmann-Literaturpreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt, ein Aufenthaltsstipendium im Künstlerhaus Schloß Wiepersdorf sowie ein Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds e.V., 1996 den Marburger Literaturpreis, 1997 den Viktor-von-Scheffel-Preis und Thomas-Valentin-Preis der Stadt Lippstadt und 2000 den Adelbert-von-Chamisso-Preis. 2009 wurde ihm der Preis der Literaturhäuser verliehen und 2010 wurde er als 'poetischer Chronist der großen Exil- und Migrationsphänomene der Moderne' mit dem Würth-Preis geehrt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.11.1999

Hungerstreik
Ilija Trojanows Landesgeschichte "Hundezeiten"

Zehn Jahre sind die beiden Jungen alt. Sie stammen aus der Provinz. Vor zwei Tagen haben sie die Hauptstadt Sofia erreicht. Seitdem halten sie sich auf dem Bahnhof versteckt. Als die Polizei sie aufgreift, erklären sie, in ihrer Heimat nicht überleben zu können. Deshalb wollten sie unbedingt ins Ausland. Deshalb, erzählen die Kinder, müssen sie unbedingt diesen einen Zug finden, den Zug nach Amerika.

Bulgarien leidet an Auszehrung. Auch ohne eine Eisenbahnverbindung nach New York nimmt die Bevölkerung seit dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft rapide ab. Eine halbe Million vorwiegend junger Bulgaren hat das Land seit 1989 verlassen. Rund fünfzehntausend Menschen wählen jedes Jahr den Freitod. Desaströse Wohnverhältnisse und der Kollaps des Gesundheitssystems haben die Todesfälle unter Rentnern auf jährlich rund einhunderttausend steigen lassen. Etwa ebenso hoch ist die Zahl der herrenlosen Hunde, die nicht nur bei Nacht Sofia durchstreifen. Die hungrigen Tiere belauern die Lebensmittelgeschäfte, wühlen in den Abfalleimern. Manchmal greifen sie Menschen an. Treppenhäuser ohne Hundekot sind kaum zu finden.

Der Niedergang vollzog sich in drei Etappen. 1923 wurde in einem von Teilen des Militärs und dem Zaren getragenen Putsch die linksliberale Regierung abgesetzt und ihr Ministerpräsident ermordet. Elf Jahre später griff Boris III. nach der alleinigen Macht, verbot alle Parteien und herrschte unumschränkt. 1944 schließlich besetzten die sowjetischen Truppen das Land. Die neuen Machthaber überzogen Bulgarien mit einem "Netz von Straflagern" und wüteten "brutaler und entsetzlicher als in jedem anderen Satellitenstaat". Todor Schiwkow, der letzte Staatsratsvorsitzende, führte die Begeisterung für Gewalt und für Prunk zur späten Blüte. Er residierte in zweiunddreißig verschwenderisch ausgestatteten Villen und Palästen, die er 1989 mit der Überzeugung verließ, dem demokratischen Sozialismus den Weg gebahnt zu haben.

Nur ein Hungerstreik konnte das Schicksal wenden. Die neue Verfassung stand kurz vor ihrer Verabschiedung. Neununddreißig Abgeordnete aber lehnten sie als eine noch immer kommunistische ab. Also verließen neununddreißig aufrechte Köpfe das Parlament, um in diesem Sommer des Jahres 1991 ein Zeichen zu setzen. Die Unbeugsamen wurden von einem großen Publikum bejubelt. Das "historische Siechtum" fand live und auf jeder bulgarischen Mattscheibe statt. Nach einer Woche stimmten die verbliebenen Volksvertreter dennoch für die Konstitution, woraufhin der Hungerstreik ein unbedenkliches Ende fand. Jahre danach bekennen drei der Aktivisten, lediglich "Semihungernde" gewesen zu sein. Abend für Abend ist man im Schutz der Dunkelheit in ein nahes Hotel und dessen Restaurant entschwunden.

Die bizarre Anekdote vom patriotischen Hungerstreik zählt zu den Höhepunkten in Ilija Trojanows eigenwilliger Landesgeschichte. So wie die falschen Helden Repräsentanz nur vortäuschen, das Martyrium effektvoll fingieren und dabei ausschließlich den eigenen Ruhm vor Augen haben, sind im ganzen Land die Heuchelei der Wenigen und das Siechtum der Vielen aneinander gekoppelt. Bulgarien heißt ein "System, in dem eine Lüge die andere deckt". Seit dem Putsch von 1923 und über die Wiedereinführung der Demokratie hinaus herrscht Trojanow zufolge "eine parasitäre Klasse" über ein lethargisches Volk.

Das einzige handelnde Subjekt, das die bulgarische Nachkriegsgeschichte hervorgebracht hat, sind demnach die "Nomenklaturisten". Sie setzen die feudalistischen Ausbeutungen fort, ob in sozialistischem oder marktwirtschaftlichem Gewand. Die Ereignisse des Novembers 1989 hält Trojanow für eine "Simulation", die nichts an der Machtverteilung geändert habe. Eine wahre Flut an teils angelesenem, teils während mehrmonatiger Reisen recherchiertem Material stützt auf beeindruckende Weise die These von der Kontinuität des öffentlichen Lebens. Ein Chef der Staatssicherheit etwa wurde Leiter der örtlichen Polizei; die Kommunisten nennen sich Sozialisten und vertreten weiterhin die Interessen ihrer alten, unverändert privilegierten Klientel; Staatsbetriebe wurden der Form nach privatisiert, unterstehen aber derselben Leitung wie in planwirtschaftlicher Zeit. Seit Jahr und Tag und auch anno 1999 "raubt die Nomenklatura im großen Stil" das Land aus.

Der vor vierunddreißig Jahren in Sofia geborene Autor, der als Kind über Italien nach Deutschland fliehen konnte, bewertet seine Fundstücke mit der Wut des ehemals Einheimischen und der Fassungslosigkeit des längst Ausgewanderten. Bulgarien erscheint als rechtsfreier, pseudodemokratischer Raum, als das zynische Schauspiel eines Staates, dessen Polizei und Justiz korrupt, dessen Medien und Intellektuelle ahnungslos oder verlogen sind. Auch der Umsturz von 1989 sah die vertrauten Seilschaften an der Spitze. Die Kader gründeten aus ihren Reihen zahllose Zeitungen, Banken, Parteien, damit im Wirrwarr der neuen Organisationen die alten Herren das Sagen behielten. Die damalige Opposition ist, so Trojanow, ein Produkt des Staatsapparats gewesen. Die wenigen echten Dissidenten spielten spätestens 1990 keine Rolle mehr.

Die "Hölle Europas" nennt Trojanow sein Heimatland, das eine "allumfassende Zerstörung" erfahren habe. Angesichts der Masse an durchweg niederschmetternden Belegen hat der Leser keine andere Wahl als dieser Auffassung bedrückt zuzustimmen. Nachhaltiger und argumentativ schlüssiger wäre dieser Befund jedoch, würde er nicht schon der ersten Seite des Buches vorausgesetzt. Nach wenigen Sätzen bricht Trojanow seine einleitenden Fallstudien ab, um den Sachverhalt durch eine polemische und nicht immer aus der Detailbeobachtung erwachsende Deutung zu überlagern. Ein Tendenzschriftsteller bei dürftigem Material verführe so. Da Trojanow aber die Fakten reichlich auf seiner Seite weiß, beschädigt das vorschnelle Generalisieren die Überzeugungskraft der Schlüsse.

Zum zweiten ist der Autor trotz dieser ungezügelten Urteilsfreude derart vom Erkenntniswert seiner Quellen überzeugt, dass er auf ihre stilistische Präsentation keinerlei Mühe verwandt hat. Da werden Länder "unter den Nagel gerissen", Gedanken "vom Stapel gelassen" und "Regierungen abgesägt". Grammatikalische und lexikalische Fehler zuhauf tragen ebenfalls dazu bei, an der handwerklichen Qualifikation eines Autors zu zweifeln, der mit den "Hundezeiten" bereits sein neuntes Werk vorlegt.

Dennoch: Die weit über hundert Stimmen, die in dem Buch zu Wort kommen, verdienen es gehört zu werden. Bulgarien ist weder thrakisches Bergidyll noch aufstrebender Reformstaat. Bulgarien ist der katastrophale Sonderfall derselben Entwicklung, die Deutschland entzwei riss und schließlich wieder zusammenfügte. Ob die balkanische Republik darüber hinaus das Sinnbild der neueren Moderne abgibt, bleibt zu bezweifeln. Ilija Trojanow zumindest begreift in einer ironischen Volte seine Heimat als prototypisch. In Bulgarien, so steht geschrieben, werde wie in keinem anderen europäischen Land "geschmuggelt, gefälscht, gestohlen, geplündert, geraubt und getäuscht". Diese Tätigkeiten aber seien "die kulturellen Errungenschaften unserer Epoche".

ALEXANDER KISSLER

Ilija Trojanow: "Hundezeiten. Heimkehr in ein fremdes Land". Hanser Verlag, München und Wien 1999. 312 S., geb., 39,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr