Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.01.2023Taumelnde
Staatsmacht
Bücher über das Krisenjahr 1923 boomen.
Alle erzählen die gleichen Fakten, doch diese
werden erstaunlich unterschiedlich bewertet
VON ROBERT PROBST
Weshalb vergeude ich kümmerliche Worte darum, um denen diesen Winter begreiflich zu machen, die ihn nicht miterlebt haben? Es sind und bleiben Worte nur und doch umspannen sie den ganzen tragischen Zusammenbruch unausgeträumter Hoffnungen ungezählter, namenloser Helden und Märtyrer. Die Nachwelt wird wenig verständnisvoll dieser Zeit gegenüberstehen.“ So schrieb der heute vergessene Schriftsteller Herbert Brandt 1930 im Rückblick auf das Jahr 1923. Wie steht nun die Nachwelt 100 Jahre später zu diesen Ereignissen? Guckt sie nur „Babylon Berlin“, Hitler-Dokus oder greift sie in den Buchhandlungen in die hohen Stapel der 1923-Sachbücher?
Also was steht nun eigentlich drin in diesen zahlreichen Werken? Nach der Lektüre von Hunderten Seiten kann festgehalten werden: Die Bewertung der lange bekannten, dramatischen Ereignisse fällt dann doch erstaunlich uneinheitlich aus. Neun Bücher liegen dieser Analyse zugrunde, vollständig ist die Liste aber nicht. Das erste 1923-Werk erschien im vorigen März, das vorerst letzte vor wenigen Tagen.
Nacherzählung vs. Thesenstärke
Das Jahr 1923 erzählt sich quasi von selbst. Es braucht keine ordnende Hand, weil es vom Beginn der Ruhrbesetzung durch Frankreich und Belgien (Januar) bis zum Scheitern des Hitlerputsches (November) und der Einführung der Rentenmark eine ständige Steigerung von Krisen hervorbrachte, die alle miteinander verbunden waren: passiver Widerstand, wankende Koalitionen, mehrere Regierungswechsel, Extremismus von rechts und links, Separatismus-Bestrebungen und dazu Not, Elend und Hyperinflation. Die Folge: Spaltung, Hysterie, Bürgerkriegsgefahr. Und darum sind fast alle Gesamtdarstellungen mehr oder weniger ein breit fließender Strom von Ereignissen und Deutungen der Zeitgenossen. Die meisten sind sogar chronologisch geordnet (Mark Jones, Ralf Georg Reuth, Christian Bommarius, Jutta Hoffritz). Nur Peter Longerich und Volker Ullrich wählen bewusst einen anderen Ansatz und arbeiten mehrere Komplexe im Zusammenhang ab. Die Gefahr, die beide Ansätze in sich tragen: Weil alle akribisch recherchiert haben, wird alles aufgeschrieben – nicht selten wird der Erzählstrom dann aber allzu breit und zähflüssig.
Viel Neues erfährt man insgesamt nicht, die Quellen und Fakten sind ja bestens erforscht, die komplexe Vorgeschichte seit der Revolution von 1918 wird oft nur skizziert, wenn überhaupt – aber schöner erzählt wurde nie vom Krisenjahr. Nur ein Beispiel: „Die Deutschen schwimmen im Geld und drohen darin zu ertrinken.“ (Bommarius)
Eine steile neue These gab es aber doch, der irische Historiker Jones hat sie vorgebracht, demnach war „Deutschland das ganze Jahr über Opfer der französischen Aggressionen“. Und zwar vor allem die Demokraten und Republikaner seien vom französischen Ministerpräsidenten Raymond Poincaré gezwungen worden, ihren Abwehrkampf gegen rechts „mit einer auf den Rücken gefesselten Hand“ zu führen. Schon die SZ-Rezensentin Stefanie Middendorf hat dieses Entlastungsnarrativ im Sommer deutlich zurückgewiesen. Im aktuellen Sammelband (Hanning/Mares) urteilt der Marburger Historiker Eckart Conze: Zwar nehme der „Opferbegriff eine zeitgenössische Selbstwahrnehmung vieler Deutscher auf, aber es bleibt fraglich, ob Kategorien wie ‚Opfer‘ – und damit zwangsläufig auch ‚Täter‘ – der Komplexität der politischen Entwicklung der 1920er-Jahre gerecht werden“. Ebenso wäre zu fragen „ob nicht die Moralisierung, die sich mit diesen Begriffen verbindet, eine differenzierte historische Urteilsbildung erschwert, wenn nicht verhindert“. Eine ähnlich wilde Debatte wie nach Christopher Clarks Buch „Die Schlafwandler“, das in Teilen auch als Entlastung der Deutschen beim Beginn des Ersten Weltkriegs gedeutet wurde, blieb aber bisher aus.
Hugo Stinnes vs. Moskau
Wer waren nun eigentlich die „Bösen“ in diesem 1923-Spektakel? Wie Jones hat auch Reuth nicht viel übrig für den „Deutschlandhasser“ Poincaré und die „unerbittliche Härte des Élysées“ (ganz Frankreich scheint bei allen Autoren übrigens nur aus Poincaré und ein paar Offizieren zu bestehen). Eher am Rande erwähnt Reuth aber auch, dass „das Schicksal des besetzten Gebiets zu einem Gutteil in den Händen von ausschließlich profitorientierten Industriellen liegt, denen die Nation letztendlich gleichgültig ist“.
Sehr viel expliziter benennt Longerich den Ruhrbaron und Inflationshauptgewinnler Hugo Stinnes als sinistren Strippenzieher der Reichspolitik. Als DVP-Abgeordneter hatte er direkten Zugang zu den Machtzentren in Berlin und strickte kräftig an seiner „eigenen Agenda“, die da lautete: noch mehr Geld verdienen, die sozialpolitischen Errungenschaften (Achtstundentag) zurückdrehen und in der Hochphase der Krise sich für einen Staatsstreich zugunsten eines stramm rechtskonservativen diktatorisch regierenden „Direktoriums“ einsetzen. Mit in diesem Stinnes-Boot saß laut Longerich auch der Chef der Heeresleitung, Generaloberst Hans von Seeckt, der für einen rechtswidrigen politischen Systemwechsel bereit gewesen sei. Nur einen Putsch lehnte Seeckt strikt ab. Und so kam es, dass Hitlers Putsch am 8./9. November „auch alle übrigen Staatsstreich- und Diktaturpläne“ delegitimierte. Hitler, der Reichswehr und Polizei nicht hinter sich brachte, hat also – überspitzt gesagt – 1923 die Republik gerettet, indem er die deutlich aussichtsreicheren Rechtsdiktatur-Pläne in Berlin durchkreuzte.
In die entgegengesetzte Richtung deutet hingegen Reuth, indem er die „zumeist einseitige Fixierung auf die Bedrohung der Republik von rechts“ kritisiert und die Gefahr eines bolschewistischen Umsturzes in Mitteldeutschland (Stichwort: Deutscher Oktober) in grellen Farben ausmalt. Dass in Moskau viele Vorgänge in Deutschland völlig falsch eingeschätzt wurden und dass die Arbeiterschaft in Sachsen und Thüringen nicht zur Revolution bereit war, mindert für Reuth nicht die Existenz eines solchen „großen linken Umsturzherdes“.
„Glanztat“ vs. Zufallssieg
Und wer waren die „Guten“? Hier besteht mehr Einigkeit. Für Ullrich war der 103-Tage-Kanzler Gustav Stresemann ein „entschlossener Verteidiger der verfassungsmäßigen Ordnung“. Der DVP-Politiker bewahrte Deutschland 1923 vor „Zusammenbruch und Chaos“, schreibt Reuth, auch wegen seines „beherzten Vorgehens gegen Sozialisten und Kommunisten“. Eine Handvoll Demokraten hätten eine „politische Glanztat“ vollbracht. Und die Reichswehr stand „treu zur Republik“.
Am weitesten geht auch hier Mark Jones. Er hält den „Sieg der Demokraten am Ende des Jahres 1923“ für deren größten Erfolg in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, bedeutender als die Republikgründung 1918. Den Deutschen empfiehlt er 2023 sogar eine „Feier ohne Trauma oder Furcht, ohne chauvinistisches Getöse“.
Longerich hält dem Kanzler allerdings nur den Abbruch des Ruhrkampfs und die Stabilisierung der Währung zugute. Von einer „erfolgreichen Bewältigung“ der Krise durch eine fähige Regierung will er explizit nicht sprechen. Dass die „totale Eskalation der Krise nicht stattfand“, also die Errichtung einer Rechtsdiktatur, rechnet er nicht dem Krisenmanagement der Regierung zu, sondern der gegenseitigen Blockade von rechtskonservativen und rechtsextremen Kräften. (Zum Hitlerputsch werden in Kürze auch neue Bücher erscheinen.)
Merkwürdigerweise nur am Rande taucht in all den Werken Reichspräsident Friedrich Ebert auf. Dabei war der SPD-Politiker der entscheidende Mann, der fester als die meisten anderen auf demokratischem Boden stand. Er nutzte den kompletten Besteckkasten der Reichsverfassung (Ermächtigungsgesetz, Notverordnungen, Ausnahmezustand, Presse- und Parteienverbot, Übertragung der vollziehenden Gewalt auf die Reichswehr, Reichsexekutionen), um die Republik zu retten. Sein Nachfolger Paul von Hindenburg tat das nach 1930 auch – aber um die Republik zu zerstören, gemeinsam mit den Rechtskonservativen und den Hitler-Leuten.
Beruhigung vs. „Stabilitätsillusion“
Geriet die Republik also Anfang 1924 in ruhigeres Fahrwasser? Reuth („Die Zeit der Extremisten war in Deutschland vorüber“) und Jones („Am Ende des Krisenjahres standen die deutschen Demokraten aufrecht“) bejahen das; Ullrich attestiert der Republik zwar eine „erstaunliche Überlebensfähigkeit“, bleibt gleichzeitig aber sehr skeptisch („Das scheinbar beruhigende Bild einer gefestigten Demokratie zeigte ... Risse“), der ökonomische Aufschwung sei nicht nachhaltig gewesen.
Gänzlich düster ist der Ausblick bei Longerich. „Die allgemeine Erleichterung, die nach der Krise mit der scheinbaren Rückkehr zur Normalität einkehrt, lenkt von dem Weiterexistieren der eigentlichen Krisenursachen ab“, schreibt er und nennt etwa die Abkehr breiter Schichten von den Parteien, die Spaltung der Gesellschaft infolge der Inflation, das Anwachsen linker und rechter Extremisten und die weiterhin starke Ablehnung des Vertrags von Versailles. Longerich spricht in dem Zusammenhang von „Stabilitätsillusion“. Womöglich ist das der Begriff, den man sich am Ende einprägen sollte.
Kaffeehaus und Kater
Den 1923-Wettbewerb eröffnete ein erfahrener Kenner der Jahresbücher. Der Publizist Christian Bommarius hatte zuvor schon das Gründungsjahr der Bundesrepublik 1949 ziseliert. Flott erzählt und fein montiert lässt der Autor für das Katastrophenjahr ein Großaufgebot damals berühmter Menschen aufmarschieren und ihre Gefühle, Eindrücke und Ängste ausbreiten. Es geht vor allem ums Berliner Kulturleben, der Politikbetrieb der Hauptstadt wird nur gestreift. Eine Gesamtdarstellung gibt es also nicht, dafür umso intensiver die Rückwirkungen der Krise auf die – zumeist privilegierten – Menschen. Wirtschaftsbosse, Antisemiten und Extremisten aller Art treten auch auf. Ein Meisterstück der archivalischen Collagen-Reportage. Schönes Extra: Was mit den Protagonisten weiter geschah.
Christian Bommarius: Im Rausch des Aufruhrs. Deutschland 1923, dtv, München 2022. 353 Seiten, 14 Euro (TB).
Berlin Mitte
Konsequent von der Chronologie löst sich der Historiker und Publizist Volker Ullrich. Er versucht recht überzeugend, „das verwickelte Knäuel der Krisenphänomene zu entwirren und die Fäden unter thematischen Gesichtspunkten neu zu ordnen“. Die Darstellung konzentriert sich – mit Ausnahme eines recht überschaubaren Kulturkapitels – vollends auf die Reichspolitik. Die Protagonisten sind also vor allem Politiker, Generäle, Industrielle und zahllose Extremisten (Hitler et al.) Im Vordergrund stehen die Akten aus der Reichskanzlei. Dennoch lässt Ullrich mächtige Zitatpassagen aus Zeitungen, Tagebuchaufzeichnungen und Erinnerungen auf die Leser einprasseln. Auffällig ist die sehr positive Zeichnung von Kanzler Gustav Stresemann. Eine sehr gut geschriebene Gesamtdarstellung, allerdings zurückhaltend im Urteil.
Volker Ullrich; Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund. C.H. Beck, München 2022. 441 Seiten, 28 Euro.
Rechte Gefahr
Die mit Abstand beste Gesamtdarstellung, analytisch scharf und erhellend. Der Historiker Peter Longerich schaut auf die Ereignis- und Strukturgeschichte und schafft es ganz gut, das „komplexe Ereignisbündel“ zu entwirren. Der Chronologie entkommt er aber auch nicht. Sieht die Gefahr für die Republik vor allem von rechts und erklärt schlüssig, wie Hitlers rechtsextremer Putschismus die rechtskonservativen Staatsstreichpläne (Stichwort: Direktorium) durchkreuzte. Hat als Einziger sehr hilfreiches Kartenmaterial. Und hat den originellsten Ansatz zum Hitlerputsch: 2,5 Seiten genügen („Die weiteren Ereignisse sind oft dargestellt worden.“) Longerich kommt zu einem sehr düsteren Schluss: Kein einziges strukturelles Problem war Ende 1923 behoben, die neue Normalität war nur „Schein“. Und: bestes Coverbild.
Peter Longerich: Außer Kontrolle. Deutschland 1923. Molden, Wien 2022. 318 Seiten, 33 Euro.
Babylon Berlin
Eigentlich auch kein politisches Buch, aber dennoch unentbehrlich zum Verständnis der Zeit. Der Publizist Armin Fuhrer hat sich die „Lebenswirklichkeit“ der Berliner im Krisenjahr vorgenommen und sehr viele bunte, düstere und erschreckende Details über das erst 1920 entstandene Groß-Berlin mit seinen 3,8 Millionen Einwohnern zusammengetragen: über die bittere Not derer, die unter der Hyperinflation litten; über die Geschäfte der „Raffkes“ oder Schieber. Fuhrer klärt auf über neue Moden, neue Freiheiten und wie die zunehmende Perspektivlosigkeit die Menschen dazu trieb, einfach nur leben zu wollen, wild und exzessiv. Es geht ausführlich um Sex und Crime, um Prostitution und Drogenrausch. Um „Tanzwut“, „Spielwut“ und nicht zuletzt um die „Nacktkultur“. Es zeigt die Realität der Geld- und Werte-Entwertung. Ganz nah dran am „Sündenbabel“.
Armin Fuhrer: Hunger & Ekstase. Berlin 1922/23. Elsengold, Berlin 2022. 240 Seiten, 26 Euro.
Roher Reigen
Hugo Stinnes isst ein Stück Rinderbrust. Und das Volk muss in Suppenküchen verköstigt werden, damit es nicht verhungert. Die Zeit-Journalistin Jutta Hoffritz hat ihr 1923-Buch auf ungewöhnliche Weise verfasst, im Stakkato-Stil (nach ein, zwei Sätzen gleich ein Absatz) und im schnellen Wechsel zwischen etwa zehn Hauptprotagonisten, unter ihnen der Ruhrbaron Stinnes, Reichsbankpräsident Rudolf Havenstein, Kurt Tucholsky, der rheinische Separatist Hans Adam Dorten oder Käthe Kollwitz. Simuliert werden soll so wahrscheinlich eine Art „Totentanz“. Funktioniert aber nur mäßig. Stinnes problematische Rolle wird kaum ausgeleuchtet, er kommt als guter Geschäftsmann weg; Havenstein bleibt seltsam blass. Anita Berber kommt auch vor und ein paar Kommunisten. Kein roter Faden auf dem glatten Tanzboden! Stattdessen viel Weißraum.
Jutta Hoffritz: Totentanz. 1923 und seine Folgen. HarperCollins, Hamburg 2022. 334 Seiten, 23 Euro.
Weiter Winkel
Schon mal gehört? Vertrag von Lausanne. Das große Erdbeben von Kantō. Ägyptomanie. Ja, auch das ist alles im Jahr 1923 passiert. Aber halt nicht in Deutschland. Ein Aufsatzband weitet endlich mal die Perspektive und zeigt auf, wie das Krisenjahr „die Welt erschütterte“. Zwar ist bei deutschen Themen die Stimmung oft eher düster, Ruhrbesetzung, Hitlerputsch, rassistische Karikaturen .... Vor allem aber erklären die Autoren, dass nicht alles an dem Jahr katastrophal krisenhaft war, sondern dass es auch Aufbrüche gab oder Erfreuliches wie etwa die Entdeckung des Tutanchamun-Grabes. Alles, was nicht im Deutschen Reich spielt, hilft, den selbstbespiegelnden Blick zu schärfen, etwa beim Thema Bevölkerungsaustausch zwischen der neu gegründeten Türkei und Griechenland. Anregende Abwechslung.
Nicolai Hannig, Detlev Mares (Hg.): Krise! Wie 1923 die Welt erschütterte. wbg, Darmstadt 2022, 240 Seiten, 40 Euro.
Blut und Eisen
Die einzige Analyse aus dem Ausland über das Deutsche Reich. Der in Dublin lehrende Mark Jones hatte schon mit einem Buch über die Revolution 1918/19 einiges Aufsehen erregt. Vor allem die detaillierte Schilderung von Gewaltszenen hatte man bisher so nicht gelesen, die „Schuld“ an den Exzessen lud der irische Historiker bei der damals regierenden SPD ab – was nicht jedem Fachkollegen gefiel. Auch in „1923“ rumst es gewaltig. Jedes Kapitel (chronologisch geordnet) beginnt mit einer Gewaltszene. Der ganz große Schuldige ist diesmal der französische Ministerpräsident Raymond Poincaré. Brisante Details auch über die Untaten der französischen Besatzungssoldaten im besetzten Ruhrgebiet. Die kommunistische Gefahr wird eher vernachlässigt. Flott geschrieben. Am Schluss ein Hoch auf die deutsche Demokratie! Gefällt auch nicht jedem.
Mark Jones: 1923. Ein deutsches Trauma. Propyläen, Berlin 2022. 384 Seiten, 26 Euro.
Rotfront Sachsen
Eine der wenigen aktuellen Regionalstudien. Der Historiker Karl Heinrich Pohl ruft in Erinnerung, dass damals Mitteldeutschland von Sachsen bis Braunschweig als „rote Bastion“ wahrgenommen wurde. Stark organisierte Industriearbeiter, sehr starke SPD, viele Kommunisten. Pohls steile (nicht neue) These: Die längerfristige Zusammenarbeit von SPD und KPD in Sachsen hätte die Republik nicht destabilisiert, sondern vielmehr im Sinne einer Transformation in eine soziale Demokratie weiterentwickeln können. Viele interessante Details über linke Schul- und Polizeipolitik. Aber am Ende keine klare Haltung, ob die „sprunghafte“ KPD nicht nur zum Schein in die Regierung eintrat – um von dort aus die Revolution im Sinne Moskaus zu starten. Dennoch erfrischender Perspektivwechsel, wenn auch nur als Gedankenexperiment.
Karl Heinrich Pohl: Sachsen 1923. Das linksrepublikanische Projekt – eine vertane Chance für die Weimarer Demokratie? Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2022. 307 Seiten, 45 Euro.
Linke Gefahr
Eine weitere Gesamtdarstellung des Schicksalsjahrs hat gerade Ralf Georg Reuth vorgelegt. Der Publizist und Historiker ist es gewohnt, eine große Stoffmenge zu verarbeiten („Kurze Geschichte des Zweiten Weltkriegs“). Und das beweist er auch hier – kein anderes Werk bietet wohl auf dem vorhandenen Platz mehr Details und Einzelheiten. Mögliches Motto: alles erzählen, Analyse ergibt sich von selbst. Die extreme Verdichtung hilft nicht immer bei der Lektüre, aber Reuth wirft einen viel intensiveren Blick auf die Politik der Friedensmächte von Versailles als die anderen – ein echter Pluspunkt. Vor allem aber lenkt er seine Aufmerksamkeit nach Moskau, wo aus seiner Sicht eine kommunistische Umsturzpolitik geschmiedet wurde, die den rechten Umtrieben im Deutschen Reich in nichts nachstand. Sein Fazit: Alle Umstürzler von rechts und links scheiterten an Stresemann.
Ralf Georg Reuth: 1923. Kampf um die Republik. Piper, München 2023. 364 Seiten, 24 Euro.
„Wir tanzen auf einem Vulkan und wir stehen vor einer Revolution, wenn wir nicht durch eine ebenso entschlossene wie kluge Politik die Gegensätze versöhnen können“, sagte Reichskanzler Gustav Stresemann im Sommer 1923. Im Bild eine Demonstration von Arbeitslosen in Berlin.
Foto: SZ Photo
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Staatsmacht
Bücher über das Krisenjahr 1923 boomen.
Alle erzählen die gleichen Fakten, doch diese
werden erstaunlich unterschiedlich bewertet
VON ROBERT PROBST
Weshalb vergeude ich kümmerliche Worte darum, um denen diesen Winter begreiflich zu machen, die ihn nicht miterlebt haben? Es sind und bleiben Worte nur und doch umspannen sie den ganzen tragischen Zusammenbruch unausgeträumter Hoffnungen ungezählter, namenloser Helden und Märtyrer. Die Nachwelt wird wenig verständnisvoll dieser Zeit gegenüberstehen.“ So schrieb der heute vergessene Schriftsteller Herbert Brandt 1930 im Rückblick auf das Jahr 1923. Wie steht nun die Nachwelt 100 Jahre später zu diesen Ereignissen? Guckt sie nur „Babylon Berlin“, Hitler-Dokus oder greift sie in den Buchhandlungen in die hohen Stapel der 1923-Sachbücher?
Also was steht nun eigentlich drin in diesen zahlreichen Werken? Nach der Lektüre von Hunderten Seiten kann festgehalten werden: Die Bewertung der lange bekannten, dramatischen Ereignisse fällt dann doch erstaunlich uneinheitlich aus. Neun Bücher liegen dieser Analyse zugrunde, vollständig ist die Liste aber nicht. Das erste 1923-Werk erschien im vorigen März, das vorerst letzte vor wenigen Tagen.
Nacherzählung vs. Thesenstärke
Das Jahr 1923 erzählt sich quasi von selbst. Es braucht keine ordnende Hand, weil es vom Beginn der Ruhrbesetzung durch Frankreich und Belgien (Januar) bis zum Scheitern des Hitlerputsches (November) und der Einführung der Rentenmark eine ständige Steigerung von Krisen hervorbrachte, die alle miteinander verbunden waren: passiver Widerstand, wankende Koalitionen, mehrere Regierungswechsel, Extremismus von rechts und links, Separatismus-Bestrebungen und dazu Not, Elend und Hyperinflation. Die Folge: Spaltung, Hysterie, Bürgerkriegsgefahr. Und darum sind fast alle Gesamtdarstellungen mehr oder weniger ein breit fließender Strom von Ereignissen und Deutungen der Zeitgenossen. Die meisten sind sogar chronologisch geordnet (Mark Jones, Ralf Georg Reuth, Christian Bommarius, Jutta Hoffritz). Nur Peter Longerich und Volker Ullrich wählen bewusst einen anderen Ansatz und arbeiten mehrere Komplexe im Zusammenhang ab. Die Gefahr, die beide Ansätze in sich tragen: Weil alle akribisch recherchiert haben, wird alles aufgeschrieben – nicht selten wird der Erzählstrom dann aber allzu breit und zähflüssig.
Viel Neues erfährt man insgesamt nicht, die Quellen und Fakten sind ja bestens erforscht, die komplexe Vorgeschichte seit der Revolution von 1918 wird oft nur skizziert, wenn überhaupt – aber schöner erzählt wurde nie vom Krisenjahr. Nur ein Beispiel: „Die Deutschen schwimmen im Geld und drohen darin zu ertrinken.“ (Bommarius)
Eine steile neue These gab es aber doch, der irische Historiker Jones hat sie vorgebracht, demnach war „Deutschland das ganze Jahr über Opfer der französischen Aggressionen“. Und zwar vor allem die Demokraten und Republikaner seien vom französischen Ministerpräsidenten Raymond Poincaré gezwungen worden, ihren Abwehrkampf gegen rechts „mit einer auf den Rücken gefesselten Hand“ zu führen. Schon die SZ-Rezensentin Stefanie Middendorf hat dieses Entlastungsnarrativ im Sommer deutlich zurückgewiesen. Im aktuellen Sammelband (Hanning/Mares) urteilt der Marburger Historiker Eckart Conze: Zwar nehme der „Opferbegriff eine zeitgenössische Selbstwahrnehmung vieler Deutscher auf, aber es bleibt fraglich, ob Kategorien wie ‚Opfer‘ – und damit zwangsläufig auch ‚Täter‘ – der Komplexität der politischen Entwicklung der 1920er-Jahre gerecht werden“. Ebenso wäre zu fragen „ob nicht die Moralisierung, die sich mit diesen Begriffen verbindet, eine differenzierte historische Urteilsbildung erschwert, wenn nicht verhindert“. Eine ähnlich wilde Debatte wie nach Christopher Clarks Buch „Die Schlafwandler“, das in Teilen auch als Entlastung der Deutschen beim Beginn des Ersten Weltkriegs gedeutet wurde, blieb aber bisher aus.
Hugo Stinnes vs. Moskau
Wer waren nun eigentlich die „Bösen“ in diesem 1923-Spektakel? Wie Jones hat auch Reuth nicht viel übrig für den „Deutschlandhasser“ Poincaré und die „unerbittliche Härte des Élysées“ (ganz Frankreich scheint bei allen Autoren übrigens nur aus Poincaré und ein paar Offizieren zu bestehen). Eher am Rande erwähnt Reuth aber auch, dass „das Schicksal des besetzten Gebiets zu einem Gutteil in den Händen von ausschließlich profitorientierten Industriellen liegt, denen die Nation letztendlich gleichgültig ist“.
Sehr viel expliziter benennt Longerich den Ruhrbaron und Inflationshauptgewinnler Hugo Stinnes als sinistren Strippenzieher der Reichspolitik. Als DVP-Abgeordneter hatte er direkten Zugang zu den Machtzentren in Berlin und strickte kräftig an seiner „eigenen Agenda“, die da lautete: noch mehr Geld verdienen, die sozialpolitischen Errungenschaften (Achtstundentag) zurückdrehen und in der Hochphase der Krise sich für einen Staatsstreich zugunsten eines stramm rechtskonservativen diktatorisch regierenden „Direktoriums“ einsetzen. Mit in diesem Stinnes-Boot saß laut Longerich auch der Chef der Heeresleitung, Generaloberst Hans von Seeckt, der für einen rechtswidrigen politischen Systemwechsel bereit gewesen sei. Nur einen Putsch lehnte Seeckt strikt ab. Und so kam es, dass Hitlers Putsch am 8./9. November „auch alle übrigen Staatsstreich- und Diktaturpläne“ delegitimierte. Hitler, der Reichswehr und Polizei nicht hinter sich brachte, hat also – überspitzt gesagt – 1923 die Republik gerettet, indem er die deutlich aussichtsreicheren Rechtsdiktatur-Pläne in Berlin durchkreuzte.
In die entgegengesetzte Richtung deutet hingegen Reuth, indem er die „zumeist einseitige Fixierung auf die Bedrohung der Republik von rechts“ kritisiert und die Gefahr eines bolschewistischen Umsturzes in Mitteldeutschland (Stichwort: Deutscher Oktober) in grellen Farben ausmalt. Dass in Moskau viele Vorgänge in Deutschland völlig falsch eingeschätzt wurden und dass die Arbeiterschaft in Sachsen und Thüringen nicht zur Revolution bereit war, mindert für Reuth nicht die Existenz eines solchen „großen linken Umsturzherdes“.
„Glanztat“ vs. Zufallssieg
Und wer waren die „Guten“? Hier besteht mehr Einigkeit. Für Ullrich war der 103-Tage-Kanzler Gustav Stresemann ein „entschlossener Verteidiger der verfassungsmäßigen Ordnung“. Der DVP-Politiker bewahrte Deutschland 1923 vor „Zusammenbruch und Chaos“, schreibt Reuth, auch wegen seines „beherzten Vorgehens gegen Sozialisten und Kommunisten“. Eine Handvoll Demokraten hätten eine „politische Glanztat“ vollbracht. Und die Reichswehr stand „treu zur Republik“.
Am weitesten geht auch hier Mark Jones. Er hält den „Sieg der Demokraten am Ende des Jahres 1923“ für deren größten Erfolg in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, bedeutender als die Republikgründung 1918. Den Deutschen empfiehlt er 2023 sogar eine „Feier ohne Trauma oder Furcht, ohne chauvinistisches Getöse“.
Longerich hält dem Kanzler allerdings nur den Abbruch des Ruhrkampfs und die Stabilisierung der Währung zugute. Von einer „erfolgreichen Bewältigung“ der Krise durch eine fähige Regierung will er explizit nicht sprechen. Dass die „totale Eskalation der Krise nicht stattfand“, also die Errichtung einer Rechtsdiktatur, rechnet er nicht dem Krisenmanagement der Regierung zu, sondern der gegenseitigen Blockade von rechtskonservativen und rechtsextremen Kräften. (Zum Hitlerputsch werden in Kürze auch neue Bücher erscheinen.)
Merkwürdigerweise nur am Rande taucht in all den Werken Reichspräsident Friedrich Ebert auf. Dabei war der SPD-Politiker der entscheidende Mann, der fester als die meisten anderen auf demokratischem Boden stand. Er nutzte den kompletten Besteckkasten der Reichsverfassung (Ermächtigungsgesetz, Notverordnungen, Ausnahmezustand, Presse- und Parteienverbot, Übertragung der vollziehenden Gewalt auf die Reichswehr, Reichsexekutionen), um die Republik zu retten. Sein Nachfolger Paul von Hindenburg tat das nach 1930 auch – aber um die Republik zu zerstören, gemeinsam mit den Rechtskonservativen und den Hitler-Leuten.
Beruhigung vs. „Stabilitätsillusion“
Geriet die Republik also Anfang 1924 in ruhigeres Fahrwasser? Reuth („Die Zeit der Extremisten war in Deutschland vorüber“) und Jones („Am Ende des Krisenjahres standen die deutschen Demokraten aufrecht“) bejahen das; Ullrich attestiert der Republik zwar eine „erstaunliche Überlebensfähigkeit“, bleibt gleichzeitig aber sehr skeptisch („Das scheinbar beruhigende Bild einer gefestigten Demokratie zeigte ... Risse“), der ökonomische Aufschwung sei nicht nachhaltig gewesen.
Gänzlich düster ist der Ausblick bei Longerich. „Die allgemeine Erleichterung, die nach der Krise mit der scheinbaren Rückkehr zur Normalität einkehrt, lenkt von dem Weiterexistieren der eigentlichen Krisenursachen ab“, schreibt er und nennt etwa die Abkehr breiter Schichten von den Parteien, die Spaltung der Gesellschaft infolge der Inflation, das Anwachsen linker und rechter Extremisten und die weiterhin starke Ablehnung des Vertrags von Versailles. Longerich spricht in dem Zusammenhang von „Stabilitätsillusion“. Womöglich ist das der Begriff, den man sich am Ende einprägen sollte.
Kaffeehaus und Kater
Den 1923-Wettbewerb eröffnete ein erfahrener Kenner der Jahresbücher. Der Publizist Christian Bommarius hatte zuvor schon das Gründungsjahr der Bundesrepublik 1949 ziseliert. Flott erzählt und fein montiert lässt der Autor für das Katastrophenjahr ein Großaufgebot damals berühmter Menschen aufmarschieren und ihre Gefühle, Eindrücke und Ängste ausbreiten. Es geht vor allem ums Berliner Kulturleben, der Politikbetrieb der Hauptstadt wird nur gestreift. Eine Gesamtdarstellung gibt es also nicht, dafür umso intensiver die Rückwirkungen der Krise auf die – zumeist privilegierten – Menschen. Wirtschaftsbosse, Antisemiten und Extremisten aller Art treten auch auf. Ein Meisterstück der archivalischen Collagen-Reportage. Schönes Extra: Was mit den Protagonisten weiter geschah.
Christian Bommarius: Im Rausch des Aufruhrs. Deutschland 1923, dtv, München 2022. 353 Seiten, 14 Euro (TB).
Berlin Mitte
Konsequent von der Chronologie löst sich der Historiker und Publizist Volker Ullrich. Er versucht recht überzeugend, „das verwickelte Knäuel der Krisenphänomene zu entwirren und die Fäden unter thematischen Gesichtspunkten neu zu ordnen“. Die Darstellung konzentriert sich – mit Ausnahme eines recht überschaubaren Kulturkapitels – vollends auf die Reichspolitik. Die Protagonisten sind also vor allem Politiker, Generäle, Industrielle und zahllose Extremisten (Hitler et al.) Im Vordergrund stehen die Akten aus der Reichskanzlei. Dennoch lässt Ullrich mächtige Zitatpassagen aus Zeitungen, Tagebuchaufzeichnungen und Erinnerungen auf die Leser einprasseln. Auffällig ist die sehr positive Zeichnung von Kanzler Gustav Stresemann. Eine sehr gut geschriebene Gesamtdarstellung, allerdings zurückhaltend im Urteil.
Volker Ullrich; Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund. C.H. Beck, München 2022. 441 Seiten, 28 Euro.
Rechte Gefahr
Die mit Abstand beste Gesamtdarstellung, analytisch scharf und erhellend. Der Historiker Peter Longerich schaut auf die Ereignis- und Strukturgeschichte und schafft es ganz gut, das „komplexe Ereignisbündel“ zu entwirren. Der Chronologie entkommt er aber auch nicht. Sieht die Gefahr für die Republik vor allem von rechts und erklärt schlüssig, wie Hitlers rechtsextremer Putschismus die rechtskonservativen Staatsstreichpläne (Stichwort: Direktorium) durchkreuzte. Hat als Einziger sehr hilfreiches Kartenmaterial. Und hat den originellsten Ansatz zum Hitlerputsch: 2,5 Seiten genügen („Die weiteren Ereignisse sind oft dargestellt worden.“) Longerich kommt zu einem sehr düsteren Schluss: Kein einziges strukturelles Problem war Ende 1923 behoben, die neue Normalität war nur „Schein“. Und: bestes Coverbild.
Peter Longerich: Außer Kontrolle. Deutschland 1923. Molden, Wien 2022. 318 Seiten, 33 Euro.
Babylon Berlin
Eigentlich auch kein politisches Buch, aber dennoch unentbehrlich zum Verständnis der Zeit. Der Publizist Armin Fuhrer hat sich die „Lebenswirklichkeit“ der Berliner im Krisenjahr vorgenommen und sehr viele bunte, düstere und erschreckende Details über das erst 1920 entstandene Groß-Berlin mit seinen 3,8 Millionen Einwohnern zusammengetragen: über die bittere Not derer, die unter der Hyperinflation litten; über die Geschäfte der „Raffkes“ oder Schieber. Fuhrer klärt auf über neue Moden, neue Freiheiten und wie die zunehmende Perspektivlosigkeit die Menschen dazu trieb, einfach nur leben zu wollen, wild und exzessiv. Es geht ausführlich um Sex und Crime, um Prostitution und Drogenrausch. Um „Tanzwut“, „Spielwut“ und nicht zuletzt um die „Nacktkultur“. Es zeigt die Realität der Geld- und Werte-Entwertung. Ganz nah dran am „Sündenbabel“.
Armin Fuhrer: Hunger & Ekstase. Berlin 1922/23. Elsengold, Berlin 2022. 240 Seiten, 26 Euro.
Roher Reigen
Hugo Stinnes isst ein Stück Rinderbrust. Und das Volk muss in Suppenküchen verköstigt werden, damit es nicht verhungert. Die Zeit-Journalistin Jutta Hoffritz hat ihr 1923-Buch auf ungewöhnliche Weise verfasst, im Stakkato-Stil (nach ein, zwei Sätzen gleich ein Absatz) und im schnellen Wechsel zwischen etwa zehn Hauptprotagonisten, unter ihnen der Ruhrbaron Stinnes, Reichsbankpräsident Rudolf Havenstein, Kurt Tucholsky, der rheinische Separatist Hans Adam Dorten oder Käthe Kollwitz. Simuliert werden soll so wahrscheinlich eine Art „Totentanz“. Funktioniert aber nur mäßig. Stinnes problematische Rolle wird kaum ausgeleuchtet, er kommt als guter Geschäftsmann weg; Havenstein bleibt seltsam blass. Anita Berber kommt auch vor und ein paar Kommunisten. Kein roter Faden auf dem glatten Tanzboden! Stattdessen viel Weißraum.
Jutta Hoffritz: Totentanz. 1923 und seine Folgen. HarperCollins, Hamburg 2022. 334 Seiten, 23 Euro.
Weiter Winkel
Schon mal gehört? Vertrag von Lausanne. Das große Erdbeben von Kantō. Ägyptomanie. Ja, auch das ist alles im Jahr 1923 passiert. Aber halt nicht in Deutschland. Ein Aufsatzband weitet endlich mal die Perspektive und zeigt auf, wie das Krisenjahr „die Welt erschütterte“. Zwar ist bei deutschen Themen die Stimmung oft eher düster, Ruhrbesetzung, Hitlerputsch, rassistische Karikaturen .... Vor allem aber erklären die Autoren, dass nicht alles an dem Jahr katastrophal krisenhaft war, sondern dass es auch Aufbrüche gab oder Erfreuliches wie etwa die Entdeckung des Tutanchamun-Grabes. Alles, was nicht im Deutschen Reich spielt, hilft, den selbstbespiegelnden Blick zu schärfen, etwa beim Thema Bevölkerungsaustausch zwischen der neu gegründeten Türkei und Griechenland. Anregende Abwechslung.
Nicolai Hannig, Detlev Mares (Hg.): Krise! Wie 1923 die Welt erschütterte. wbg, Darmstadt 2022, 240 Seiten, 40 Euro.
Blut und Eisen
Die einzige Analyse aus dem Ausland über das Deutsche Reich. Der in Dublin lehrende Mark Jones hatte schon mit einem Buch über die Revolution 1918/19 einiges Aufsehen erregt. Vor allem die detaillierte Schilderung von Gewaltszenen hatte man bisher so nicht gelesen, die „Schuld“ an den Exzessen lud der irische Historiker bei der damals regierenden SPD ab – was nicht jedem Fachkollegen gefiel. Auch in „1923“ rumst es gewaltig. Jedes Kapitel (chronologisch geordnet) beginnt mit einer Gewaltszene. Der ganz große Schuldige ist diesmal der französische Ministerpräsident Raymond Poincaré. Brisante Details auch über die Untaten der französischen Besatzungssoldaten im besetzten Ruhrgebiet. Die kommunistische Gefahr wird eher vernachlässigt. Flott geschrieben. Am Schluss ein Hoch auf die deutsche Demokratie! Gefällt auch nicht jedem.
Mark Jones: 1923. Ein deutsches Trauma. Propyläen, Berlin 2022. 384 Seiten, 26 Euro.
Rotfront Sachsen
Eine der wenigen aktuellen Regionalstudien. Der Historiker Karl Heinrich Pohl ruft in Erinnerung, dass damals Mitteldeutschland von Sachsen bis Braunschweig als „rote Bastion“ wahrgenommen wurde. Stark organisierte Industriearbeiter, sehr starke SPD, viele Kommunisten. Pohls steile (nicht neue) These: Die längerfristige Zusammenarbeit von SPD und KPD in Sachsen hätte die Republik nicht destabilisiert, sondern vielmehr im Sinne einer Transformation in eine soziale Demokratie weiterentwickeln können. Viele interessante Details über linke Schul- und Polizeipolitik. Aber am Ende keine klare Haltung, ob die „sprunghafte“ KPD nicht nur zum Schein in die Regierung eintrat – um von dort aus die Revolution im Sinne Moskaus zu starten. Dennoch erfrischender Perspektivwechsel, wenn auch nur als Gedankenexperiment.
Karl Heinrich Pohl: Sachsen 1923. Das linksrepublikanische Projekt – eine vertane Chance für die Weimarer Demokratie? Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2022. 307 Seiten, 45 Euro.
Linke Gefahr
Eine weitere Gesamtdarstellung des Schicksalsjahrs hat gerade Ralf Georg Reuth vorgelegt. Der Publizist und Historiker ist es gewohnt, eine große Stoffmenge zu verarbeiten („Kurze Geschichte des Zweiten Weltkriegs“). Und das beweist er auch hier – kein anderes Werk bietet wohl auf dem vorhandenen Platz mehr Details und Einzelheiten. Mögliches Motto: alles erzählen, Analyse ergibt sich von selbst. Die extreme Verdichtung hilft nicht immer bei der Lektüre, aber Reuth wirft einen viel intensiveren Blick auf die Politik der Friedensmächte von Versailles als die anderen – ein echter Pluspunkt. Vor allem aber lenkt er seine Aufmerksamkeit nach Moskau, wo aus seiner Sicht eine kommunistische Umsturzpolitik geschmiedet wurde, die den rechten Umtrieben im Deutschen Reich in nichts nachstand. Sein Fazit: Alle Umstürzler von rechts und links scheiterten an Stresemann.
Ralf Georg Reuth: 1923. Kampf um die Republik. Piper, München 2023. 364 Seiten, 24 Euro.
„Wir tanzen auf einem Vulkan und wir stehen vor einer Revolution, wenn wir nicht durch eine ebenso entschlossene wie kluge Politik die Gegensätze versöhnen können“, sagte Reichskanzler Gustav Stresemann im Sommer 1923. Im Bild eine Demonstration von Arbeitslosen in Berlin.
Foto: SZ Photo
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