New York Times bestselling author Roxane Gay has written with intimacy and sensitivity about food and bodies, using her own emotional and psychological struggles as a means of exploring our shared anxieties over pleasure, consumption, appearance, and health. As a woman who describes her own body as "wildly undisciplined," Roxane understands the tension between desire and denial, between self-comfort and self-care. In Hunger, she casts an insightful and critical eye on her childhood, teens, and twenties-including the devastating act of violence that acted as a turning point in her young life-and brings readers into the present and the realities, pains, and joys of her daily life
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.05.2019Fettsein als Überlebensstrategie
Die amerikanische Feministin Roxane Gay erkundet in ihrem schonungslosen Buch "Hunger" die Festung ihres Körpers
Die amerikanische Schriftstellerin Roxane Gay ist 1,91 Meter groß und wog in ihren schwersten Zeiten 261 Kilogramm. Seit beinahe drei Jahrzehnten sitzt die Autorin nun in diesem Körpergefängnis fest, das sie in ihrem Bekenntnisbuch "Hunger" maximal drastisch beschreibt: "Ich bin fett - ich habe dicke Rollen aus braunem Fleisch an Armen und Schenkeln und Bauch. Ich bin von Dehnungsstreifen zerklüftet und habe tiefe Cellulitetaschen an meinen massiven Oberschenkeln."
In einer auf optimierte Oberflächen fixierten Gesellschaft, in der der weibliche Körper gleichzeitig extrem schlank und erotisch kurvig zu sein hat, gilt Fettleibigkeit als verachtenswert, ein Ausdruck von Schwäche und fehlender Disziplin. Aus dem Ruder gelaufene, nimmersatte XXL-Körper wie jener von Roxane Gay sind in der Size-Zero-Welt eine Zumutung, als wäre Fettsein eine bewusste Entscheidung, als hätten all die adipösen Menschen Spaß am täglichen Spießrutenlauf, als perlten die angewiderten und mitleidigen Blicke ihrer Umwelt an ihnen ab. Ein dicker, gar fetter Körper ist niemals unsichtbar und für gewöhnlich urteilt jeder über ihn. Abwertende Bezeichnungen existieren reichlich, Roxane Gay kennt sie alle. Doch warum ein Körper eigentlich ist, wie er ist, möchte niemand wissen - dabei erzählt jeder Körper eine Geschichte, und manche Geschichten sind albtraumhaft.
Roxane Gays Körper war einmal schmal und unauffällig, da war sie zwölf Jahre jung. Kein Kinderkörper mehr, aber auch noch kein Erwachsenenkörper - ein verletzlicher Körper auf der Suche nach Zuneigung. Dieser Körper wurde vergewaltigt. Der Junge, von dem Roxane Gay sich sehnlichst wünschte, er würde sie mögen wie sie ihn, zerstörte gemeinsam mit ein paar Freunden ihr Leben in einer Waldhütte. Die Täter missbrauchten, quälten, zerstörten nacheinander Roxane Gays Körper und ihre Seele: "Mein Körper wurde zerbrochen. Ich wurde zerbrochen. Ich wusste nicht, wie ich mich wieder zusammensetzen sollte. Ich war zersplittert. Ein Teil von mir war tot."
2014 erschien Roxane Gays vielgelobter Essayband "Bad Feminist", der inzwischen auch auf Deutsch vorliegt. Der Titel spielt auf das Imperfekte der für die richtige Sache kämpfenden Autorin an, die trotz der oft frauenverachtenden Texte Rap liebt, nicht sämtliche feministischen Schlüsseltexte gelesen hat und Frauenmagazine ebenso mag wie die Farbe Pink. Die kulturkritische Perspektive behält die 1974 in Omaha, Nebraska, geborene Roxane Gay auch in "Hunger" bei, aber sie versteckt ihre traumatische (Körper-)Geschichte nicht dahinter, sondern legt sie in einer Weise offen, die die inflationär gebrauchten Begriffe schonungslos und radikal tatsächlich einmal rechtfertigt.
Gegenüber ihren aus Haiti eingewanderten Eltern, die sich mit Fleiß und Ehrgeiz ein erfolgreiches Leben in Amerika aufgebaut haben und die Körperzurichtung ihrer Tocher mit großer Sorge beobachten, verschweigt Roxane Gay die Vergewaltigung. Dass sie ihren Schmerz so tief in sich hineinfrisst, bis er sie beherrscht, hat nichts mit fehlender Liebe oder dem Gefühl zu tun, zu Hause unbehaust zu sein. Scham, eines der mächtigsten Gefühle, lässt sie verstummen. Und wie so viele Opfer sexueller Gewalt empfindet die in einer Spirale aus Selbsthass gefangene Roxane Gay Schuld: "Noch heute fühle ich mich schuldig, nicht nur für das, was passierte, sondern auch dafür, wie ich danach damit umging, für mein Schweigen, für mein Essen und dafür, was aus meinem Körper geworden ist."
Opfer sexuellen Missbrauchs leiden unter dem Verbrechen meist ihr Leben lang. Sie neigen zu Depressionen, Schlafstörungen, Angststörungen, Panikattacken und Suchtverhalten. Sie haben große Mühe, funktionierende Beziehungen aufzubauen, zu vertrauen, Liebe und Lust zu empfinden. Doch was diese tiefe Verletztheit und Verletzlichkeit tatsächlich bedeutet, lässt sich aus keiner Studie über den Zusammenhang von sexuellem Missbrauch und einem höheren Body-Mass-Index herauslesen - weshalb autobiographische Erzählungen wie "Hunger" von Roxane Gay enorm wichtig sind. Gerade jetzt, da #MeToo einen Sicherheitsraum geschaffen hat, der die Opfer ermutigt, ihr oft jahrzehntelang gehaltenes Schweigen zu brechen.
Auch wenn Roxane Gay nicht explizit ins Detail geht, was ihre misslungenen Beziehungen betrifft, wird klar, dass die Verbindungen oft toxischen Charakter haben und sie (sexuelle) Dinge mit sich machen lässt, die sie nicht möchte. Ihre Sucht wird das Essen, das sie tröstet, wenn sie traurig, einsam und verzweifelt ist, und zu dem sie leidenschaftlich greift, wenn es ihr gutgeht, scham- und hemmungslos, stets vom Hunger getrieben. Einem Hunger danach, wirklich gesehen und verstanden zu werden und inneren Frieden zu finden. Die gigantischen Kalorienmengen, die Gay besonders während ihrer Internats- und Studienzeit verschlingt, aber auch später noch, als erfolgreiche Autorin, verwandeln ihren Körper in eine Festung aus Fleisch, deren schiere Masse die Männer abschrecken soll, damit sie sie nie wieder vergewaltigen. Fettsein als Überlebensstrategie.
Gleichzeitig hasst Roxane Gay diesen ihr das Leben zur Hölle machenden Körper und wünscht sich nichts sehnlicher, als dünn zu sein, weil Dünnsein die soziale Währung ist. Immer wieder unterwirft sie sich Diäten - ohne großen Erfolg. "Nichts schmeckt so gut, wie sich Dünnsein anfühlt", hat Kate Moss, Supermodel und Ikone des Heroin Chic, einmal gesagt.
Als Feministin, schreibt Roxane Gay, glaube sie, dass es richtig wäre, die rigiden Schönheitsmaßstäbe abzuschaffen, die Frauen dazu nötigten, sich unrealistischen Idealen anzupassen. Doch das wird freilich nie passieren, weil die Diät- und Schönheitsindustrie, die ihr Geld mit den Selbstzweifeln des weiblichen Geschlechts verdient, milliardenschwer ist und boomt und weil Hochglanzmagazine Schönsein mit Glück gleichsetzen.
"Hunger" hält am Ende weder eine Annäherung an Schönheitsideale noch Glück bereit, obwohl Roxane Gay gern die beliebte Vorher-Nachher-Happy-End-Geschichte erzählt hätte. Und trotzdem: Sie wiegt jetzt siebzig Kilo weniger als in ihren schlimmsten Zeiten, hat Therapien absolviert und sich im Netz mit Opfern sexueller Gewalt ausgetauscht. Das alles hat ihr bei der Traumaverarbeitung geholfen, gerettet aber hat sie das Schreiben, durch das sie sich ihren Körper zurückerobert hat. "Ich bin so sehr geheilt, wie es möglich ist." Und das ist wichtiger als jedes verlorene Pfund.
MELANIE MÜHL
Roxane Gay: "Hunger". Die Geschichte meines Körpers.
Aus dem Englischen von Anne Spielmann.
btb Verlag, München 2019. 320 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die amerikanische Feministin Roxane Gay erkundet in ihrem schonungslosen Buch "Hunger" die Festung ihres Körpers
Die amerikanische Schriftstellerin Roxane Gay ist 1,91 Meter groß und wog in ihren schwersten Zeiten 261 Kilogramm. Seit beinahe drei Jahrzehnten sitzt die Autorin nun in diesem Körpergefängnis fest, das sie in ihrem Bekenntnisbuch "Hunger" maximal drastisch beschreibt: "Ich bin fett - ich habe dicke Rollen aus braunem Fleisch an Armen und Schenkeln und Bauch. Ich bin von Dehnungsstreifen zerklüftet und habe tiefe Cellulitetaschen an meinen massiven Oberschenkeln."
In einer auf optimierte Oberflächen fixierten Gesellschaft, in der der weibliche Körper gleichzeitig extrem schlank und erotisch kurvig zu sein hat, gilt Fettleibigkeit als verachtenswert, ein Ausdruck von Schwäche und fehlender Disziplin. Aus dem Ruder gelaufene, nimmersatte XXL-Körper wie jener von Roxane Gay sind in der Size-Zero-Welt eine Zumutung, als wäre Fettsein eine bewusste Entscheidung, als hätten all die adipösen Menschen Spaß am täglichen Spießrutenlauf, als perlten die angewiderten und mitleidigen Blicke ihrer Umwelt an ihnen ab. Ein dicker, gar fetter Körper ist niemals unsichtbar und für gewöhnlich urteilt jeder über ihn. Abwertende Bezeichnungen existieren reichlich, Roxane Gay kennt sie alle. Doch warum ein Körper eigentlich ist, wie er ist, möchte niemand wissen - dabei erzählt jeder Körper eine Geschichte, und manche Geschichten sind albtraumhaft.
Roxane Gays Körper war einmal schmal und unauffällig, da war sie zwölf Jahre jung. Kein Kinderkörper mehr, aber auch noch kein Erwachsenenkörper - ein verletzlicher Körper auf der Suche nach Zuneigung. Dieser Körper wurde vergewaltigt. Der Junge, von dem Roxane Gay sich sehnlichst wünschte, er würde sie mögen wie sie ihn, zerstörte gemeinsam mit ein paar Freunden ihr Leben in einer Waldhütte. Die Täter missbrauchten, quälten, zerstörten nacheinander Roxane Gays Körper und ihre Seele: "Mein Körper wurde zerbrochen. Ich wurde zerbrochen. Ich wusste nicht, wie ich mich wieder zusammensetzen sollte. Ich war zersplittert. Ein Teil von mir war tot."
2014 erschien Roxane Gays vielgelobter Essayband "Bad Feminist", der inzwischen auch auf Deutsch vorliegt. Der Titel spielt auf das Imperfekte der für die richtige Sache kämpfenden Autorin an, die trotz der oft frauenverachtenden Texte Rap liebt, nicht sämtliche feministischen Schlüsseltexte gelesen hat und Frauenmagazine ebenso mag wie die Farbe Pink. Die kulturkritische Perspektive behält die 1974 in Omaha, Nebraska, geborene Roxane Gay auch in "Hunger" bei, aber sie versteckt ihre traumatische (Körper-)Geschichte nicht dahinter, sondern legt sie in einer Weise offen, die die inflationär gebrauchten Begriffe schonungslos und radikal tatsächlich einmal rechtfertigt.
Gegenüber ihren aus Haiti eingewanderten Eltern, die sich mit Fleiß und Ehrgeiz ein erfolgreiches Leben in Amerika aufgebaut haben und die Körperzurichtung ihrer Tocher mit großer Sorge beobachten, verschweigt Roxane Gay die Vergewaltigung. Dass sie ihren Schmerz so tief in sich hineinfrisst, bis er sie beherrscht, hat nichts mit fehlender Liebe oder dem Gefühl zu tun, zu Hause unbehaust zu sein. Scham, eines der mächtigsten Gefühle, lässt sie verstummen. Und wie so viele Opfer sexueller Gewalt empfindet die in einer Spirale aus Selbsthass gefangene Roxane Gay Schuld: "Noch heute fühle ich mich schuldig, nicht nur für das, was passierte, sondern auch dafür, wie ich danach damit umging, für mein Schweigen, für mein Essen und dafür, was aus meinem Körper geworden ist."
Opfer sexuellen Missbrauchs leiden unter dem Verbrechen meist ihr Leben lang. Sie neigen zu Depressionen, Schlafstörungen, Angststörungen, Panikattacken und Suchtverhalten. Sie haben große Mühe, funktionierende Beziehungen aufzubauen, zu vertrauen, Liebe und Lust zu empfinden. Doch was diese tiefe Verletztheit und Verletzlichkeit tatsächlich bedeutet, lässt sich aus keiner Studie über den Zusammenhang von sexuellem Missbrauch und einem höheren Body-Mass-Index herauslesen - weshalb autobiographische Erzählungen wie "Hunger" von Roxane Gay enorm wichtig sind. Gerade jetzt, da #MeToo einen Sicherheitsraum geschaffen hat, der die Opfer ermutigt, ihr oft jahrzehntelang gehaltenes Schweigen zu brechen.
Auch wenn Roxane Gay nicht explizit ins Detail geht, was ihre misslungenen Beziehungen betrifft, wird klar, dass die Verbindungen oft toxischen Charakter haben und sie (sexuelle) Dinge mit sich machen lässt, die sie nicht möchte. Ihre Sucht wird das Essen, das sie tröstet, wenn sie traurig, einsam und verzweifelt ist, und zu dem sie leidenschaftlich greift, wenn es ihr gutgeht, scham- und hemmungslos, stets vom Hunger getrieben. Einem Hunger danach, wirklich gesehen und verstanden zu werden und inneren Frieden zu finden. Die gigantischen Kalorienmengen, die Gay besonders während ihrer Internats- und Studienzeit verschlingt, aber auch später noch, als erfolgreiche Autorin, verwandeln ihren Körper in eine Festung aus Fleisch, deren schiere Masse die Männer abschrecken soll, damit sie sie nie wieder vergewaltigen. Fettsein als Überlebensstrategie.
Gleichzeitig hasst Roxane Gay diesen ihr das Leben zur Hölle machenden Körper und wünscht sich nichts sehnlicher, als dünn zu sein, weil Dünnsein die soziale Währung ist. Immer wieder unterwirft sie sich Diäten - ohne großen Erfolg. "Nichts schmeckt so gut, wie sich Dünnsein anfühlt", hat Kate Moss, Supermodel und Ikone des Heroin Chic, einmal gesagt.
Als Feministin, schreibt Roxane Gay, glaube sie, dass es richtig wäre, die rigiden Schönheitsmaßstäbe abzuschaffen, die Frauen dazu nötigten, sich unrealistischen Idealen anzupassen. Doch das wird freilich nie passieren, weil die Diät- und Schönheitsindustrie, die ihr Geld mit den Selbstzweifeln des weiblichen Geschlechts verdient, milliardenschwer ist und boomt und weil Hochglanzmagazine Schönsein mit Glück gleichsetzen.
"Hunger" hält am Ende weder eine Annäherung an Schönheitsideale noch Glück bereit, obwohl Roxane Gay gern die beliebte Vorher-Nachher-Happy-End-Geschichte erzählt hätte. Und trotzdem: Sie wiegt jetzt siebzig Kilo weniger als in ihren schlimmsten Zeiten, hat Therapien absolviert und sich im Netz mit Opfern sexueller Gewalt ausgetauscht. Das alles hat ihr bei der Traumaverarbeitung geholfen, gerettet aber hat sie das Schreiben, durch das sie sich ihren Körper zurückerobert hat. "Ich bin so sehr geheilt, wie es möglich ist." Und das ist wichtiger als jedes verlorene Pfund.
MELANIE MÜHL
Roxane Gay: "Hunger". Die Geschichte meines Körpers.
Aus dem Englischen von Anne Spielmann.
btb Verlag, München 2019. 320 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main