Heinrich Zille (1858-1929), als Zeichner und Photographder wohl populärste Chronist des Berliner "Milljöhs", hatauch vor den Schlafstuben und Absteigen der hauptstädtischenHinterhöfe nicht Halt gemacht. 1913 veröffentlichteer im Privatdruck und unter dem Pseudonym W. Pfeifereigene, dem Volksmund abgelauschte Aufzeichnungen undIllustrationen, denen er den Titel "Hurengespräche" gab unddie, wie nicht anders zu erwarten, unmittelbar nach ihremErscheinen von den kaiserlichen Sittenrichtern in dieIllegalität verbannt wurden. In seiner ebenso drastischenwie authentischen "Sozialstudie" zum Berliner Dirnen -milieu erweist sich Zille nicht nur als intimer Kenner derSzene, sondern auch als der "preußische Boccaccio" desBerliner Proletariats.Wir freuen uns, dieses Urgestein erotischer Hauptstadtliteratur jetzt in siebter Auflage anbieten zu können.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.12.2008Lutschliesen
Unsittenbild der Hinterhöfe: Heinrich Zilles „Hurengespräche”
Man kennt nicht jeden Jargonausdruck, den die Damen so von sich geben. Aber man erfährt auch so genug von den Erlebnissen, die Heinrich Zille den Besucherinnen des Bouillonkellers für seine „Hurengespräche” abgelauscht hat. An derber Deutlichkeit lassen die „zwanglosen Geschichten” nichts zu wünschen übrig, und natürlich wurden sie 1913 sofort verboten. Das Buch steht zwar in einer literarischen Tradition (der von Lukians Hetärengesprächen), und Zille hat vieles witzig pointiert. Nichtsdestoweniger ist die realistische Kulisse, in der es hier zur Sache geht, auch in Jutta Hoffmanns knackiger Hörspielbearbeitung völlig klar: Zille ist eine Skizze der großstädtischen Unterschicht in ihren Schlafkammern gelungen, die ihresgleichen sucht.
Diese Schlafkammern und drin muffelnden Verhältnisse sind das versteckte Thema hinter den Reden der sechs Prostituierten. Haarsträubend direkt und grell unterhalten sich die Lutschliese, die Pinselfrieda und ihre Kolleginnen: Über die „Ehekrüppel”, ihre Kunden, unter denen auch mal der Vater sein kann. Oder über kleinbürgerlichen Phalluskult mittels Gipsabguss. Und immer wieder darüber, wie die Verlotterung in der Familie weitervererbt wird, wie sie mit dem Bruder oder dem Vater . . . und oft zum eigenen Pläsier. Hat der Feminismus, hat die Sozialgeschichte diesen grotesken dokumentarischen Reigen der Verwahrlosung, dieses Unsittenbild der Hinterhöfe eigentlich schon entdeckt?
Als Hörstück kommen die „Hurengespräche” locker und brutal komisch da-her. Das liegt vor allem an den herrlich berlinernden Schauspielerinnen, die lustvoll oder stoisch, aber ohne jegliches Selbstmitleid ihr Leben erzählen und nebenher ein paar hübsche und schmutzige Liedchen singen. Nur in der noch kindlichen, schon zerbrochenen Görenstimme Katrin Angerers liegt noch ein halber Schock. Aber man ahnt, dass sie den genauso verwinden wird, wie es der herzig-abgebrühten „Bollenguste” Dagmar Manzel gelang. Aber darf man das denn, diese subproletarische Vorhölle so kreuzfidel, so lustig, so haarscharf am Hure-mit-Herz-Kitsch vorbei inszenieren? Man darf, denn es trifft Zilles Gratwanderung zwischen Sozialreportage, Zote und Miljöh-Verklärung genau. Eine Haltung, die man auch human nennen kann. WILHELM TRAPP
HEINRICH ZILLE: Hurengespräche. Mit Dagmar Manzel u. a. Der Audio Verlag, Berlin 2008, 1 CD, 45 Min., 15,99 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Unsittenbild der Hinterhöfe: Heinrich Zilles „Hurengespräche”
Man kennt nicht jeden Jargonausdruck, den die Damen so von sich geben. Aber man erfährt auch so genug von den Erlebnissen, die Heinrich Zille den Besucherinnen des Bouillonkellers für seine „Hurengespräche” abgelauscht hat. An derber Deutlichkeit lassen die „zwanglosen Geschichten” nichts zu wünschen übrig, und natürlich wurden sie 1913 sofort verboten. Das Buch steht zwar in einer literarischen Tradition (der von Lukians Hetärengesprächen), und Zille hat vieles witzig pointiert. Nichtsdestoweniger ist die realistische Kulisse, in der es hier zur Sache geht, auch in Jutta Hoffmanns knackiger Hörspielbearbeitung völlig klar: Zille ist eine Skizze der großstädtischen Unterschicht in ihren Schlafkammern gelungen, die ihresgleichen sucht.
Diese Schlafkammern und drin muffelnden Verhältnisse sind das versteckte Thema hinter den Reden der sechs Prostituierten. Haarsträubend direkt und grell unterhalten sich die Lutschliese, die Pinselfrieda und ihre Kolleginnen: Über die „Ehekrüppel”, ihre Kunden, unter denen auch mal der Vater sein kann. Oder über kleinbürgerlichen Phalluskult mittels Gipsabguss. Und immer wieder darüber, wie die Verlotterung in der Familie weitervererbt wird, wie sie mit dem Bruder oder dem Vater . . . und oft zum eigenen Pläsier. Hat der Feminismus, hat die Sozialgeschichte diesen grotesken dokumentarischen Reigen der Verwahrlosung, dieses Unsittenbild der Hinterhöfe eigentlich schon entdeckt?
Als Hörstück kommen die „Hurengespräche” locker und brutal komisch da-her. Das liegt vor allem an den herrlich berlinernden Schauspielerinnen, die lustvoll oder stoisch, aber ohne jegliches Selbstmitleid ihr Leben erzählen und nebenher ein paar hübsche und schmutzige Liedchen singen. Nur in der noch kindlichen, schon zerbrochenen Görenstimme Katrin Angerers liegt noch ein halber Schock. Aber man ahnt, dass sie den genauso verwinden wird, wie es der herzig-abgebrühten „Bollenguste” Dagmar Manzel gelang. Aber darf man das denn, diese subproletarische Vorhölle so kreuzfidel, so lustig, so haarscharf am Hure-mit-Herz-Kitsch vorbei inszenieren? Man darf, denn es trifft Zilles Gratwanderung zwischen Sozialreportage, Zote und Miljöh-Verklärung genau. Eine Haltung, die man auch human nennen kann. WILHELM TRAPP
HEINRICH ZILLE: Hurengespräche. Mit Dagmar Manzel u. a. Der Audio Verlag, Berlin 2008, 1 CD, 45 Min., 15,99 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de