In Südindien wurden in den 1950er bis 1970er Jahren sowohl in den Metropolen als auch ländlichen Gegenden zahlreiche Kinosäle gebaut. Ihre Architektur basiert auf einer ungewöhnlichen Mischung aus westlichen Einflüssen und lokalen Baustilen. Die kulissenhaften, stark farbigen Fassaden bilden einen Vorgeschmack auf das Kinoerlebnis im Saal, in dem sich extravagante Formen und Verzierungen fortsetzen und den Zuschauer bereits vor Filmbeginn auf die cineastische Welt einstimmen. Man kann diese Architektursprache als eine Art hybride Moderne bezeichnen.Viele dieser Kinogebäude sind noch im Originalzustand erhalten. Der Umbau zu Multiplexsälen hat allerdings in den Metropolen bereits begonnen. Die Aufnahmen von Haubitz+Zoche aus den Jahren 2010 - 2013 dokumentieren ein Stück Kinokultur, das in Europa und den USA zum Großteil schon verschwunden ist und auch in Indien immer mehr von kommerziellen Interessen verdrängt wird. Die Publikation wird durch den Kunstfonds Bonn gefördert.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.04.2017Große Gefühle
Allmählich erreicht das Sterben der Filmtheater auch Indien. Haubitz + Zoche haben die Häuser noch rechtzeitig fotografiert.
Von Freddy Langer
Der Flug mit Air India nach Delhi dauert knapp sechseinhalb Stunden. Wer ihn bucht, um sich an Bord dem indischen Kino zu widmen, kommt nicht allzu weit. Zwar verzeichnet das Bordprogramm eine schier endlose Liste von Hindi Movies, unterteilt in Gruppen wie "Classic", "Contemporary" und "New Releases". Aber wer den Star-Wert von Shah Rukh Khan nicht kennt, obwohl Google bei seinem Namen binnen 0,87 Sekunden fast neun Millionen Treffer anbietet, und wem nicht schon beim Titel "Aaye Din Bahaar Ke" die Tränen in die Augen steigen, einer fast drei Stunden dauernden musikalischen Romanze aus dem Jahr 1966, der hat keine Chance, sich in diesem Angebot von zudem allesamt überlangen Filmen zurechtzufinden. Hinter "Akira", "Azhar" oder "Gour Hari Dastaan" kann sich alles verbergen. Zumal das indische Kino mit seinen fast zweitausend Produktionen im Jahr mittlerweile in so vielen Genres Fuß gefasst hat, dass eben nicht mehr nur geliebt, gesungen und getanzt wird, sondern auch geschossen und gekämpft, gemordet und ehegebrochen. Nur mit Glück wird man einen Film herauspicken, der gleich all diese Zutaten bietet. "Baaghi" beispielsweise, in dem zwei Männer einer Frau wegen Krieg führen, in dem Knochen mit der bloßen Hand gebrochen werden, bis man es knacken hört, während bei verträumten Rückblenden im Hintergrund eines romantischen Tête-à-Tête herausgeputzte Elefanten artig die Rüssel schwenken.
Nicht weniger bunt als die Filme sind in Indien die Kinos, gewaltige Filmpaläste mitunter, für die sich die Architekten großzügig im Formenrepertoire von Art déco, klassischer Moderne und der Ästhetik des Sozialismus bedienen, dann aber alles dem indischen Willen zur überbordenden Dekoration unterwerfen und in intensivste Farbigkeit tauchen. Eher aus dem Augenwinkel waren dem Künstlerduo Haubitz + Zoche die Gebäude während einer Reise aufgefallen, aber die drei, vier Fotografien, die sie gemacht hatten, schürten ihr Interesse. Sie fuhren noch einmal hin, diesmal ganz auf Lichtspielhäuser konzentriert.
Was eine nüchterne Architekturstudie hätte werden können, liegt nun als berauschendes Bilderbuch vor, wie das Mitbringsel aus einem Märchenland. Jede Fassade wird hier zum Versprechen, in eine Welt fern dem Alltag einzutreten. Innen breiten sich dann riesige Projektionsflächen aus, weil die Gefühle ja umso effektvoller sind, je größer die Leinwand ist. Filme werden in Indien nicht gezeigt. Sie werden zelebriert. Und endlich erfährt man auch, weshalb es vor den indischen Kinos immer solch große Parkplätze gibt, obwohl doch die meisten Besucher mit dem Moped kommen: Damit sich die tausend Zuschauer und mehr in der Pause der Dreistundenepen die Füße vertreten können.
"Hybrid Modernism - Movie Theatres in South India" von Sabine Haubitz und Stefanie Zoche. Spector Books, Leipzig 2016. 144 Seiten, zahlreiche Farbfotografien. Gebunden, 42 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Allmählich erreicht das Sterben der Filmtheater auch Indien. Haubitz + Zoche haben die Häuser noch rechtzeitig fotografiert.
Von Freddy Langer
Der Flug mit Air India nach Delhi dauert knapp sechseinhalb Stunden. Wer ihn bucht, um sich an Bord dem indischen Kino zu widmen, kommt nicht allzu weit. Zwar verzeichnet das Bordprogramm eine schier endlose Liste von Hindi Movies, unterteilt in Gruppen wie "Classic", "Contemporary" und "New Releases". Aber wer den Star-Wert von Shah Rukh Khan nicht kennt, obwohl Google bei seinem Namen binnen 0,87 Sekunden fast neun Millionen Treffer anbietet, und wem nicht schon beim Titel "Aaye Din Bahaar Ke" die Tränen in die Augen steigen, einer fast drei Stunden dauernden musikalischen Romanze aus dem Jahr 1966, der hat keine Chance, sich in diesem Angebot von zudem allesamt überlangen Filmen zurechtzufinden. Hinter "Akira", "Azhar" oder "Gour Hari Dastaan" kann sich alles verbergen. Zumal das indische Kino mit seinen fast zweitausend Produktionen im Jahr mittlerweile in so vielen Genres Fuß gefasst hat, dass eben nicht mehr nur geliebt, gesungen und getanzt wird, sondern auch geschossen und gekämpft, gemordet und ehegebrochen. Nur mit Glück wird man einen Film herauspicken, der gleich all diese Zutaten bietet. "Baaghi" beispielsweise, in dem zwei Männer einer Frau wegen Krieg führen, in dem Knochen mit der bloßen Hand gebrochen werden, bis man es knacken hört, während bei verträumten Rückblenden im Hintergrund eines romantischen Tête-à-Tête herausgeputzte Elefanten artig die Rüssel schwenken.
Nicht weniger bunt als die Filme sind in Indien die Kinos, gewaltige Filmpaläste mitunter, für die sich die Architekten großzügig im Formenrepertoire von Art déco, klassischer Moderne und der Ästhetik des Sozialismus bedienen, dann aber alles dem indischen Willen zur überbordenden Dekoration unterwerfen und in intensivste Farbigkeit tauchen. Eher aus dem Augenwinkel waren dem Künstlerduo Haubitz + Zoche die Gebäude während einer Reise aufgefallen, aber die drei, vier Fotografien, die sie gemacht hatten, schürten ihr Interesse. Sie fuhren noch einmal hin, diesmal ganz auf Lichtspielhäuser konzentriert.
Was eine nüchterne Architekturstudie hätte werden können, liegt nun als berauschendes Bilderbuch vor, wie das Mitbringsel aus einem Märchenland. Jede Fassade wird hier zum Versprechen, in eine Welt fern dem Alltag einzutreten. Innen breiten sich dann riesige Projektionsflächen aus, weil die Gefühle ja umso effektvoller sind, je größer die Leinwand ist. Filme werden in Indien nicht gezeigt. Sie werden zelebriert. Und endlich erfährt man auch, weshalb es vor den indischen Kinos immer solch große Parkplätze gibt, obwohl doch die meisten Besucher mit dem Moped kommen: Damit sich die tausend Zuschauer und mehr in der Pause der Dreistundenepen die Füße vertreten können.
"Hybrid Modernism - Movie Theatres in South India" von Sabine Haubitz und Stefanie Zoche. Spector Books, Leipzig 2016. 144 Seiten, zahlreiche Farbfotografien. Gebunden, 42 Euro.
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