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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.11.2004

Der große Grabensprung
Tom Wolfe trifft mit seinem neuen Roman „I Am Charlotte Simmons” die Stimmung des geteilten Amerika
Im amerikanischen Kulturbetrieb herrscht kein Mangel an aufgeblasenen Egos, die nach nichts anderem streben, als die ultimative „Great American Novel” zu schreiben, den einen Roman, der Land, Gesellschaft und Zeit in einem üppigen Sittenbild zusammenfasst. Tom Wolfe gab in diesem Pantheon der Wortgewaltigen immer den anachronistisch eitlen Dandy. So auch an diesem Abend, als er im weißen Zweireiher, hoch aufstehendem Hemdkragen und Twotone-Brogue-Schuhen zur Bühne der Buchhandlung am New Yorker Union Square schreitet, um seinen neuen Roman „I Am Charlotte Simmons” vorzustellen.
Die seltenen Romane von Tom Wolfe werden natürlich nicht einfach nur veröffentlicht und vorgestellt. Sie werden als eine Art allgemeingültige Bestandsaufnahme zur Lage des jeweiligen Jahrzehnts inszeniert. Hat doch kein Autor seit den 60er Jahren ein solches Gespür für den so genannten Zeitgeist bewiesen wie Tom Wolfe, der mit Reportagen wie „Das bonbonfarbene tangerinrot-gespritzte Stromlinienbaby” „The Electric Kool Aid Acid Test” und „Radical Chic” den New Journalism auslöste, um dann 1987 mit seinem Debutroman „Fegefeuer der Eitelkeiten” den Realismus seines literarischen Journalismus bis in die Bestsellerlisten zu katapultieren.
Den etablierten Literaten war er ein Stachel im Fleisch, der sie mit seiner weltlichen Eitelkeit, seinem parvenühaften Wertkonservatismus und seinen degoutanten Millionenerfolgen brüskierte. Mit Genuss fielen sie dann 1996 über seinen zweiten Roman „Ein ganzer Kerl” her, für den sich mit Norman Mailer, John Updike und John Irving gleich drei Titanen der Schriftstellerei in die Niederungen der Schmähkritik begaben. Und auch diesmal wetzen sie schon die rhetorischen Messer.
Auch an diesem Abend kann Wolfe es nicht lassen, nach der Verlesung eines Kapitels eine Brandrede gegen den Zustand des amerikanischen Romans vom Stapel zu lassen. „Philip Roth hat gesagt, in 25 Jahren sei der Roman tot”, beginnt er und warnt: „Damit hat er recht, es sei denn der Roman wagt sich wieder hinaus ins wahre Amerika, so wie er es vom 19. Jahrhundert bis zum Jahre 1939 getan hat, als John Steinbeck für ‚Früchte des Zorns‘ mit den Wanderarbeitern gelebt und gelitten hat.”
Um den Verdacht auszuräumen, er selbst drücke sich mit seinen 74 Jahren um diese eingeforderte Sorgfaltspflicht der Recherche, dankt Wolfe gleich auf den ersten Seiten einer langen Reihe von Informanten in der Provinz des amerikanischen Südens und auf den Campi von gleich fünf Universitäten. „I Am Charlotte Simmons” ist ein 676 Seiten schwerer Roman über die Welt der amerikanischen Colleges. Die Titelheldin ist eine Hochbegabte aus einem jener hinterwäldlerischen Nester in den blauen Bergen von North Carolina, in denen sich in den Augen der Großstädter die schlimmsten Vorurteile über den christlich-fundamentalistischen Pöbel des amerikanischen Südens manifestieren. Charlotte Simmons entkommt dieser Welt des dumpfen Elends mit einem Stipendium für ein Studium an der fiktiven Dupont University, einer Melange aus den akademischen Kaderschmieden der Ivy-League- und Seven-Sister-Universitäten. Doch statt des ersehnten Lebens in einer Welt des Geistes, findet sich Wolfes Heldin in einem Mahlstrom aus Saufgelagen und sexuellen Ausschweifungen.
Bringen wir die Probleme mit dem Roman doch gleich zu Beginn hinter uns. Natürlich ist es immer wieder unappetitlich, wenn große Autoren im fortgeschrittenen Alter ein ausgeprägtes Interesse für jugendlichen Sex entwickeln. Dieses Phänomen spielt bei den Verleihungen des Bad Sex Award eine entscheidende Rolle, die die Londoner Literary Review verleiht. Gut möglich, dass die Entjungferung der Heldin im 25. Kapitel nächstes Mal zu den Favoriten gehört, auch wenn Tom Wolfe sie mit gewohnter Finesse durch eines seiner grammatikalischen Störfeuer aus Lautmalereien und sprechblasenartigen Halbsätzen jagt.
Dann übersieht Tom Wolfe geflissentlich die letzten fünfzehn Jahre Pop mit ihrer schier unüberschaubaren Balkanisierung der Jugendkulturen. Sträflich vereinfachend unterteilt er die Studentenschar in so genannten Jocks und Nerds, jene Archetypen unzähliger amerikanischer Collegeklamotten, in denen die athletischen Jocks und verkopften Nerds die Antipoden des Studentenlebens verkörperten. Auch seine manische Fabulierwut, mit der er unzählige Handlungsstränge auf den Weg schickt, wirkt diesmal ermüdend.
Und trotzdem hat Tom Wolfe mit „I Am Charlotte Simmons” die Dynamik des heutigen Amerikas so gut erfasst wie die gesellschaftlichen Spannungen an der Schwelle des politisch korrekten Jahrzehntes in „Fegefeuer der Eitelkeiten” und die Machtkämpfe zwischen altem und neuem Geld während des Wirtschaftswunders der 90er Jahre in „Ein ganzer Kerl”. Die Stärke seines neuen Romans liegt eben nicht in seiner Beschreibung jugendlicher Ausschweifungen und popkultureller Subsekten. Wolfe beschreibt vielmehr den aktuell tobenden Kulturkampf der amerikanischen Gesellschaft aus der Froschperspektive einer jungen Frau, die versucht, aus der bigotten Welt ihrer Kindheit in die Meritokratie der Geisteswelt zu entkommen. Die Titelheldin macht sich stellvertretend für genau jene Massen auf den Weg in das vermeintliche Bildungsparadies des nordöstlichen Amerika, die derzeit für das liberale Amerika und Europa als Inbegriff des tumben, frömmelnden Feindbildes herhalten müssen. Nach der Wahl vor einer Woche haben sich diese Ressentiments zum blanken Hass verschärft. Da speit ein unbekannter Autor auf einer Webseite mit dem vielsagenden Titel „fuckthesouth.com” Gift und Galle über seine Mitbürger im christlichen Süden.
Faktisch ganz richtig verflucht er all die Staaten, die für sich beanspruchen, das „wahre, moralische Amerika” zu verkörpern, und zugleich an den üppigen Steuertöpfen des Nordostens schmarotzen, die höchsten Scheidungsraten und rückständigsten Ansichten aufweisen. Da sind die Landkarten, die im Internet zirkulieren und ganz deutlich zeigen, dass sich die Staaten, die für Bush gestimmt haben, eins zu eins mit den Staaten und Territorien decken, die vor dem amerikanischen Bürgerkrieg für die Erhaltung der Sklaverei eintraten.
„Flyover States” nennen sie die Bundesstaaten des Südens und Westens - Gebiete, über die man höchstens auf seinem Weg von den kosmopolitischen Ballungszentren an den Küsten hinwegfliegt. Das erinnert ein wenig an den unbewussten Rassismus der liberalen New Yorker, die bis in die späten 80er Jahre hinein unumwunden zugaben, noch nie einen Fuß in die Ghettos von Harlem und der Bronx gesetzt zu haben. Das hat sich natürlich geändert. Heute gehört es für Großstädter genauso zum guten Ton, im Schwarzenviertel eine Lieblingsbar zu haben, wie früher einen Geheimtipp für Dim Sum in Chinatown. Der amerikanische Süden ist dagegen zum weißen Fleck auf der Landkarte geworden.
Tom Wolfe aber hat sich in dieser kulturellen Terra Incognita nicht nur umgesehen. Er hat sich auch ganz tief hineingedacht in diese Welt des neuen Pöbels, hat eine Figur entwickelt, die mit ihrem naiv guten Willen, die Gräben des Kulturkampfes zu überspringen, an den korrupten Realitäten des so hochgeschätzten liberalen Amerikas scheitert. Sie hat keine Chance in dieser oligarchischen Welt des Dünkels, in der „die Rebellion zur Norm erstarrt ist”. „Sex and Drugs and Political Correctness”, fasst er seine Erfahrungen bei den Recherchen auf den Campi abschließend zusammen. Eine politische Korrektheit, in der jedoch für die Außenseiter aus der Provinz kein Platz ist.
So verleiht Tom Wolfe seinem Konservatismus eine fast klassenkämpferische Dimension, mit der er die kulturelle Arroganz des liberalen Amerika einmal mehr als gockelhaftes Elitedenken vorführt. Man muss nicht seiner Meinung sein. Die Treffsicherheit kann ihm jedoch keiner absprechen.
ANDRIAN KREYE
Tom Wolfe im Frühjahr 2004 in einem New Yorker Hotel
Foto: AP
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