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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.02.2001

Spalte 22, Zeile 3
Der Journalist Edwin Black spürt den Verbindungen zwischen IBM und der SS nach

Die Vergangenheit holt jetzt sogar unsere "Zukunftsmedien" ein: IBM - so legt der amerikanische Journalist Edwin Black in einem soeben erschienenen Werk dar, das sich wie ein Roman liest und in einer beispiellosen Marketing-Aktion in vierzig Ländern und zehn Sprachen gleichzeitig publiziert wird - war in die Verbrechen der Nazis verstrickt ("IBM und der Holocaust", Propyläen). Deutschland hat damals von IBM die Technik geliefert bekommen, mit deren Hilfe die gigantische Verfolgungs- und Vernichtungsmaschinerie in ganz Europa administrativ vorbereitet und gelenkt wurde. Die Klage von Überlebenden des Holocaust gegen die Firma ist eingereicht, ganz IBM-Europa beginnt zu reagieren. Die Technik, das waren "Hollerith-Maschinen", so genannt nach ihrem deutschstämmigen Erfinder Hermann Hollerith, der Ende des neunzehnten Jahrhunderts im Dienst des amerikanischen Volkszählungsbüros die revolutionäre Erfindung einer automatisierten Lochkartenstanz- und Lesemaschine gemacht hatte. Personenmerkmale konnten durch bestimmte Lochpunkte auf genau definierten Stellen der Karte bezeichnet werden. Zum Beispiel: "männlich" bedeutete ein Loch an erster Stelle in Zeile 1; weiblich: ein Loch an zweiter Stelle in Zeile 2. In den nächsten Zeilen war dann Platz für weitere Merkmale wie Einkommen, Hautfarbe, Beruf. Für die amerikanische Volkszählung 1890 wurde dieses Verfahren zum ersten Mal im großen Maßstab und mit soviel Erfolg angewandt, daß es sich in der Welt der Statistiker und Industriellen in Windeseile herumsprach.

Das Zeitalter der Quantitäten, das Nietzsche heraufdämmern sah, besaß nun endlich eine Maschine, die all seine Phantasien wahr machen konnte. Aber es waren, wie so oft, nicht der Erfinder, der seine Erfindung im großen Maßstab verbreitete, sondern zwei Geschäftsmänner: der eine in Amerika, der andere in Deutschland. Und in dieser deutsch-amerikanischen Zwillingsgeschichte liegt der Schlüssel zum Großeinsatz der modernsten Automaten im Dienst der Nazis. Zwar war diese Geschichte bisher nicht ganz unbekannt: So steht, freilich ohne viel Erläuterung, eine solche Lochkartenmaschine mit dem Firmennamen IBM im Holocaust-Museum in Washington. Geschäftsbeziehungen zum nationalsozialistischen Deutschland wurden von der Firmenleitung allerdings immer dementiert.

Das wird von jetzt an schwerfallen: Thomas J. Watson, der Gründer von IBM, überzeugter Darwinist, Freund von Präsident Roosevelt, Ikone des amerikanischen Kapitalismus, vereinte in sich Personenkult, soziales Engagement für die Mitarbeiter und eine auf Vernichtung des Konkurrenten zielende Aggressivität. Er steht nun im Zwielicht. Die Recherchen, die Blacks Buch zugrunde liegen, lassen daran kaum einen Zweifel.

Gewiß, dieser Mann hatte von Hitler als deutschfreundlicher Amerikaner, als IBM-Chef und als Präsident der Internationalen Handelskammer das "Verdienstkreuz des Deutschen Adlers mit Stern" in Anerkennung seiner "Verdienste für den Weltfrieden und die besseren wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und den anderen Ländern" erhalten. Man wußte aber auch, daß er diesen Orden bei Kriegsbeginn zurückgab. Doch wer konnte ahnen, daß die abenteuerliche Geschichte der Zusammenarbeit, die durch nichts zu beeinträchtigen war, erst danach richtig begann?

Wie konnte es geschehen, daß ein amerikanisches Unternehmen Deutschland auch in den Kriegsjahren logistische Technik zur Perfektionierung der Vernichtung und Verfolgung lieferte? Die Bedingung hierfür war, daß man gleichzeitig ins Zeitalter der ökonomischen Globalisierung und eines biologistischen Nationalismus getreten war. Hermann Hollerith, der Erfinder, übertrug 1910 seine sämtlichen Patente an Willy Heidinger, den Generaldirektor einer Firma, die Rechenmaschinen verkaufte. Heidingers Unternehmen, das er nun "Deutsche Hollerith-Maschinen", kurz "Dehomag" nannte, wurde also Lizenznehmer von Holleriths "Tabulating Machine Company". Damit war eine Verbindung entstanden, die den Weltkrieg und die Inflation überstand, weil der neue Besitzer der amerikanischen Firma, ebenjener Thomas J. Watson, die Dehomag kaufte (bis auf einen verbleibenden Anteil von zehn Prozent), sie aber formell weiter von Heidinger führen ließ. Mit der Reichskanzlerschaft Hitlers wurde aus dieser ungleichen Beziehung eine gegenseitige Abhängigkeit. Heidinger war überzeugter Nationalsozialist und öffnete der Dehomag, die de facto eine hundertprozentige Tochter von IBM wurde, die Türen zu Partei, Verwaltung und Militär. Watson hingegen sorgte für den Nachschub vor allem der äußerst kompliziert herzustellenden Lochkarten, die man in Deutschland noch nicht produzieren konnte. Und er sorgte für die Schulung deutscher Techniker in den Vereinigten Staaten. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten, wobei man immer verschwieg und vertuschte, daß die Dehomag von Amerika aus geführt wurde. Die Nationalsozialisten setzten für die preußische Volkszählung von 1933 ganz auf die Dehomag, und in einer Aktion, deren Anspruch auf Schnelligkeit, Dimension, Präzision exakt derselbe war wie die späteren Logistiktaten Albert Speers wurden die Lochkarten gestanzt und gelesen. Ab September 1933 wurden in einer improvisierten Halle die Daten der Fragebögen in Schichten nahezu rund um die Uhr ausgewertet, die angeworbenen Kräfte mit Dresdner Stollen und Kaffee auf Kosten des Hauses bei Laune gehalten. Es wurde eigens eine Sportlehrerin engagiert, die zu Entspannungsübungen animierte. Der bearbeitete Kartenberg sei zweieinhalbmal so hoch wie die Zugspitze, meldete man stolz. Nach nur vier Monaten war die Zählung abgeschlossen: Wieder ein Triumph. Deutschland und bald ganz Europa setzte auf die neue Technologie in Verwaltung und Industrie. Das war der Moment auch all jener, die den "deutschen Volkskörper" per Lochkarte erfassen wollten: Jetzt würde man insbesondere der Juden nicht bloß schwarz auf weiß, sondern viel besser noch im Profil einer genau gemusterten Kartenmasse habhaft werden: Spalte 22, Zeile 3.

Viele Standesämter und vor allem die Reichsbahn legten sich diese Hollerith-Maschinen zu. Nach dem Krieg wurden immerhin noch zweieinhalbtausend Lochkartenapparate gezählt. Daß diese Technik, die nach Kriegsausbruch im vollem Umfang über die IBM Schweiz logistisch versorgt und geschäftsmäßig verwaltet wurde (dazu zählte nicht zuletzt die Lieferung von Millionen Lochkarten und die Umgehung der Steuer in Deutschland wie in den Vereinigten Staaten), daß diese Technik also bereits schon von 1933 an gezielt für eine geplante physische Vernichtung der Juden und anderer angemietet worden sei, wie Black suggeriert, ist im Lichte der historischen Forschung nicht haltbar. Aber die Phantasien waren da, und wann immer sie real werden sollten, stand die Technik bereit. Fast jedes Konzentrations- und Vernichtungslager hatte eine Hollerith-Maschine oder arbeitete wenigstens mit den Lochkarten, die anderswo gelesen wurden. Sämtliche Transporte aus ganz Europa waren durch Hollerith-Maschinen erfaßt worden. Ein Jude bediente die Hollerith-Maschine von Auschwitz und mußte einstanzen: "auf der Flucht erschossen", "natürlicher Tod", "Sonderbehandlung" und ähnliches.

Ob IBM-Chef Watson das ganze Ausmaß des Grauens tatsächlich gekannt hat? Sicher ist, daß er nichts davon wissen wollte. Raul Hilberg hat gewiß recht, wenn er sagt, die Nazis hätten das alles auch bloß mit Bleistift und Papier gemacht. Die Pointe kommt wie immer am Schluß: Die amerikanische Regierung konnte, als manches ruchbar wurde, nichts gegen Watson unternehmen, weil die Besetzung und Verwaltung des bald besiegten Deutschland ohne die dortigen Hollerith-Maschinen, ohne neue Lochkarten schwer geworden wäre. IBM war Gewinner, im Krieg wie im Frieden, auf beiden Seiten, mit vielen Millionen Dollar. Daß wir vom Buch vorab in einer beispiellosen, generalstabsmäßig, fast möchte man sagen: hollerithartig geplanten Presse- und E-Mail-Aktion erfahren haben, ist irritierend genug und schon wieder eine Geschichte für sich.

MICHAEL JEISMANN

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