Aleksandr Puskins Urgroßvater Abram Hannibal war im Kindesalter in Afrika gefangen genommen und Peter dem Großen als Geschenk überreicht worden. Später würde er trotz aller Widerstände eine beeindruckende Militärkarriere hinlegen.Dieses Detail seiner Familiengeschichte nimmt Puskin in diesem unvollendeten Roman zum Ausgangspunkt: Im Roman Ibrahim genannt, wächst Abram am Zarenhof auf und wird mit Ende zwanzig von seinem »Patenonkel« Peter dem Großen auf die Pariser Artillerieschule geschickt. Aus der Beziehung zu einer Gräfin geht ein Kind hervor, das nach der Geburt gegen einen weißen Säugling getauscht wird, damit der Ehemann der Gräfin keinen Verdacht schöpft. Nach seiner Rückkehr an den Zarenhof verläuft sich sein Kontakt mit der Gräfin trotz wiederholter Liebeserklärungen ihrerseits. Peter der Große will ihn zudem mit Natalja Gavrilovna, der Tochter eines Bojaren verheiraten. Sosehr Ibrahim sich jedoch auch ins Zeug legt: Natalja entzieht sich ihm und verkündet schließlich, sie möge lieber sterben, als mit dem »Mohren« vermählt zu werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Olga Martynova macht sich Gedanken über das vom Übersetzer Peter Urban beibehaltene Wort "Neger" in Alexander Puschkins Roman. Nicht weiter schlimm, findet sie, hatte Puschkin doch selber einen arikanischen Großvater, der versklavt und an den Hof Peter des Großen verbracht worden war. Puschkins Stolz darauf scheint ihr fraglos. Die Geschichte um einen russischen Afrikaner am Hof des Herzogs von Orleans, um seine Liebe zu einer Gräfin und ein schwarzes Baby erzählt der Autor laut Martynova meisterlich. Dass der Text Fragment blieb, spornt die Rezensentin zu eigener Fantasie über das Ende der Geschichte an.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.11.2021Bei dieser Nachricht fällt die Braut in Ohnmacht
Folgenreicher Kindertausch: Alexander Puschkins Novelle "Ibrahim und Zar Peter der Große"
Was für ein Glück, dass der Mutterverlag Matthes & Seitz Bücher aus dem alten Programm der Friedenauer Presse wieder druckt. Zwar hat es den Titel "Ibrahim und Zar Peter der Große" nie gegeben, aber aus dem kleingedruckten Zusatz wird ersichtlich, dass es dasselbe kleine Meisterwerk ist, das der 2013 verstorbene Peter Urban aus dem Russischen übersetzt hat: "Vormals 'Der Mohr Peters des Großen'". Für Alexander Puschkin (nennen wir endlich den Autor!) klang das heute unbequeme Wort "Mohr" keinesfalls herablassend, sondern stolz, genauso wie das im Text originalgetreu beibehaltene Wort "Neger".
Puschkins Urgroßvater war ein Schwarzafrikaner, der als Kind, vermutlich als Geschenk des türkischen Sultans, an den Hof Peters I. gelangte. Der Zar wurde zu seinem Paten und sorgte für seine Ausbildung. Aus dem ausgesprochen klugen Jungen wurde ein General und Wissenschaftler. Erst im zwanzigsten Jahrhundert stieß man in Archiven auf Spuren seines Bruders, der "nur" Musiker in einem Militärorchester wurde und unbekannt blieb, weil er keinen genialen Urenkel hatte.
Puschkins Roman ist schnell erzählt: Der russische Afrikaner am französischen Hof zur Zeit der Regentschaft des Herzogs von Orléans ist glücklich in die Gräfin D. verliebt. Sie gebiert ein schwarzes Baby, das man gegen ein weißes austauscht und an Pflegeeltern gibt, sodass der Graf D. ahnungslos bleibt und mit Vaterstolz erfüllt wird. Ehrgeiz und Pflicht rufen Ibrahim zurück zu den grandiosen Plänen des reformwütigen Zaren. In Sankt Petersburg erreichen ihn Gerüchte von Gräfin D.s Untreue. Er ist zutiefst verletzt, dafür aber steht der von dem Zaren geplanten Einheirat Ibrahims in ein altes Adelsgeschlecht nichts mehr im Wege. Die sechzehnjährige Braut liebt bereits einen anderen und fällt bei der Nachricht in Ohnmacht.
Die Unfreiheit der Frauen ist eines der großen Themen nicht nur in den russischen Kapiteln, wo es noch ganz patriarchal zugeht. Auch die Gräfin D. hat mit siebzehn den ungeliebten Grafen D. heiraten müssen. Der Petersburger Teil sollte sich spiegelverkehrt zum Pariser Abenteuer verhalten, blieb aber leider unvollendet. Der Roman bricht an einer spannenden Szene ab und lädt zu Eigenfantasie ein. Spoiler: Nach mündlicher Überlieferung von Puschkins Plänen sollte Ibrahims junge Gemahlin ein weißes Kind bekommen.
Für Puschkin war der Afrikaner keine Kuriosität aus dem achtzehnten Jahrhundert, sondern eine Identifikationsfigur. "Die Gräfin nahm Ibrahim höflich auf, doch ohne jede besondere Aufmerksamkeit; das schmeichelte ihm. Gewöhnlich betrachtete man den jungen Neger wie ein Wunder, überschüttete ihn mit Fragen, und diese Neugierde, obgleich unter der Miene des Wohlwollens verborgen, kränkte seine Eitelkeit." Klingt das für uns nicht vertraut? Auch wir sprechen davon, wie lästig wohlgemeinte Aufmerksamkeit und Komplimente wie "Sie sprechen aber gut Deutsch!" sind, egal, ob man durch das Aussehen oder den Akzent auffällt (auch die Rezensentin wurde neulich dafür bewundert, dass sie das Wort "Quitten" kennt). Vielleicht ist der 1827 geschriebene "Mohr" eines der allerersten literarischen Zeugnisse von solchen falschen Lagen.
Verblüffend ähnlich beschreibt Puschkin, der stets für die Anerkennung der Literatur als Beruf kämpfte, die Situation eines Schriftstellers. Nicht anders als der Afrikaner Ibrahim wird der Dichter Tscharskij in Puschkins Novelle "Ägyptische Nächte" von der allgemeinen Neugier bedrängt. Berühmt ist Marina Zwetajewas Verszeile "Alle Dichter sind Juden". Die Vorstellung vom Dichter als einem "Fremdling" übernahm die germanophile Zwetajewa wohl aus der deutschen Romantik, aber die Entschlossenheit der Formulierung könnte durchaus von Puschkin inspiriert worden sein, den sie überaus verehrte. Wenn auch bei ihm nirgendwo "Alle Dichter sind Neger" steht, ist das ziemlich deutlich gemeint und für den russischen Kulturraum wichtig.
Es gibt eine von Edgar Allan Poe in die Welt gesetzte Legende, er wäre einmal nach Sankt Petersburg gereist. Der russische Formalist Jurij Tynjanow (1894 bis 1943) kam auf die Idee, sie aufeinandertreffen zu lassen, was leider nur eine Skizze blieb: Petersburg. Ende der Zwanzigerjahre des neunzehnten Jahrhunderts. Eine Schneenacht. Puschkin beobachtet in einer Kneipe einen jungen Mann mit großen Augen, der viel trinkt und etwas Rhythmisches vor sich hin murmelt, bei genauerem Zuhören sind das englische Verse. Beide verspüren eine große Sympathie füreinander, Puschkin streckt dem jungen Mann seine Hand entgegen, und der Amerikaner Poe sagt mit leiser verächtlicher Stimme: "Sie haben negroide Bläue unter den Nägeln!"
Seit Tynjanows Einfall hat sich viel geändert. Die Hoffnung, dass wir alle mit- und nicht gegeneinander leben werden, taucht mal auf, mal verschwindet sie wieder. Puschkin, der blaue Augen und kastanienbraune Locken hatte, betonte seine afrikanische Herkunft oft und gerne, wie etwa in einem Brief anlässlich der byronistischen Mode für Griechenland: "Man darf sowohl den Griechen als auch meinen Brüdern, den Negern, die Befreiung von der unerträglichen Sklaverei wünschen." Dürfen wir ihn postum korrigieren und Wörter, die er mit Stolz aussprach, verstecken? Anscheinend war der Verlag in dieser Hinsicht unschlüssig und wies darauf hin, dass Ibrahim einst "Mohr" hieß. Das erinnert an einen, wie man heute sagen würde, Lifehack der Buchillustratoren in der atheistischen Sowjetunion: Wenn sie eine Kirche zeichnen wollten, machten sie das, aber das Bild wurde oben so abgeschnitten, dass man die Kreuze nicht sah.
Aus heutiger Sicht enthält fast jedes klassische Werk etwas Skandalöses. Vielleicht sollte man die Klassiker für eine Weile einfach in Ruhe lassen. Sollen sie sich von uns erholen. So schlimm wird es nicht: Justinian I. untersagte im sechsten Jahrhundert die Platonische Akademie samt allen nicht christlichen Lehrern, und wir setzen immer noch unsere Fußnoten zu Platon. Eine gewisse Ermüdung der europäischen Kultur von sich selbst dauert seit dem Beginn der Postmoderne an. Es kursierte in den Achtzigern eine Anekdote aus dem Leben russischer Emigranten in Paris: Wegen einer Tänzerin aus Thailand hatte ein Sänger seine Frau verlassen. Deren Frage, wie er mit ihrer Rivalin zu leben gedenke, die nicht einmal wisse, wer Puschkin ist, habe er mit "eben deshalb" beantwortet.
Natürlich glaubt jede Generation die erste zu sein, die endlich alles richtig sieht. Heutige Moralisten sind womöglich nicht schlechter und nicht besser als justinianische Christen. Sollen sie probieren, die Welt zu verbessern. Irgendwann wird es vielleicht auch klappen. OLGA MARTYNOVA
Aleksandr Puskin: "Ibrahim und Zar Peter der Große".
Vormals "Der Mohr Peters des Großen".
Aus dem Russischen von Peter Urban. Friedenauer Presse, Berlin 2021. 92 S., br., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Folgenreicher Kindertausch: Alexander Puschkins Novelle "Ibrahim und Zar Peter der Große"
Was für ein Glück, dass der Mutterverlag Matthes & Seitz Bücher aus dem alten Programm der Friedenauer Presse wieder druckt. Zwar hat es den Titel "Ibrahim und Zar Peter der Große" nie gegeben, aber aus dem kleingedruckten Zusatz wird ersichtlich, dass es dasselbe kleine Meisterwerk ist, das der 2013 verstorbene Peter Urban aus dem Russischen übersetzt hat: "Vormals 'Der Mohr Peters des Großen'". Für Alexander Puschkin (nennen wir endlich den Autor!) klang das heute unbequeme Wort "Mohr" keinesfalls herablassend, sondern stolz, genauso wie das im Text originalgetreu beibehaltene Wort "Neger".
Puschkins Urgroßvater war ein Schwarzafrikaner, der als Kind, vermutlich als Geschenk des türkischen Sultans, an den Hof Peters I. gelangte. Der Zar wurde zu seinem Paten und sorgte für seine Ausbildung. Aus dem ausgesprochen klugen Jungen wurde ein General und Wissenschaftler. Erst im zwanzigsten Jahrhundert stieß man in Archiven auf Spuren seines Bruders, der "nur" Musiker in einem Militärorchester wurde und unbekannt blieb, weil er keinen genialen Urenkel hatte.
Puschkins Roman ist schnell erzählt: Der russische Afrikaner am französischen Hof zur Zeit der Regentschaft des Herzogs von Orléans ist glücklich in die Gräfin D. verliebt. Sie gebiert ein schwarzes Baby, das man gegen ein weißes austauscht und an Pflegeeltern gibt, sodass der Graf D. ahnungslos bleibt und mit Vaterstolz erfüllt wird. Ehrgeiz und Pflicht rufen Ibrahim zurück zu den grandiosen Plänen des reformwütigen Zaren. In Sankt Petersburg erreichen ihn Gerüchte von Gräfin D.s Untreue. Er ist zutiefst verletzt, dafür aber steht der von dem Zaren geplanten Einheirat Ibrahims in ein altes Adelsgeschlecht nichts mehr im Wege. Die sechzehnjährige Braut liebt bereits einen anderen und fällt bei der Nachricht in Ohnmacht.
Die Unfreiheit der Frauen ist eines der großen Themen nicht nur in den russischen Kapiteln, wo es noch ganz patriarchal zugeht. Auch die Gräfin D. hat mit siebzehn den ungeliebten Grafen D. heiraten müssen. Der Petersburger Teil sollte sich spiegelverkehrt zum Pariser Abenteuer verhalten, blieb aber leider unvollendet. Der Roman bricht an einer spannenden Szene ab und lädt zu Eigenfantasie ein. Spoiler: Nach mündlicher Überlieferung von Puschkins Plänen sollte Ibrahims junge Gemahlin ein weißes Kind bekommen.
Für Puschkin war der Afrikaner keine Kuriosität aus dem achtzehnten Jahrhundert, sondern eine Identifikationsfigur. "Die Gräfin nahm Ibrahim höflich auf, doch ohne jede besondere Aufmerksamkeit; das schmeichelte ihm. Gewöhnlich betrachtete man den jungen Neger wie ein Wunder, überschüttete ihn mit Fragen, und diese Neugierde, obgleich unter der Miene des Wohlwollens verborgen, kränkte seine Eitelkeit." Klingt das für uns nicht vertraut? Auch wir sprechen davon, wie lästig wohlgemeinte Aufmerksamkeit und Komplimente wie "Sie sprechen aber gut Deutsch!" sind, egal, ob man durch das Aussehen oder den Akzent auffällt (auch die Rezensentin wurde neulich dafür bewundert, dass sie das Wort "Quitten" kennt). Vielleicht ist der 1827 geschriebene "Mohr" eines der allerersten literarischen Zeugnisse von solchen falschen Lagen.
Verblüffend ähnlich beschreibt Puschkin, der stets für die Anerkennung der Literatur als Beruf kämpfte, die Situation eines Schriftstellers. Nicht anders als der Afrikaner Ibrahim wird der Dichter Tscharskij in Puschkins Novelle "Ägyptische Nächte" von der allgemeinen Neugier bedrängt. Berühmt ist Marina Zwetajewas Verszeile "Alle Dichter sind Juden". Die Vorstellung vom Dichter als einem "Fremdling" übernahm die germanophile Zwetajewa wohl aus der deutschen Romantik, aber die Entschlossenheit der Formulierung könnte durchaus von Puschkin inspiriert worden sein, den sie überaus verehrte. Wenn auch bei ihm nirgendwo "Alle Dichter sind Neger" steht, ist das ziemlich deutlich gemeint und für den russischen Kulturraum wichtig.
Es gibt eine von Edgar Allan Poe in die Welt gesetzte Legende, er wäre einmal nach Sankt Petersburg gereist. Der russische Formalist Jurij Tynjanow (1894 bis 1943) kam auf die Idee, sie aufeinandertreffen zu lassen, was leider nur eine Skizze blieb: Petersburg. Ende der Zwanzigerjahre des neunzehnten Jahrhunderts. Eine Schneenacht. Puschkin beobachtet in einer Kneipe einen jungen Mann mit großen Augen, der viel trinkt und etwas Rhythmisches vor sich hin murmelt, bei genauerem Zuhören sind das englische Verse. Beide verspüren eine große Sympathie füreinander, Puschkin streckt dem jungen Mann seine Hand entgegen, und der Amerikaner Poe sagt mit leiser verächtlicher Stimme: "Sie haben negroide Bläue unter den Nägeln!"
Seit Tynjanows Einfall hat sich viel geändert. Die Hoffnung, dass wir alle mit- und nicht gegeneinander leben werden, taucht mal auf, mal verschwindet sie wieder. Puschkin, der blaue Augen und kastanienbraune Locken hatte, betonte seine afrikanische Herkunft oft und gerne, wie etwa in einem Brief anlässlich der byronistischen Mode für Griechenland: "Man darf sowohl den Griechen als auch meinen Brüdern, den Negern, die Befreiung von der unerträglichen Sklaverei wünschen." Dürfen wir ihn postum korrigieren und Wörter, die er mit Stolz aussprach, verstecken? Anscheinend war der Verlag in dieser Hinsicht unschlüssig und wies darauf hin, dass Ibrahim einst "Mohr" hieß. Das erinnert an einen, wie man heute sagen würde, Lifehack der Buchillustratoren in der atheistischen Sowjetunion: Wenn sie eine Kirche zeichnen wollten, machten sie das, aber das Bild wurde oben so abgeschnitten, dass man die Kreuze nicht sah.
Aus heutiger Sicht enthält fast jedes klassische Werk etwas Skandalöses. Vielleicht sollte man die Klassiker für eine Weile einfach in Ruhe lassen. Sollen sie sich von uns erholen. So schlimm wird es nicht: Justinian I. untersagte im sechsten Jahrhundert die Platonische Akademie samt allen nicht christlichen Lehrern, und wir setzen immer noch unsere Fußnoten zu Platon. Eine gewisse Ermüdung der europäischen Kultur von sich selbst dauert seit dem Beginn der Postmoderne an. Es kursierte in den Achtzigern eine Anekdote aus dem Leben russischer Emigranten in Paris: Wegen einer Tänzerin aus Thailand hatte ein Sänger seine Frau verlassen. Deren Frage, wie er mit ihrer Rivalin zu leben gedenke, die nicht einmal wisse, wer Puschkin ist, habe er mit "eben deshalb" beantwortet.
Natürlich glaubt jede Generation die erste zu sein, die endlich alles richtig sieht. Heutige Moralisten sind womöglich nicht schlechter und nicht besser als justinianische Christen. Sollen sie probieren, die Welt zu verbessern. Irgendwann wird es vielleicht auch klappen. OLGA MARTYNOVA
Aleksandr Puskin: "Ibrahim und Zar Peter der Große".
Vormals "Der Mohr Peters des Großen".
Aus dem Russischen von Peter Urban. Friedenauer Presse, Berlin 2021. 92 S., br., 18,- Euro.
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