Die Sensation im Sisi-Jahr: Die Erinnerungen ihres Mörders, von ihm im Gefängnis aufgezeichnet. Der Herausgeber erzählt dazu die abenteuerliche Geschichte des Manuskripts und faßt zusammen, was wir über das dunkle Leben Luchenis wissen. Seltene Fotografien und Faksimiles illustrieren seine Darstellung. Erst dieses Porträt macht das ganze Ausmaß der Tragödie vom 10. September 1898 deutlich.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.03.1999Sisi hungerte, ihr Volk ißt Bonbons
Auch eine Dolchstoßlegende: Wie ein Waisenknabe sich um den Österreich-Tourismus verdient machte
Elisabeth von Österreich hatte sich schon lange von ihrem eigenen Idealbild entfernt. Seit etwa 1869, ihrem zweiunddreißigsten Lebensjahr, ließ sie sich nicht mehr fotografieren. Sie quälte ihre Zofen mit stundenlangem Kämmen ihres üppigen Haares, trug ein künstliches Gebiß, und ihre einst so zarte Haut war ledern geworden. Ihr Schlankheitswahn führte so weit, daß ihr Leibarzt Hungerödeme an ihren Händen entdeckte, etwas, das die Ärzte erst im von Sisis Witwer Franz Joseph ausgelösten Weltkrieg öfter treffen sollten. Und auch charakterlich war sie nicht ganz einwandfrei: Rassistin, angeblich sogar Antisemitin, kalt auch zu ihrem Gatten, freigebig hauptsächlich mit Worten.
Als sie, wie man sich erzählte, in ihren späten Fünfzigern lebensüberdrüssig wurde, traf es sich somit eigentlich ganz gut, daß ein italienischer Gelegenheitsarbeiter sie mit einer Feile niederstach. Dem pathologischen Befund nach hatte sie keine Schmerzen und konnte doch unsterblich werden. Was hätte sie sich mehr wünschen können?
Zum Ausklang des von der Österreich-Werbung ausgerufenen Sisi-Jahres erschien endlich auch eine Biographie ihres Mörders und mehr als das, enthält das Buch doch auch seine unvollendete Autobiographie. Der Herausgeber versucht fast krampfhaft Parallelen zwischen den Wittelsbachern und Lucheni herzustellen (ihr Verhältnis zu Gott, ein Leben ohne Liebe oder Sinnlichkeit). In krasser Weise verdreht er die Tatsachen. "Die wirkliche Anarchistin war sie!" Diesen Gedanken kann ihm nur das Musical "Elisabeth" eingegeben haben. Man merkt, daß sich Cappon zuwenig mit dem Kaiserhaus beschäftigt hat. Allerdings kennt er die Literatur zu Luigi Lucheni. Um den insgesamt positiven Eindruck dieses Werkes also nicht zu verzerren, sollte man sich auf das eigentliche Thema konzentrieren, den Attentäter, der die Idealisierung des Opfers durch den Staatsanwalt ("bescheiden und mildtätig") im Gerichtssaal mit der Bemerkung: "Ja, sie hat immer gearbeitet . . ." viel besser beantwortete als die meisten heutigen Autoren.
Natürlich, eine alte Handschrift stand am Anfang auch dieser Geschichte, die zwar nicht in den Wirren des Prager Frühlings begann, aber immerhin nach dem Tod des ehemaligen Direktors des Évêché-Gefängnisses zu Genf, in dem Lucheni zwölf Jahre lang interniert gewesen war. Mit der Auffindung fünf blauer Quarthefte begann 1991 die Recherche zu "Ich bereue nichts!". Der Bericht klingt zu Anfang phantastisch und vermag den Leser nicht wirklich von der Authentizität des Materials zu überzeugen. Zwar sind einige Seiten auf Bildtafeln abgelichtet, aber ob das schon als Beweis genügt? Man liest weiter, kann sich jedoch nie ganz einer gewissen Skepsis entledigen.
Lucheni selbst hat seinen Aufzeichnungen den Titel "Histoire d'un enfant abandonné, à la fin du XIXe siècle, racontée par lui-même" gegeben. Er schildert darin seine Kindheit in mehreren Waisenhäusern Oberitaliens, den Aufenthalt bei zuerst sehr guten, dann ganz furchtbaren Pflegeeltern und endet mit seinem dreizehnten Lebensjahr. Oft pathetisch, immer erschütternd und sehr überzeugend erzählt er seine Kindheit, ohne die Gesellschaft zu oft direkt anzuklagen, aber doch fühlbar verbittert. Er scheint besessen von einer Gerechtigkeit, die er nie erfahren hat, und von der Sehnsucht nach seiner Mutter, die ihn als Frucht eines Übergriffes ihres Gutsherrn gleich nach der Geburt fortgab.
Behutsam versucht auch der Herausgeber Luchenis Weg nachzuzeichnen und muß zu dem Schluß kommen, daß die Selbstbezeichnung als Anarchist, die der Attentäter nach seiner Verhaftung aussprach, nur die dünne Schicht über einer tief gekränkten Seele war, die sich zeitlebens nach Geborgenheit und Ordnung sehnte.
Der Mordanschlag selbst zeitigte interessante Folgen. Genf erlebte eine der größten Demonstrationen (zu Protest und Trauer hatte das Kantonsparlament aufgerufen), und ein schlauer Konditor bot bereits die ersten Elisabeth-von-Österreich-Bonbons (Chocolade und Mocca) an. Die großen Zeitungen waren sich in ihrer Verurteilung des Attentäters als Bestie einig, und der Erfinder der kriminologischen Anthropologie, Cesare Lombroso, veröffentlichte noch vor dem Prozeß seine Untersuchungsergebnisse zum Angeklagten Lucheni, in welchen er diesem einen alkoholkranken Vater und einen für nach Lombrosos Meinung für Anarchisten typischen Hang zur Epilepsie unterstellt.
Da der Prozeß möglichst schnell vonstatten gehen sollte, stützte sich die Anklage hauptsächlich auf diese sehr ungenauen Recherchen des Kriminalanthropologen, und die Verhandlung dauerte nur genau einen Tag. Lucheni erhängte sich 1910 in einer Einzelzelle in Dunkelhaft. Sieben Jahre lang, von 1902 bis 1909, verhielt er sich als vorbildlicher Gefangener, lernte Französisch und las viel. Dann wechselte die Direktion, und Luchenis Aufzeichnungen, jene fünf blauen Quarthefte, wurden aus seiner Gefängniszelle entfernt, offenbar gestohlen. In diesem Moment, Cappon nennt ihn den zweiten Tod Luchenis, begann die absichtliche und gewollte Auslöschung des Attentäters. Er wurde in den Selbstmord getrieben. Die Beweisführung ist nicht erdrückend und trotzdem zwingend. Ein geläuterter Mörder paßte offenbar nicht ins Konzept der damaligen Zeit. Noch heute wird der in Spiritus eingelegte Kopf des Sisi-Attentäters in Wien in der pathologischen Sammlung der Universität Wien, wohin er 1984 aus Genf überführt wurde, aufbewahrt, allerdings für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Ob und wann dieses makabre Schaustück endlich beerdigt wird, ist nach neuester Auskunft immer noch nicht entschieden.
MARTIN LHOTZKY
Luigi Lucheni: "Ich bereue nichts!" Die Aufzeichnungen des Sisi-Mörders. Herausgegeben von Santo Cappon. Aus dem Französischen von Bernd Wilczek. Paul Zsolnay Verlag, Wien 1998. 256 S., Abb., geb., 36,- DM.
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Auch eine Dolchstoßlegende: Wie ein Waisenknabe sich um den Österreich-Tourismus verdient machte
Elisabeth von Österreich hatte sich schon lange von ihrem eigenen Idealbild entfernt. Seit etwa 1869, ihrem zweiunddreißigsten Lebensjahr, ließ sie sich nicht mehr fotografieren. Sie quälte ihre Zofen mit stundenlangem Kämmen ihres üppigen Haares, trug ein künstliches Gebiß, und ihre einst so zarte Haut war ledern geworden. Ihr Schlankheitswahn führte so weit, daß ihr Leibarzt Hungerödeme an ihren Händen entdeckte, etwas, das die Ärzte erst im von Sisis Witwer Franz Joseph ausgelösten Weltkrieg öfter treffen sollten. Und auch charakterlich war sie nicht ganz einwandfrei: Rassistin, angeblich sogar Antisemitin, kalt auch zu ihrem Gatten, freigebig hauptsächlich mit Worten.
Als sie, wie man sich erzählte, in ihren späten Fünfzigern lebensüberdrüssig wurde, traf es sich somit eigentlich ganz gut, daß ein italienischer Gelegenheitsarbeiter sie mit einer Feile niederstach. Dem pathologischen Befund nach hatte sie keine Schmerzen und konnte doch unsterblich werden. Was hätte sie sich mehr wünschen können?
Zum Ausklang des von der Österreich-Werbung ausgerufenen Sisi-Jahres erschien endlich auch eine Biographie ihres Mörders und mehr als das, enthält das Buch doch auch seine unvollendete Autobiographie. Der Herausgeber versucht fast krampfhaft Parallelen zwischen den Wittelsbachern und Lucheni herzustellen (ihr Verhältnis zu Gott, ein Leben ohne Liebe oder Sinnlichkeit). In krasser Weise verdreht er die Tatsachen. "Die wirkliche Anarchistin war sie!" Diesen Gedanken kann ihm nur das Musical "Elisabeth" eingegeben haben. Man merkt, daß sich Cappon zuwenig mit dem Kaiserhaus beschäftigt hat. Allerdings kennt er die Literatur zu Luigi Lucheni. Um den insgesamt positiven Eindruck dieses Werkes also nicht zu verzerren, sollte man sich auf das eigentliche Thema konzentrieren, den Attentäter, der die Idealisierung des Opfers durch den Staatsanwalt ("bescheiden und mildtätig") im Gerichtssaal mit der Bemerkung: "Ja, sie hat immer gearbeitet . . ." viel besser beantwortete als die meisten heutigen Autoren.
Natürlich, eine alte Handschrift stand am Anfang auch dieser Geschichte, die zwar nicht in den Wirren des Prager Frühlings begann, aber immerhin nach dem Tod des ehemaligen Direktors des Évêché-Gefängnisses zu Genf, in dem Lucheni zwölf Jahre lang interniert gewesen war. Mit der Auffindung fünf blauer Quarthefte begann 1991 die Recherche zu "Ich bereue nichts!". Der Bericht klingt zu Anfang phantastisch und vermag den Leser nicht wirklich von der Authentizität des Materials zu überzeugen. Zwar sind einige Seiten auf Bildtafeln abgelichtet, aber ob das schon als Beweis genügt? Man liest weiter, kann sich jedoch nie ganz einer gewissen Skepsis entledigen.
Lucheni selbst hat seinen Aufzeichnungen den Titel "Histoire d'un enfant abandonné, à la fin du XIXe siècle, racontée par lui-même" gegeben. Er schildert darin seine Kindheit in mehreren Waisenhäusern Oberitaliens, den Aufenthalt bei zuerst sehr guten, dann ganz furchtbaren Pflegeeltern und endet mit seinem dreizehnten Lebensjahr. Oft pathetisch, immer erschütternd und sehr überzeugend erzählt er seine Kindheit, ohne die Gesellschaft zu oft direkt anzuklagen, aber doch fühlbar verbittert. Er scheint besessen von einer Gerechtigkeit, die er nie erfahren hat, und von der Sehnsucht nach seiner Mutter, die ihn als Frucht eines Übergriffes ihres Gutsherrn gleich nach der Geburt fortgab.
Behutsam versucht auch der Herausgeber Luchenis Weg nachzuzeichnen und muß zu dem Schluß kommen, daß die Selbstbezeichnung als Anarchist, die der Attentäter nach seiner Verhaftung aussprach, nur die dünne Schicht über einer tief gekränkten Seele war, die sich zeitlebens nach Geborgenheit und Ordnung sehnte.
Der Mordanschlag selbst zeitigte interessante Folgen. Genf erlebte eine der größten Demonstrationen (zu Protest und Trauer hatte das Kantonsparlament aufgerufen), und ein schlauer Konditor bot bereits die ersten Elisabeth-von-Österreich-Bonbons (Chocolade und Mocca) an. Die großen Zeitungen waren sich in ihrer Verurteilung des Attentäters als Bestie einig, und der Erfinder der kriminologischen Anthropologie, Cesare Lombroso, veröffentlichte noch vor dem Prozeß seine Untersuchungsergebnisse zum Angeklagten Lucheni, in welchen er diesem einen alkoholkranken Vater und einen für nach Lombrosos Meinung für Anarchisten typischen Hang zur Epilepsie unterstellt.
Da der Prozeß möglichst schnell vonstatten gehen sollte, stützte sich die Anklage hauptsächlich auf diese sehr ungenauen Recherchen des Kriminalanthropologen, und die Verhandlung dauerte nur genau einen Tag. Lucheni erhängte sich 1910 in einer Einzelzelle in Dunkelhaft. Sieben Jahre lang, von 1902 bis 1909, verhielt er sich als vorbildlicher Gefangener, lernte Französisch und las viel. Dann wechselte die Direktion, und Luchenis Aufzeichnungen, jene fünf blauen Quarthefte, wurden aus seiner Gefängniszelle entfernt, offenbar gestohlen. In diesem Moment, Cappon nennt ihn den zweiten Tod Luchenis, begann die absichtliche und gewollte Auslöschung des Attentäters. Er wurde in den Selbstmord getrieben. Die Beweisführung ist nicht erdrückend und trotzdem zwingend. Ein geläuterter Mörder paßte offenbar nicht ins Konzept der damaligen Zeit. Noch heute wird der in Spiritus eingelegte Kopf des Sisi-Attentäters in Wien in der pathologischen Sammlung der Universität Wien, wohin er 1984 aus Genf überführt wurde, aufbewahrt, allerdings für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Ob und wann dieses makabre Schaustück endlich beerdigt wird, ist nach neuester Auskunft immer noch nicht entschieden.
MARTIN LHOTZKY
Luigi Lucheni: "Ich bereue nichts!" Die Aufzeichnungen des Sisi-Mörders. Herausgegeben von Santo Cappon. Aus dem Französischen von Bernd Wilczek. Paul Zsolnay Verlag, Wien 1998. 256 S., Abb., geb., 36,- DM.
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