»Danken wir den Göttern und dem Teufel für Fleur Jaeggy!« Claire-Louise Bennett
Fleur Jaeggy erzählt von Wahnsinn, Verlust und Mord, vom Fluch, eine Familie zu haben, und von der durch nichts zu vertreibenden Nähe des Todes. Dabei erschafft sie surreale Bilder, die sich in die Seele rammen, Geschichten von kristalliner Schönheit, die von einem bösartigen Zauber beseelt scheinen, champagnerfarbene Welten, die vor stiller Gewalt brodeln.
Fleur Jaeggy ist eine Poetin der Verzweiflung und eine Virtuosin des Schauers: Ihre jenseitigen Geschichten zu lesen, das ist, als würde man sich nackt und kopfüber in ein Gestrüpp aus schwarzen Rosensträuchern stürzen - am Ende kommt man blutüberströmt und geläutert wieder heraus.
Fleur Jaeggy erzählt von Wahnsinn, Verlust und Mord, vom Fluch, eine Familie zu haben, und von der durch nichts zu vertreibenden Nähe des Todes. Dabei erschafft sie surreale Bilder, die sich in die Seele rammen, Geschichten von kristalliner Schönheit, die von einem bösartigen Zauber beseelt scheinen, champagnerfarbene Welten, die vor stiller Gewalt brodeln.
Fleur Jaeggy ist eine Poetin der Verzweiflung und eine Virtuosin des Schauers: Ihre jenseitigen Geschichten zu lesen, das ist, als würde man sich nackt und kopfüber in ein Gestrüpp aus schwarzen Rosensträuchern stürzen - am Ende kommt man blutüberströmt und geläutert wieder heraus.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Für Rezensenten Jobst Welge ist die geplante Herausgabe der Werke von Fleur Jaeggy in Einzelbänden ein echter "Grund zur Freude", und er findet den Band "Ich bin der Bruder von XX" eine perfekte Einführung in diese Literatur, die sich zugleich für die großen Verzweiflungen interessiert und sich in den kleinsten Details verliert. So sei Jaeggys Erzählkunst eben, versichert Welge: Strategien der Verfremdung und eine "strenge" Sprache erzeugten in ihrer Prosa Beklemmung und etwas Mystisches. Diese Poetik - die Welge schließlich mit einer Katze vergleicht, die sich gereizt auf einen Punkt stürzt, um ihn schnell wieder zu verlassen - erkennt Welge schon in der Titelerzählung, in der ein Autor von seiner frühen Bereitschaft zum Verschwinden erzählt. Auf diese Weise habe sich Jaeggi eine ganze Prosa geschaffen, eine Mischung aus übergroßer, verzehrender Selbstfixierung und Selbstanalyse mit komischen Elementen. Ebenso begeistert erkennt Welge in den Schriften der Schweizer Autorin Persönlichkeiten, die das letzte literarische Jahrhundert geprägt haben. Es sind neben ihrer ungewöhnlichen Prosa "anekdotische Vignetten" und Erinnerungen an Autoren, mit denen Jaeggi ihre Leser beschert.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.08.2024Die Distanz zwischen Eis und Feuer
Von Annabelle Hirsch
Eine der treffendsten Beschreibungen für den Effekt, den Fleur Jaeggys Texte auf die Person haben, die sie liest, findet sich in diesen Texten selbst. In einer der Kurzgeschichten. "Eine Begegnung in der Bronx" erzählt von einem Besuch beim berühmten Psychoanalytiker Oliver Sacks. Oder besser gesagt von einem Restaurantbesuch mit ihm und dessen Verleger, der zugleich Jaeggys Ehemann war, der 2021 verstorbene Roberto Calasso, Chef von Adelphi. Die Herren unterhalten sich angeregt, Jaeggy sitzt, wie so oft, schweigend daneben. Statt mit den Menschen kommuniziert sie lieber mit einem Tier. Einem Fisch, der im Restaurantaquarium auf seinen baldigen Tod durch Verspeisen wartet.
Er kreist, sie guckt, ihre Augen treffen sich, sie scheinen sich zu verstehen. Im Grunde würden sich ihre Schicksale kaum voneinander unterscheiden, schreibt Jaeggy. Zwar bleibe ihr wahrscheinlich ein bisschen mehr Zeit, ein bisschen mehr Zukunft - doch was ändert das schon? Leben und Tod sind in der Welt der Schweizer Autorin gleichermaßen vom Stillstand geprägt. Wenn überhaupt ist die Differenz eine graduelle, wobei der eine Zustand, der Tod, bei ihr fast wünschenswerter als der andere erscheint. Einfach weil er, im Gegensatz zum Leben, dem entspricht, was er verspricht: dem Nichts, der Leere.
Aber dieser Jaeggy-Effekt (anders kann man es nicht nennen, es ist ein Effekt) zeigt sich nicht direkt hier. Nicht beim Fisch, nicht bei der alles durchtränkenden Todesmelancholie, die Jaeggys kurzen Geschichten oft einen Touch von Schauerroman und 19. Jahrhundert verleiht. Er zeigt sich in einer Bemerkung, die sie am Anfang über sich selbst macht: Ihrem Freund Oliver Sacks sei immer warm, behauptet Fleur Jaeggy, ihr selbst hingegen sei stets kalt: "Ich leide unter einer Kälte, die ich eine innere nennen würde." Und was die Temperatur ihrer Gefühle angeht: "Meine können recht kühl sein. Obwohl ich mich glühend nach Wärme sehne." Wer sich in ihre ebenso anziehenden wie irritierenden Geschichten stürzt, ihre Romane und Erzählungen, die der Suhrkamp-Verlag nun nach und nach neu herausgibt, empfindet es ganz ähnlich: Je mehr man liest, desto mehr friert man. Desto mehr fröstelt man innerlich.
Man sehnt sich nach Wärme, kann sich der Kühle, die Fleur Jaeggy in einer so unkühlen Sprache wie dem Italienischen zu produzieren vermag, so ganz aber auch nicht entziehen. Man will gehen und bleiben, sich herauswinden und weiter reinkriechen, zurück in die Sonne und in ihrem Schatten bleiben, weil ihre Welt faszinierend ist. So schön wie eine Eisskulptur. So glatt und perfekt, wie Dinge und Menschen nur sein können, wenn sie das Leben vollkommen ausgesperrt und im Kern erstickt haben.
Und im Grunde tut Fleur Jaeggy genau das. Ihre Texte wirken, als hätte sie ganz bewusst jede Atmung aus ihren Zeilen herausgepresst und jegliche emotionale Regung, jedes noch so kleine Zucken des Herzens zerschlagen. Man müsse nach jeder Geschichte von Jaeggy erst einmal ein bisschen trauern, so hat ein amerikanischer Podcaster mal über ihren berühmtesten Roman gesagt, "Die seligen Jahre der Züchtigung", für den sie 1990 den Premio Bagutta gewann. Das mag dramatisch klingen, ganz falsch ist es aber nicht. Nur dass man bei Jaeggy nicht, wie üblich, das Ende des Lebens betrauert, sondern die wahre, die eigentliche Tragödie: das Leben, das nie wirklich gelebt wurde.
Die Figuren, denen wir bei ihr begegnen, bewegen sich kaum, zumindest nicht innerlich, sie kommen nicht voran, scheinen wenig bis gar nichts zu fühlen und wollen es eindeutig auch nicht anders. Sie begegnen dem Dasein mit Scheu oder Abneigung. Die Nymphen des Archäologischen Museums in Neapel zum Beispiel, die sich in "Die Besucherin" kurz einmal aus ihrem Bild herauswagen, um in das Leben zu treten, wünschen sich schon nach kürzester Zeit an ihren regungslos sicheren Platz auf der Leinwand zurück. Die Kinder, die durch viele ihrer Geschichten geistern (meist als Geschwisterpaare, von denen eins lebt und eines tot ist), sehnen sich teilweise schon von Beginn an dorthin zurück, wo sie hergekommen sind, in den großen Sumpf des Nichtseins, der Nichtexistenz. Oder, wie es in der ersten Geschichte der erwähnten Sammlung, dem titelgebenden "Ich bin der Bruder von XX", heißt: "Einmal, als ich acht war, fragte mich meine Großmutter: Was hast du denn vor, wenn du groß bist? Und ich antwortete: Sterben will ich. Wenn ich groß bin, will ich sterben. Ich will bald sterben."
Fleur Jaeggy selbst ist 84 Jahre alt. Sie wurde 1940 in die obere Mittelschicht von Zürich geboren, hat ihre Kindheit in diversen Internaten und ihr Erwachsenenleben erst in Rom, dann in Mailand verbracht. Sie war Model und gelegentliche Liedtexterin für den italienischen Sänger Franco Battiato, bevor sie zu schreiben begann. Der Legende nach war es ihre Freundin Ingeborg Bachmann, die sie einst dazu animierte, zum Stift zu greifen. Bachmann erscheint in ihren Texten immer wieder, wie ein Geist, meist ein guter. Mal direkt, namentlich, mal durch ein Zitat, wie in der Erzählung "Wasserstatuen", in denen sie eine Zeile aus "Malina" paraphrasiert. In "Das aseptische Zimmer" erscheint Bachmann dann als eine Frau, die ihr tragisches Ende, ihren frühen Tod durch Verbrennen und Entzug, womöglich vorausahnte.
In diesem zweiseitigen, mysteriösen Text aus dem Erzählungsband "Ich bin der Bruder von XX" fragt Jaeggy ihre Freundin eines Tages, Jahre vor deren Unfalltod, ob sie nicht gemeinsam alt werden und als alte Frauen zusammenleben wollen - worauf Bachmann offenbar kaum reagiert. Fast so, als habe sie schon damals gewusst, dass sie niemals eine alte Frau werden würde. Man kann nur mutmaßen, aber es wirkt, als hätten die Abwesenheit der Freundin und die Tragik ihres Todes sie für die Schriftstellerin nur noch präsenter gemacht.
Überhaupt erscheinen jene, die tot, also verschwunden sind, bei Fleur Jaeggy oft lebendiger als jene, die noch da sind. Während die Menschen in ihren Geschichten vor sich hin vegetieren, ohne Puls, ohne Feuer, passiv und erschlagen von einer unsichtbaren Gewalt, sind die Toten zumindest unterschwellig aktiv. Sie stehen mit in diesen muffigen Räumen, in denen es an Luft mangelt, werden verkörpert durch Objekte, Puppen, Skulpturen, Kleidung und drängen den Lebenden ihren oft makabren Willen auf. In einer der beunruhigendsten, aber auch besten Kurzgeschichten aus "Ich bin der Bruder von XX", betitelt "Der Vogelkäfig", zwingt ein Mann seine Ehefrau, sich vor dem Rock und der Bluse seiner eben verstorbenen Mutter, ihrer verhassten Schwiegermutter, zu erniedrigen: "Stefan drapiert ein Kostüm seiner Mutter, das er aus einer Plastiktüte genommen hat, auf dem Sofa. Auf dem Boden die Schuhe und die Handtasche. (...) 'Küss der Mama die Füße.' Sie beugt sich vor und drückt die Lippen auf die Schuhe." Sie protestiert nicht, ihre Stimme, so heißt es am Ende, wird immer schwächer, immer matter.
Einer der großen Vorzüge von Ingeborg Bachmann sei gewesen, dass sie nicht nur wahnsinnig unterhaltsam war, sie habe auch gut schweigen können, das sagte Fleur Jaeggy irgendwo einmal. Schweigen und Zurückhaltung sind Qualitäten, die sie schätzt. Nicht nur in ihren Texten, sondern eindeutig auch im Leben. Wer sich auf die Suche nach Interviews mit ihr macht, wird nur schwer fündig, eines der wenigen aus dem "New Yorker" ist so kryptisch und Jaeggy so kurz angebunden, so fern von allem, was als Kommunikation durchgehen kann, dass es ungewollt komisch wirkt. Jaeggy spricht darin von ihrer Liebe zu Schwänen, besonders zu einem in einem Berliner Park. Von ihrer Schreibmaschine, die in Wahrheit die Autorin der Texte zu sein scheint, von ihrem Bedürfnis nach Stille und von mittelalterlichen Mystikerinnen. Diese Frauen hätten vieles besser verstanden als wir, sagt Jaeggy, vor allem die Seele - das Einzige, was sie wirklich interessiert (im Gegensatz zum Körper, der für sie eindeutig ein Nicht-Thema ist).
Und der Seele nähere man sich am besten durch Askese und Disziplin. Also das, was Jaeggys Geschichten und Romane bis zur Perfektion vormachen, insbesondere einer, ihr berühmtester: "Die seligen Jahre der Züchtigung". In diesem "semi-autobiografischen" Buch erzählt Fleur Jaeggy vom bedrückenden und von unterschwelliger Gewalt geprägten Leben in einem Mädcheninternat in den Schweizer Bergen der Fünfzigerjahre. Sie stellt dort - verkörpert von zwei Mädchen, mit denen die namenlose Erzählerin verkehrt - zwei grundverschiedene Lebensweisen gegenüber. Da ist Micheline, die Lebensbejahende, die sich amüsieren und ihre Jugend auskosten will und das Internat und seine friedhofsähnliche Stimmung als Übergang vor dem "echten" Leben sieht. Und da ist Frédérique, die ihre stille Erfüllung in Selbstdisziplin und Selbstkasteiung zu finden scheint. Frédérique ist in den Augen der Erzählerin perfekt, weil sie nichts will, nichts braucht. Sie schaut abfällig auf jene, die "noch" an das Leben und seine möglichen Freuden glauben, ist über die vulgären Bedürfnisse eines jungen Mädchens erhaben und somit für alle Normalsterblichen unerreichbar.
Wie zerrissen die Erzählerin zwischen den beiden Mädchen ist, zwischen der eindeutig stärkeren Neigung zu Frédérique, aber der großen Angst, aus der Normalität, die Micheline sich wünscht, auszusteigen, das zeigt Fleur Jaeggy auf unglaublich eindringliche Weise. Es lauert eine Wildheit in diesem Text, die nie ausbricht, dadurch aber nur noch wilder und stärker wirkt. Ob das nun "mit Charme geschrieben" ist, wie Marcel Reich-Ranicki es in den Neunzigerjahren einmal sagte, ist fraglich. Mehr als Charme findet man bei Fleur Jaeggy in fast all ihren Texten eine Kraft, die stets unterdrückt bleibt, ein Feuer, das unter der Eisdecke brennt, aber auch eine Distanz, die verhindert, dass das Eis jemals schmilzt.
Das gesammelte Werk von Fleur Jaeggy legt der Suhrkamp-Verlag neu auf. Schon erschienen sind in der Übersetzung von Barbara Schaden die Erzählungsbände "Ich bin der Bruder von XX" (114 Seiten, 22 Euro) und "Die Angst vor dem Himmel" (100 Seiten, 12 Euro) und der Roman "Die seligen Jahre der Züchtigung" (110 Seiten, 12 Euro). Im September folgt der Roman "Proleterka" (112 Seiten, 13 Euro).
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Von Annabelle Hirsch
Eine der treffendsten Beschreibungen für den Effekt, den Fleur Jaeggys Texte auf die Person haben, die sie liest, findet sich in diesen Texten selbst. In einer der Kurzgeschichten. "Eine Begegnung in der Bronx" erzählt von einem Besuch beim berühmten Psychoanalytiker Oliver Sacks. Oder besser gesagt von einem Restaurantbesuch mit ihm und dessen Verleger, der zugleich Jaeggys Ehemann war, der 2021 verstorbene Roberto Calasso, Chef von Adelphi. Die Herren unterhalten sich angeregt, Jaeggy sitzt, wie so oft, schweigend daneben. Statt mit den Menschen kommuniziert sie lieber mit einem Tier. Einem Fisch, der im Restaurantaquarium auf seinen baldigen Tod durch Verspeisen wartet.
Er kreist, sie guckt, ihre Augen treffen sich, sie scheinen sich zu verstehen. Im Grunde würden sich ihre Schicksale kaum voneinander unterscheiden, schreibt Jaeggy. Zwar bleibe ihr wahrscheinlich ein bisschen mehr Zeit, ein bisschen mehr Zukunft - doch was ändert das schon? Leben und Tod sind in der Welt der Schweizer Autorin gleichermaßen vom Stillstand geprägt. Wenn überhaupt ist die Differenz eine graduelle, wobei der eine Zustand, der Tod, bei ihr fast wünschenswerter als der andere erscheint. Einfach weil er, im Gegensatz zum Leben, dem entspricht, was er verspricht: dem Nichts, der Leere.
Aber dieser Jaeggy-Effekt (anders kann man es nicht nennen, es ist ein Effekt) zeigt sich nicht direkt hier. Nicht beim Fisch, nicht bei der alles durchtränkenden Todesmelancholie, die Jaeggys kurzen Geschichten oft einen Touch von Schauerroman und 19. Jahrhundert verleiht. Er zeigt sich in einer Bemerkung, die sie am Anfang über sich selbst macht: Ihrem Freund Oliver Sacks sei immer warm, behauptet Fleur Jaeggy, ihr selbst hingegen sei stets kalt: "Ich leide unter einer Kälte, die ich eine innere nennen würde." Und was die Temperatur ihrer Gefühle angeht: "Meine können recht kühl sein. Obwohl ich mich glühend nach Wärme sehne." Wer sich in ihre ebenso anziehenden wie irritierenden Geschichten stürzt, ihre Romane und Erzählungen, die der Suhrkamp-Verlag nun nach und nach neu herausgibt, empfindet es ganz ähnlich: Je mehr man liest, desto mehr friert man. Desto mehr fröstelt man innerlich.
Man sehnt sich nach Wärme, kann sich der Kühle, die Fleur Jaeggy in einer so unkühlen Sprache wie dem Italienischen zu produzieren vermag, so ganz aber auch nicht entziehen. Man will gehen und bleiben, sich herauswinden und weiter reinkriechen, zurück in die Sonne und in ihrem Schatten bleiben, weil ihre Welt faszinierend ist. So schön wie eine Eisskulptur. So glatt und perfekt, wie Dinge und Menschen nur sein können, wenn sie das Leben vollkommen ausgesperrt und im Kern erstickt haben.
Und im Grunde tut Fleur Jaeggy genau das. Ihre Texte wirken, als hätte sie ganz bewusst jede Atmung aus ihren Zeilen herausgepresst und jegliche emotionale Regung, jedes noch so kleine Zucken des Herzens zerschlagen. Man müsse nach jeder Geschichte von Jaeggy erst einmal ein bisschen trauern, so hat ein amerikanischer Podcaster mal über ihren berühmtesten Roman gesagt, "Die seligen Jahre der Züchtigung", für den sie 1990 den Premio Bagutta gewann. Das mag dramatisch klingen, ganz falsch ist es aber nicht. Nur dass man bei Jaeggy nicht, wie üblich, das Ende des Lebens betrauert, sondern die wahre, die eigentliche Tragödie: das Leben, das nie wirklich gelebt wurde.
Die Figuren, denen wir bei ihr begegnen, bewegen sich kaum, zumindest nicht innerlich, sie kommen nicht voran, scheinen wenig bis gar nichts zu fühlen und wollen es eindeutig auch nicht anders. Sie begegnen dem Dasein mit Scheu oder Abneigung. Die Nymphen des Archäologischen Museums in Neapel zum Beispiel, die sich in "Die Besucherin" kurz einmal aus ihrem Bild herauswagen, um in das Leben zu treten, wünschen sich schon nach kürzester Zeit an ihren regungslos sicheren Platz auf der Leinwand zurück. Die Kinder, die durch viele ihrer Geschichten geistern (meist als Geschwisterpaare, von denen eins lebt und eines tot ist), sehnen sich teilweise schon von Beginn an dorthin zurück, wo sie hergekommen sind, in den großen Sumpf des Nichtseins, der Nichtexistenz. Oder, wie es in der ersten Geschichte der erwähnten Sammlung, dem titelgebenden "Ich bin der Bruder von XX", heißt: "Einmal, als ich acht war, fragte mich meine Großmutter: Was hast du denn vor, wenn du groß bist? Und ich antwortete: Sterben will ich. Wenn ich groß bin, will ich sterben. Ich will bald sterben."
Fleur Jaeggy selbst ist 84 Jahre alt. Sie wurde 1940 in die obere Mittelschicht von Zürich geboren, hat ihre Kindheit in diversen Internaten und ihr Erwachsenenleben erst in Rom, dann in Mailand verbracht. Sie war Model und gelegentliche Liedtexterin für den italienischen Sänger Franco Battiato, bevor sie zu schreiben begann. Der Legende nach war es ihre Freundin Ingeborg Bachmann, die sie einst dazu animierte, zum Stift zu greifen. Bachmann erscheint in ihren Texten immer wieder, wie ein Geist, meist ein guter. Mal direkt, namentlich, mal durch ein Zitat, wie in der Erzählung "Wasserstatuen", in denen sie eine Zeile aus "Malina" paraphrasiert. In "Das aseptische Zimmer" erscheint Bachmann dann als eine Frau, die ihr tragisches Ende, ihren frühen Tod durch Verbrennen und Entzug, womöglich vorausahnte.
In diesem zweiseitigen, mysteriösen Text aus dem Erzählungsband "Ich bin der Bruder von XX" fragt Jaeggy ihre Freundin eines Tages, Jahre vor deren Unfalltod, ob sie nicht gemeinsam alt werden und als alte Frauen zusammenleben wollen - worauf Bachmann offenbar kaum reagiert. Fast so, als habe sie schon damals gewusst, dass sie niemals eine alte Frau werden würde. Man kann nur mutmaßen, aber es wirkt, als hätten die Abwesenheit der Freundin und die Tragik ihres Todes sie für die Schriftstellerin nur noch präsenter gemacht.
Überhaupt erscheinen jene, die tot, also verschwunden sind, bei Fleur Jaeggy oft lebendiger als jene, die noch da sind. Während die Menschen in ihren Geschichten vor sich hin vegetieren, ohne Puls, ohne Feuer, passiv und erschlagen von einer unsichtbaren Gewalt, sind die Toten zumindest unterschwellig aktiv. Sie stehen mit in diesen muffigen Räumen, in denen es an Luft mangelt, werden verkörpert durch Objekte, Puppen, Skulpturen, Kleidung und drängen den Lebenden ihren oft makabren Willen auf. In einer der beunruhigendsten, aber auch besten Kurzgeschichten aus "Ich bin der Bruder von XX", betitelt "Der Vogelkäfig", zwingt ein Mann seine Ehefrau, sich vor dem Rock und der Bluse seiner eben verstorbenen Mutter, ihrer verhassten Schwiegermutter, zu erniedrigen: "Stefan drapiert ein Kostüm seiner Mutter, das er aus einer Plastiktüte genommen hat, auf dem Sofa. Auf dem Boden die Schuhe und die Handtasche. (...) 'Küss der Mama die Füße.' Sie beugt sich vor und drückt die Lippen auf die Schuhe." Sie protestiert nicht, ihre Stimme, so heißt es am Ende, wird immer schwächer, immer matter.
Einer der großen Vorzüge von Ingeborg Bachmann sei gewesen, dass sie nicht nur wahnsinnig unterhaltsam war, sie habe auch gut schweigen können, das sagte Fleur Jaeggy irgendwo einmal. Schweigen und Zurückhaltung sind Qualitäten, die sie schätzt. Nicht nur in ihren Texten, sondern eindeutig auch im Leben. Wer sich auf die Suche nach Interviews mit ihr macht, wird nur schwer fündig, eines der wenigen aus dem "New Yorker" ist so kryptisch und Jaeggy so kurz angebunden, so fern von allem, was als Kommunikation durchgehen kann, dass es ungewollt komisch wirkt. Jaeggy spricht darin von ihrer Liebe zu Schwänen, besonders zu einem in einem Berliner Park. Von ihrer Schreibmaschine, die in Wahrheit die Autorin der Texte zu sein scheint, von ihrem Bedürfnis nach Stille und von mittelalterlichen Mystikerinnen. Diese Frauen hätten vieles besser verstanden als wir, sagt Jaeggy, vor allem die Seele - das Einzige, was sie wirklich interessiert (im Gegensatz zum Körper, der für sie eindeutig ein Nicht-Thema ist).
Und der Seele nähere man sich am besten durch Askese und Disziplin. Also das, was Jaeggys Geschichten und Romane bis zur Perfektion vormachen, insbesondere einer, ihr berühmtester: "Die seligen Jahre der Züchtigung". In diesem "semi-autobiografischen" Buch erzählt Fleur Jaeggy vom bedrückenden und von unterschwelliger Gewalt geprägten Leben in einem Mädcheninternat in den Schweizer Bergen der Fünfzigerjahre. Sie stellt dort - verkörpert von zwei Mädchen, mit denen die namenlose Erzählerin verkehrt - zwei grundverschiedene Lebensweisen gegenüber. Da ist Micheline, die Lebensbejahende, die sich amüsieren und ihre Jugend auskosten will und das Internat und seine friedhofsähnliche Stimmung als Übergang vor dem "echten" Leben sieht. Und da ist Frédérique, die ihre stille Erfüllung in Selbstdisziplin und Selbstkasteiung zu finden scheint. Frédérique ist in den Augen der Erzählerin perfekt, weil sie nichts will, nichts braucht. Sie schaut abfällig auf jene, die "noch" an das Leben und seine möglichen Freuden glauben, ist über die vulgären Bedürfnisse eines jungen Mädchens erhaben und somit für alle Normalsterblichen unerreichbar.
Wie zerrissen die Erzählerin zwischen den beiden Mädchen ist, zwischen der eindeutig stärkeren Neigung zu Frédérique, aber der großen Angst, aus der Normalität, die Micheline sich wünscht, auszusteigen, das zeigt Fleur Jaeggy auf unglaublich eindringliche Weise. Es lauert eine Wildheit in diesem Text, die nie ausbricht, dadurch aber nur noch wilder und stärker wirkt. Ob das nun "mit Charme geschrieben" ist, wie Marcel Reich-Ranicki es in den Neunzigerjahren einmal sagte, ist fraglich. Mehr als Charme findet man bei Fleur Jaeggy in fast all ihren Texten eine Kraft, die stets unterdrückt bleibt, ein Feuer, das unter der Eisdecke brennt, aber auch eine Distanz, die verhindert, dass das Eis jemals schmilzt.
Das gesammelte Werk von Fleur Jaeggy legt der Suhrkamp-Verlag neu auf. Schon erschienen sind in der Übersetzung von Barbara Schaden die Erzählungsbände "Ich bin der Bruder von XX" (114 Seiten, 22 Euro) und "Die Angst vor dem Himmel" (100 Seiten, 12 Euro) und der Roman "Die seligen Jahre der Züchtigung" (110 Seiten, 12 Euro). Im September folgt der Roman "Proleterka" (112 Seiten, 13 Euro).
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
»Die berüchtigte Eiseskälte, der unbestechliche Blick fürs Böse, die schonungslose Diagnose zwischenmenschlicher Desaster sind charakteristisch für [Jaeggys] Stil.« Barbara Villiger Heilig DIE ZEIT 20241130