Sie denken, Sie kennen Mark Twain? Weit gefehlt!Twain in Höchstform: Amerikas größter Humorist offenbart uns ungekannte Geheimnisse und Abenteuer seiner Autobiographie - noch vertraulicher und persönlicher. Die deutsche Erstübersetzung mit einer Fülle nie publizierter Texte."Die Nachricht von meinem Tod ist stark übertrieben." Mark TwainNach dem furiosen Auftakt geht es endlich weiter - humorvoll, verspielt und bissig, wie wir Twain lieben, zugleich aber unverstellt, emp ndsam und privat wie selten zuvor. Als wütender Zeitkritiker und melancholischer Einsiedler, liebender Familienmensch und bedingungsloser Tierfreund, geselliger Entertainer und sportliche Niete spricht er über alles, was ihn und uns bewegt: skrupellose Steuerhinterzieher, geschätzte Schriftstellerkollegen und Champagnertränen lachende Politiker, die Wesensart von Gott und sein Faible für College-Mädchen. Über Einsamkeit und die ganz große Liebe, seine drei Babykatzen und deren Ähnlichkeiten mit den Menschen. Laute Lacher und tiefgründige Gedankengänge sind garantiert.Mark Twain in Höchstform - empfindsam, mitteilsam und persönlich wie nie zuvor."Endlich gibt es mehr von Twains weitreichenden, klugen und stets freimütigen Bekenntnissen. Sie erst lassen uns diesem größten Humoristen Amerikas richtig verstehen." The New YorkerMit umfangreichem Zusatzmaterial.Die deutsche Erstausgabe der Jahrhundertedition erscheint in bibliophiler Ausstattung: 2 Bände im Schmuckschuber Band 1: Ich bin der eselhafteste Mensch, den ich je gekannt habe. Neue Geheimnisse meiner Autobiographie, aus dem amerikanischen Englisch von Hans-Christian Oeser760 Seiten, 46 Abbildungen, Leinen, 2 LesebändchenBand 2: Hintergründe und Zusätze, aus dem amerikanischen Englisch übersetzt und betreut an den Universitäten LMU München und FU Berlin397 Seiten, Broschur, 2 Lesebändchen EINFÜHRUNGSPREIS 49,90 EUR_ (_Preis ab 1.1.2015: 59,90 EUR)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2014Er schuf sich sein Theater selbst
Wir zerplatzen mit einem leisen Blubb und hinterlassen nichts als eine Erinnerung: Der zweite Band von Mark Twains unzensierter Autobiographie ist jedoch ein Fest der Bosheiten, Abschweifungen und Reminiszenzen an die eigene Karriere. Und fast alles wurde morgens öffentlich diktiert.
Von Paul Ingendaay
Mitten in seinen autobiographischen Altersdiktaten erzählt Mark Twain von einer gewissen Olive Hogan, deren Ruhm allein darauf beruht, dass man in Illustrierten von ihr liest. Und da wissen wir Leser: Er war unser Zeitgenosse. Er hat schon das leere Promi-Wesen durchschaut, jene Frauen, "die das Podium eroberten, um ihre Kleider vorzuführen. Sie waren lebende Werbetafeln." Heute würden wir nicht Podium sagen, sondern Talkshow oder Facebook-Seite. Aber klar ist, dass dieser Schriftsteller einen wachen Sinn für das Showgewerbe und die Zerstreuungssucht des Publikums hatte.
Das lag auch daran, dass Mark Twain (1835 bis 1910) selbst der begabteste Showman der amerikanischen Kultur war. Hätte er kein einziges Buch geschrieben, wäre uns sein Name dennoch überliefert worden, nämlich als legendär komischer Vortragskünstler, der vollgepackte Säle in seinen Bann schlug und - nachdem er mit unklugen Investitionen viele hunderttausend Dollar verzockt und seine Familie in den Ruin gestürzt hatte - mit den Einnahmen aus einer einjährigen Welttournee alle Schulden abzahlte. Da war er schon jenseits der sechzig, und für manche wäre die Aufregung zu viel gewesen. Nicht für ihn. Er war gestürzt und wieder aufgestanden. Er hatte seinen guten Namen wiederhergestellt, weil er die Spielregeln der materialistischsten aller Gesellschaften akzeptierte.
Auch deshalb liebte ihn das Volk. Er war einer von ihnen, man las es schon seiner volkstümlichen Sprache an. Mark Twain - mit bürgerlichem Namen Samuel Langhorne Clemens - hat bis zum Ende seines Lebens nicht den Instinkt für wirksame öffentliche Gesten verloren. Deshalb ist sein Ruhm, weit jenseits von "Tom Sawyer" und "Huckleberry Finn", stetig gewachsen und wächst bis heute.
Man sollte das im Auge behalten, wenn man den zweiten Band seiner unzensierten Autobiographie mit dem spaßigen deutschen Titel "Ich bin der eselhafteste Mensch, den ich je gekannt habe" liest: Hier spricht Amerikas Nationaldichter, vermutlich der meistfotografierte, ganz sicher der meistinterviewte Schriftsteller seiner Zeit und, mit der glücklichen Formulierung seines amerikanischen Biographen Ron Powers, "der erste Rockstar der Nation".
Was seine Plaudereien betrifft, so haben sie einen besonderen Charakter. Twain spricht, so sagt er immer wieder, "vom Grab aus", denn er hat verfügt, dass seine vollständigen Aufzeichnungen erst hundert Jahre nach seinem Tod erscheinen dürfen. Welchen Grund sollte er also haben zu lügen, zu schmeicheln oder zu beschönigen? Und warum, könnte man hinzufügen, sollte er an so etwas Profanes wie einen Lektor, warum sollte er an seine Leser denken? Also schweift er aus und schweift er ab, öffnet die Morgenpost, während wir lauschen, und unterbricht seine Geschichten immer dann, wenn ihm ein anderes Thema verlockender erscheint. Ein roman fleuve der Memoirenliteratur von Mississippi-Format.
Er fängt an mit seinem Bruder Orion und den wilden Tagen in Nevada. Dann geht er über zu einem seiner Briefe, der für 43 Dollar versteigert worden sei - die Autographen Lincolns bringen weniger ein! Sodann kommt er auf einen Vortrag zu sprechen, den er vor Schulmädchen gehalten habe, anschließend auf Proteste gegen "Huckleberry Finn" in einer öffentlichen Bibliothek und eine interessante Geschichte, von der er gerade in der Zeitung gelesen hat. Ist seine Erinnerung unscharf, belässt er es bei der Unschärfe: Er sei jetzt zu faul nachzuschauen, und es komme auch nicht darauf an. Da sitzt ein quirliger, kauziger und wahrlich nicht uneitler Mann am Ende seines Lebens, der schon viele Anekdoten erzählt hat und niemandem mehr etwas beweisen muss: "Ich glaube, unser vollständiges, ehrliches Ich zeigen wir so richtig erst, wenn wir tot sind - und auch dann erst, wenn wir schon lange Jahre tot gewesen sind. Die Menschen sollten als Tote anfangen, dann wären sie viel früher ehrlich."
"Geheim" ist an dieser Autobiographie allerdings wenig. Zwar wollte Twain ungeschminkt über Menschen und Umstände vom Leder ziehen, doch schon zu Lebzeiten des Autors druckte die "North American Review" zahlreiche Kapitel, und im zwanzigsten Jahrhundert gab es diverse (philologisch fragwürdige) Auswahlausgaben, so dass sich die Sache mit den "Neuen Geheimnissen aus meiner Autobiographie", wie der Aufbau Verlag den zweiten Band seiner Twain-Edition im Untertitel nennt, eher als Werbetrick entpuppt.
Ein Geschenk ist das Buch dennoch. "Ich bin der eselhafteste Mensch, den ich je gekannt habe" versammelt sämtliche Diktate in chronologischer Folge, pfeift also auf die Chronologie eines Lebens, und bietet all das in der schön übersetzten, mustergültig kommentierten zweibändigen Ausgabe des "Mark Twain Project" an, die es jedem Leser selbst überlässt, wie tief er die Hintergründe von Twains Leben ausleuchten will: ein Muster an editorischem Service.
Als 2012 der erste Band der Autobiographie auf Deutsch erschien, wurde hier und da angemerkt, das Werk sei ein aufgeblähtes Sammelsurium verschiedenster Textsorten (was kaum zu leugnen ist) und biete den Twain-Fans kein ganz ungetrübtes Lesevergnügen (was ebenfalls stimmt). Aber das liegt an der Natur des Werkes selbst. Dies ist ein weitläufiges, teils rührendes, teils hochkomisches, gelegentlich ermüdendes Buch, eine kühne Collage und ein modernistisches Textgebirge, das auch in fernerer Erinnerung nicht klein wird; sein besonderer Charakter liegt gerade in der Zerklüftung. Um es kennenzulernen, muss man ein bisschen blättern und Neues erfahren wollen - nicht nur über einen durchaus zerrissenen Autor, sondern auch über seine Gesellschaft, die er ausdrückte wie kein Zweiter.
Dann aber gehen einem die Augen über, erst recht, wenn man sich in den fabelhaften Anmerkungsband versenkt. Da ist von Präsidenten, Freunden, Bürgerkriegshelden und Schriftstellerkollegen die Rede, von der Einführung des Telefons, dem Erdbeben von San Francisco, von einem Essen bei Kaiser Wilhelm II., von Twains Kampf um das Copyright, für den allein er schon ein Denkmal verdient hätte, und vielem mehr, was einem weitgereisten, jeder Langeweile abgeneigten Mann so durch den Kopf geht.
Wer die jetzt vorliegende Ausgabe als Steckenpferd für Philologen bezeichnet, weil das meiste doch schon "bekannt" sei, geht an der literarisch-kulturgeschichtlichen Bedeutung - alle drei Bände zusammen werden es auf zweitausend Seiten bringen - mit staunenswerter Ahnungslosigkeit vorbei. Gewissenhafte Forschung und unanfechtbare Editionen sollten uns immer noch etwas wert sein, besonders, wenn sie so gewaltige Wissensgebiete erschließen und den Vorzug der Unterhaltsamkeit haben.
Der Auslöser der Autobiographie war der Umstand, dass Mark Twain 1906 den jungen Schriftsteller Albert Bigelow Paine zu seinem offiziellen Biographen berufen und ihm Zugang zu all seinen Papieren verschafft hatte: Weil Twain seinem Biographen Material verschaffen wollte, entdeckte er das morgendliche Diktat vor Publikum und mit reichlich Zigarrenqualm als angenehmste Form literarischer Produktion. "Ich hasse den Stift" steht bei ihm öfter zu lesen; er fand, er habe im Leben genug geschrieben und dürfe es jenseits der siebzig etwas gemütlicher angehen lassen. Eine Stenographin saß dabei, oft auch die später in Ungnade gefallene Sekretärin Isabel Lyons. Der jetzt vorliegende zweite Band enthält die Diktate zwischen dem 2. April 1906 und dem 28. Februar 1907.
Ironischerweise kehrte Mark Twain damit wieder zum mündlichen Vortrag zurück, dem er als Erwerbsquelle längst adieu gesagt hatte. All die Spuren des Arrangements, die Beiseite-Formulierungen und Ausbrüche von Misanthropie, Albernheit oder Gereiztheit sind darin wiederhergestellt, und sie sind zahlreich. Der ehemalige Stand-up-Comedian baute sich am Ende eine private Bühne, auf der er allein das Programm bestimmte und nicht auf den Beifall des Publikums warten musste. Ihm war ja seit langem bewusst, dass kein Roman mehr in ihm steckte; seine bittersten zeitkritischen Essays, darunter die Attacke gegen König Leopold II. von Belgien ("der Schlächter") und dessen brutale Ausbeutung Kongos, wurden von Magazinen abgelehnt. Zwar erlahmte im Lauf der Monate seine autobiographische Energie, weil er feststellen musste, dass keine Abschweifung weit genug wäre, um die Komplexität seiner Gedankenverbindungen zu erfassen; aber der Torso ist beeindruckend genug.
Vermutlich, um sich das Herz zu wärmen, fügte Twain in die Autobiographie auch Passagen aus dem Büchlein seiner dreizehnjährigen Tochter Susy über ihren Papa ein, darunter eine hinreißende Beschreibung vom Seifenblasenmachen - und dann hängt er seinerseits die Sätze an: "So ist das menschliche Leben. Wir werden in die Welt gepustet, eine kleine Weile schweben wir vergnügt in der Sommerluft, führen selbstgefällig unsere anmutige Gestalt und unsere zart schillernden Farben vor; dann zerplatzen wir mit einem leisen Blubb und hinterlassen nichts als eine Erinnerung - manchmal nicht einmal die."
Die kleine Seifenblase, das ist Susy selbst, die mit vierundzwanzig Jahren an Hirnhautentzündung stirbt, als ihr Vater sich auf Vortragstournee um die Welt befindet. "Eine Wolke liegt nun dauerhaft über allem", schrieb Twain seinerzeit ins Notizbuch, und auch jetzt entfährt ihm ein Seufzen. Zwei der vier Frauen, die seine engste Familie gebildet hatten, starben vor ihm. Als am Heiligabend 1909 seine Tochter Jean tot in der Badewanne gefunden wurde, bedeutete das den letzten Schicksalsschlag. Vier Monate später starb auch er und ging ins Grab, das er sich so oft vorgestellt hatte: als Ort, von dem aus hundert Jahre später seine Sätze in die Welt hinauswehen würden.
Mark Twain: "Ich bin der eselhafteste Mensch, den ich je gekannt habe". Neue Geheimnisse meiner Autobiographie.
Aus dem Amerikanischen von Hans-Christian Oeser. Aufbau Verlag, Berlin 2014. 2 Bände im Schuber, zus. 1034 S., Abb., geb. und br., 49,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wir zerplatzen mit einem leisen Blubb und hinterlassen nichts als eine Erinnerung: Der zweite Band von Mark Twains unzensierter Autobiographie ist jedoch ein Fest der Bosheiten, Abschweifungen und Reminiszenzen an die eigene Karriere. Und fast alles wurde morgens öffentlich diktiert.
Von Paul Ingendaay
Mitten in seinen autobiographischen Altersdiktaten erzählt Mark Twain von einer gewissen Olive Hogan, deren Ruhm allein darauf beruht, dass man in Illustrierten von ihr liest. Und da wissen wir Leser: Er war unser Zeitgenosse. Er hat schon das leere Promi-Wesen durchschaut, jene Frauen, "die das Podium eroberten, um ihre Kleider vorzuführen. Sie waren lebende Werbetafeln." Heute würden wir nicht Podium sagen, sondern Talkshow oder Facebook-Seite. Aber klar ist, dass dieser Schriftsteller einen wachen Sinn für das Showgewerbe und die Zerstreuungssucht des Publikums hatte.
Das lag auch daran, dass Mark Twain (1835 bis 1910) selbst der begabteste Showman der amerikanischen Kultur war. Hätte er kein einziges Buch geschrieben, wäre uns sein Name dennoch überliefert worden, nämlich als legendär komischer Vortragskünstler, der vollgepackte Säle in seinen Bann schlug und - nachdem er mit unklugen Investitionen viele hunderttausend Dollar verzockt und seine Familie in den Ruin gestürzt hatte - mit den Einnahmen aus einer einjährigen Welttournee alle Schulden abzahlte. Da war er schon jenseits der sechzig, und für manche wäre die Aufregung zu viel gewesen. Nicht für ihn. Er war gestürzt und wieder aufgestanden. Er hatte seinen guten Namen wiederhergestellt, weil er die Spielregeln der materialistischsten aller Gesellschaften akzeptierte.
Auch deshalb liebte ihn das Volk. Er war einer von ihnen, man las es schon seiner volkstümlichen Sprache an. Mark Twain - mit bürgerlichem Namen Samuel Langhorne Clemens - hat bis zum Ende seines Lebens nicht den Instinkt für wirksame öffentliche Gesten verloren. Deshalb ist sein Ruhm, weit jenseits von "Tom Sawyer" und "Huckleberry Finn", stetig gewachsen und wächst bis heute.
Man sollte das im Auge behalten, wenn man den zweiten Band seiner unzensierten Autobiographie mit dem spaßigen deutschen Titel "Ich bin der eselhafteste Mensch, den ich je gekannt habe" liest: Hier spricht Amerikas Nationaldichter, vermutlich der meistfotografierte, ganz sicher der meistinterviewte Schriftsteller seiner Zeit und, mit der glücklichen Formulierung seines amerikanischen Biographen Ron Powers, "der erste Rockstar der Nation".
Was seine Plaudereien betrifft, so haben sie einen besonderen Charakter. Twain spricht, so sagt er immer wieder, "vom Grab aus", denn er hat verfügt, dass seine vollständigen Aufzeichnungen erst hundert Jahre nach seinem Tod erscheinen dürfen. Welchen Grund sollte er also haben zu lügen, zu schmeicheln oder zu beschönigen? Und warum, könnte man hinzufügen, sollte er an so etwas Profanes wie einen Lektor, warum sollte er an seine Leser denken? Also schweift er aus und schweift er ab, öffnet die Morgenpost, während wir lauschen, und unterbricht seine Geschichten immer dann, wenn ihm ein anderes Thema verlockender erscheint. Ein roman fleuve der Memoirenliteratur von Mississippi-Format.
Er fängt an mit seinem Bruder Orion und den wilden Tagen in Nevada. Dann geht er über zu einem seiner Briefe, der für 43 Dollar versteigert worden sei - die Autographen Lincolns bringen weniger ein! Sodann kommt er auf einen Vortrag zu sprechen, den er vor Schulmädchen gehalten habe, anschließend auf Proteste gegen "Huckleberry Finn" in einer öffentlichen Bibliothek und eine interessante Geschichte, von der er gerade in der Zeitung gelesen hat. Ist seine Erinnerung unscharf, belässt er es bei der Unschärfe: Er sei jetzt zu faul nachzuschauen, und es komme auch nicht darauf an. Da sitzt ein quirliger, kauziger und wahrlich nicht uneitler Mann am Ende seines Lebens, der schon viele Anekdoten erzählt hat und niemandem mehr etwas beweisen muss: "Ich glaube, unser vollständiges, ehrliches Ich zeigen wir so richtig erst, wenn wir tot sind - und auch dann erst, wenn wir schon lange Jahre tot gewesen sind. Die Menschen sollten als Tote anfangen, dann wären sie viel früher ehrlich."
"Geheim" ist an dieser Autobiographie allerdings wenig. Zwar wollte Twain ungeschminkt über Menschen und Umstände vom Leder ziehen, doch schon zu Lebzeiten des Autors druckte die "North American Review" zahlreiche Kapitel, und im zwanzigsten Jahrhundert gab es diverse (philologisch fragwürdige) Auswahlausgaben, so dass sich die Sache mit den "Neuen Geheimnissen aus meiner Autobiographie", wie der Aufbau Verlag den zweiten Band seiner Twain-Edition im Untertitel nennt, eher als Werbetrick entpuppt.
Ein Geschenk ist das Buch dennoch. "Ich bin der eselhafteste Mensch, den ich je gekannt habe" versammelt sämtliche Diktate in chronologischer Folge, pfeift also auf die Chronologie eines Lebens, und bietet all das in der schön übersetzten, mustergültig kommentierten zweibändigen Ausgabe des "Mark Twain Project" an, die es jedem Leser selbst überlässt, wie tief er die Hintergründe von Twains Leben ausleuchten will: ein Muster an editorischem Service.
Als 2012 der erste Band der Autobiographie auf Deutsch erschien, wurde hier und da angemerkt, das Werk sei ein aufgeblähtes Sammelsurium verschiedenster Textsorten (was kaum zu leugnen ist) und biete den Twain-Fans kein ganz ungetrübtes Lesevergnügen (was ebenfalls stimmt). Aber das liegt an der Natur des Werkes selbst. Dies ist ein weitläufiges, teils rührendes, teils hochkomisches, gelegentlich ermüdendes Buch, eine kühne Collage und ein modernistisches Textgebirge, das auch in fernerer Erinnerung nicht klein wird; sein besonderer Charakter liegt gerade in der Zerklüftung. Um es kennenzulernen, muss man ein bisschen blättern und Neues erfahren wollen - nicht nur über einen durchaus zerrissenen Autor, sondern auch über seine Gesellschaft, die er ausdrückte wie kein Zweiter.
Dann aber gehen einem die Augen über, erst recht, wenn man sich in den fabelhaften Anmerkungsband versenkt. Da ist von Präsidenten, Freunden, Bürgerkriegshelden und Schriftstellerkollegen die Rede, von der Einführung des Telefons, dem Erdbeben von San Francisco, von einem Essen bei Kaiser Wilhelm II., von Twains Kampf um das Copyright, für den allein er schon ein Denkmal verdient hätte, und vielem mehr, was einem weitgereisten, jeder Langeweile abgeneigten Mann so durch den Kopf geht.
Wer die jetzt vorliegende Ausgabe als Steckenpferd für Philologen bezeichnet, weil das meiste doch schon "bekannt" sei, geht an der literarisch-kulturgeschichtlichen Bedeutung - alle drei Bände zusammen werden es auf zweitausend Seiten bringen - mit staunenswerter Ahnungslosigkeit vorbei. Gewissenhafte Forschung und unanfechtbare Editionen sollten uns immer noch etwas wert sein, besonders, wenn sie so gewaltige Wissensgebiete erschließen und den Vorzug der Unterhaltsamkeit haben.
Der Auslöser der Autobiographie war der Umstand, dass Mark Twain 1906 den jungen Schriftsteller Albert Bigelow Paine zu seinem offiziellen Biographen berufen und ihm Zugang zu all seinen Papieren verschafft hatte: Weil Twain seinem Biographen Material verschaffen wollte, entdeckte er das morgendliche Diktat vor Publikum und mit reichlich Zigarrenqualm als angenehmste Form literarischer Produktion. "Ich hasse den Stift" steht bei ihm öfter zu lesen; er fand, er habe im Leben genug geschrieben und dürfe es jenseits der siebzig etwas gemütlicher angehen lassen. Eine Stenographin saß dabei, oft auch die später in Ungnade gefallene Sekretärin Isabel Lyons. Der jetzt vorliegende zweite Band enthält die Diktate zwischen dem 2. April 1906 und dem 28. Februar 1907.
Ironischerweise kehrte Mark Twain damit wieder zum mündlichen Vortrag zurück, dem er als Erwerbsquelle längst adieu gesagt hatte. All die Spuren des Arrangements, die Beiseite-Formulierungen und Ausbrüche von Misanthropie, Albernheit oder Gereiztheit sind darin wiederhergestellt, und sie sind zahlreich. Der ehemalige Stand-up-Comedian baute sich am Ende eine private Bühne, auf der er allein das Programm bestimmte und nicht auf den Beifall des Publikums warten musste. Ihm war ja seit langem bewusst, dass kein Roman mehr in ihm steckte; seine bittersten zeitkritischen Essays, darunter die Attacke gegen König Leopold II. von Belgien ("der Schlächter") und dessen brutale Ausbeutung Kongos, wurden von Magazinen abgelehnt. Zwar erlahmte im Lauf der Monate seine autobiographische Energie, weil er feststellen musste, dass keine Abschweifung weit genug wäre, um die Komplexität seiner Gedankenverbindungen zu erfassen; aber der Torso ist beeindruckend genug.
Vermutlich, um sich das Herz zu wärmen, fügte Twain in die Autobiographie auch Passagen aus dem Büchlein seiner dreizehnjährigen Tochter Susy über ihren Papa ein, darunter eine hinreißende Beschreibung vom Seifenblasenmachen - und dann hängt er seinerseits die Sätze an: "So ist das menschliche Leben. Wir werden in die Welt gepustet, eine kleine Weile schweben wir vergnügt in der Sommerluft, führen selbstgefällig unsere anmutige Gestalt und unsere zart schillernden Farben vor; dann zerplatzen wir mit einem leisen Blubb und hinterlassen nichts als eine Erinnerung - manchmal nicht einmal die."
Die kleine Seifenblase, das ist Susy selbst, die mit vierundzwanzig Jahren an Hirnhautentzündung stirbt, als ihr Vater sich auf Vortragstournee um die Welt befindet. "Eine Wolke liegt nun dauerhaft über allem", schrieb Twain seinerzeit ins Notizbuch, und auch jetzt entfährt ihm ein Seufzen. Zwei der vier Frauen, die seine engste Familie gebildet hatten, starben vor ihm. Als am Heiligabend 1909 seine Tochter Jean tot in der Badewanne gefunden wurde, bedeutete das den letzten Schicksalsschlag. Vier Monate später starb auch er und ging ins Grab, das er sich so oft vorgestellt hatte: als Ort, von dem aus hundert Jahre später seine Sätze in die Welt hinauswehen würden.
Mark Twain: "Ich bin der eselhafteste Mensch, den ich je gekannt habe". Neue Geheimnisse meiner Autobiographie.
Aus dem Amerikanischen von Hans-Christian Oeser. Aufbau Verlag, Berlin 2014. 2 Bände im Schuber, zus. 1034 S., Abb., geb. und br., 49,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Hingerissen hat Harald Eggebrecht den nun unter dem Titel "Ich bin der eselhafteste Mensch, den ich je gekannt habe" erschienenen zweiten Teil der großen Autobiografie Mark Twains gelesen. Was entdeckt der Rezensent hier nicht alles: Neugier und Improvisation, Zitate und innovative Einfälle - brillant verpackt in feine Beobachtungen und alle erdenklichen humoristischen Spielarten! Und dass dies alles, anders als zu Twains Lebzeiten, nun ungekürzt zu entdecken ist, stimmt den Rezensenten vollends glücklich. So liest er fasziniert die Niederschriften Twains zwischen April 1906 und Februar 1907, gleitet durch Reflexionen über Gott und die Welt, Kommentare zu Tagesaktuellem, menschliche Tragikomödien oder "donquijotesk" beschriebene Plagen der Stubenfliege und gönnt sich, gemäß Twains Idee des offenen Kunstwerks, den ein oder anderen Lektüre-Sprung. Ein kongeniales, exzellent übersetztes Werk, das dem Kritiker wie ein Dialog mit Mark Twain erscheint.
© Perlentaucher Medien GmbH
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» [E]in Dickicht von [...] erzählerischen Einfällen, Reflexionen über Menschsein, Gott und Welt, vergnügten Anekdoten, brillantem Spott [...]. [...] Es gibt [...] kein Ende beim Vergnügen, [Mark Twain] auf so verschiedene Weise zu begegnen, aber Vorfreude auf den dritten Band. « Harald Eggebrecht Harald Eggebrecht Süddeutsche Zeitung 20141202