Produktdetails
- Verlag: Europa Verlag
- Seitenzahl: 238
- Abmessung: 210mm
- Gewicht: 392g
- ISBN-13: 9783203800189
- ISBN-10: 3203800187
- Artikelnr.: 24973049
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.03.2001Alice lebt hier nicht mehr
Wein und Zeit: Peter Märthesheimers Roman "Ich bin die Andere"
Wird im Rasthaus "Wonnegau Motor Inn" eine "gemischte Platte Wonnegau" gewünscht, dann bestellt die Bedienerin in der Küche "eine gemischte Wonne". Abends sitzen im Gastzimmer Vertreter und Fernfahrer in Unterhemden. Manchmal taucht auch die eine oder andere Frau aus der näheren Umgebung auf. So eine nimmt dann nicht die "gemischte Wonne", sondern einen der Herren im Unterhemd und der sie mit auf ein Zimmer mit Nadelfilzboden über der Wirtsstube. So zweimal im Jahr käme auch die Tochter vom Weingutsbesitzer Winter, schätzt die Bedienerin. Winters Weingut ist einen Kilometer Fußweg vom Rasthaus entfernt, und Winters Tochter ist auch die Tochter von Frau Winter.
Aber das ist von untergeordneter Bedeutung, weil unter Karl Winter alle von untergeordneter Bedeutung sind. Gegenüber dem Ingenieur Robert Fabry gibt der als seine Lieblingsbeschäftigung an, den Willen anderer zu brechen. Darin ist er ausgesprochen erfolgreich. Das alles weiß Fabry aber noch nicht, als er Winters Tochter zum ersten Mal begegnet, in der Halle eines Frankfurter Hotels der deutlich gehobenen Kategorie. Sonst wäre alles anders verlaufen. Aber das gilt ja nicht nur für diese Geschichte: daß Ahnungslosigkeit, Ignoranz, Informationsarmut und Verblendung Prozesse entscheidend bestimmen können. Fabry also sieht dort Carolin Winter und hält sie für "eine unglaublich schöne Hure. Ich wußte plötzlich, daß ich sie haben wollte." Die Einlösung dieses Begehrens geschieht ähnlich schnell und explosiv wie dessen Aufkommen. Die Frau, die sich Alice nennen läßt, entschwindet dann in der Nacht unbemerkt aus dem Hotelzimmer, unter Hinterlassung von Fabrys reichlich bemessenem Hurenlohn wie auch ihrer sämtlichen Kleidung, aber unter Mitnahme seines Mantels.
Die Irritation des Ingenieurs erreicht eine neue Stufe, als er dieser Blume der Nacht am nächsten Morgen wieder begegnet, in der Kanzlei von Dr. Robert Maiser. Dort wird sie ihm als die Rechtsanwältin Dr. Carolin Winter vorgestellt, obendrein zuständig für die Ausarbeitung des von ihm gewünschten Vertragsentwurfes. Im Vertragsrecht sei sie nämlich, so erläutert ihr Chef, gerissen wie eine Füchsin. Für Fabry reicht ihre Gerissenheit weit über Vertragsrecht hinaus, denn die Advokatin gibt durch nichts zu erkennen, daß sie ihren neuen Klienten nur Stunden zuvor unter deutlich anderen Bedingungen schon kennengelernt hat. Immerhin nimmt sie eine Einladung zum Abendessen im Restaurant des bettenmäßig bereits getesteten Hotels an, und Fabry hofft, dort die beiden Aggregatzustände des Objekts seiner Begierde, die Hure und die Anwältin, zusammenführen zu können.
Das mißlingt jedoch gründlich, weil Frau Dr. Winter beim Übergang vom geschäftlichen zum erotischen Teil des Abends wie in Panik flieht und danach für Tage nicht mehr zu erreichen ist. Fabry fahndet erst selbst nach ihr und beauftragt dann eine auf solche Fälle spezialisierte Agentur mit der Suche, denn sein Lebensziel ist darauf zusammengeschnurrt, Carolin Winter nahe zu sein. Vor der Nacht mit "Alice" hatte er "noch nie einen gebraucht, der mir gesagt hätte, wo es langgeht", jetzt antwortet er seiner etatmäßigen Lebensabschnittspartnerin Gitte auf deren telefonische Frage, wo er denn überhaupt sei, mit der Ortsangabe "in einer Krise". Die Krise bleibt sein psychischer Aufenthaltsort auch dann noch, als Carolins Versteck gefunden ist, das Weingut ihres Vaters. Der bietet dem erwartet, aber überraschend dort auftauchenden Liebenden sofort Speis und Trank, ein Zimmer für eine oder mehrere Nächte und obendrein die Hand seiner Tochter. Doch diese erfreuliche Offerte wird ergänzt um den Hinweis, "daß Carolin auch noch eine stattliche Menge von Familiengeheimnissen in die Ehe einbringen wird". Die sind nicht nur in quantitativer Hinsicht beeindruckend, sondern auch in ihren Dimensionen schlicht bedrückend, was sich Fabry aber nur schritt- und näherungsweise erschließt. Zwei der Frauen um Winter, seine Gattin und Frau Schäfer, die Haushälterin, trinken heimlich, aber so heftig, daß es ihm schnell auffällt. Bis er auch versteht, daß sie jeweils damit anfingen, als der Patriarch sie von der Bettkante stieß, verstreicht wirre Zeit. Da war auch was zwischen Frau Winter und Bruno, dem Gutsverwalter. Der hat sich schließlich selbst die Zunge abgebissen. Und da war etwas zwischen Karl Winter und seiner Tochter Carolin, was nicht vorbei ist. Etwas Monströses, an dem Carolin nicht beteiligt zu sein glaubt, da sie das an ihre beste Freundin Carlotta delegiert. Die aber wohnt in Carolins Körper und bedient sich aus ihrem Kleiderschrank. Fabry begegnet beiden und sieht sie als eine Person, die sie sind. Wie eben auch nicht. Sein Begehren gilt Carlotta. Richtet er es an Carolin, kann das nicht gutgehen. Es geht auch nicht gut. Gar nichts geht gut.
Peter Märthesheimer, der diese dramatische Tragödie abwechselnd aus der Sicht von Robert Fabry und Carolin Winter beschreibt, fiel vor diesem ersten Roman schon lange Zeit deutlich positiv als Drehbuch- und Bühnenautor auf. "Ich bin die Andere" nun ist Literatur pur und nicht das Buch zum kommenden Film. Die innere Entwicklung der beiden Protagonisten zu sich selbst und zum anderen, wie Märthesheimer sie von beiden protokollieren läßt, könnte außerliterarisch nur in homöopathischer Verdünnung geliefert werden. Bei Themen wie Kindesmißbrauch, Selbstverstümmelung und Bewußtseinsspaltung kann man sich leicht verheben oder sie des billigen Effekts wegen ins Schaufenster stellen. Hier aber haben sie ihren selbstverständlichen Platz in einem konsequenten Reigen von Traumatisierungen. Als Leser kann man diesem Reigen nachsinnen, es aber auch bleiben lassen und "Ich bin die Andere" einfach als einen umgekehrten (Beziehungs-)Krimi lesen: Erst wird - fast - alles aufgeklärt, dann geschieht der Mord.
BURKHARD SCHERER
Peter Märthesheimer: "Ich bin die Andere". Roman. Europa Verlag, Hamburg und Wien 2000. 239 S., geb., 34,50 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wein und Zeit: Peter Märthesheimers Roman "Ich bin die Andere"
Wird im Rasthaus "Wonnegau Motor Inn" eine "gemischte Platte Wonnegau" gewünscht, dann bestellt die Bedienerin in der Küche "eine gemischte Wonne". Abends sitzen im Gastzimmer Vertreter und Fernfahrer in Unterhemden. Manchmal taucht auch die eine oder andere Frau aus der näheren Umgebung auf. So eine nimmt dann nicht die "gemischte Wonne", sondern einen der Herren im Unterhemd und der sie mit auf ein Zimmer mit Nadelfilzboden über der Wirtsstube. So zweimal im Jahr käme auch die Tochter vom Weingutsbesitzer Winter, schätzt die Bedienerin. Winters Weingut ist einen Kilometer Fußweg vom Rasthaus entfernt, und Winters Tochter ist auch die Tochter von Frau Winter.
Aber das ist von untergeordneter Bedeutung, weil unter Karl Winter alle von untergeordneter Bedeutung sind. Gegenüber dem Ingenieur Robert Fabry gibt der als seine Lieblingsbeschäftigung an, den Willen anderer zu brechen. Darin ist er ausgesprochen erfolgreich. Das alles weiß Fabry aber noch nicht, als er Winters Tochter zum ersten Mal begegnet, in der Halle eines Frankfurter Hotels der deutlich gehobenen Kategorie. Sonst wäre alles anders verlaufen. Aber das gilt ja nicht nur für diese Geschichte: daß Ahnungslosigkeit, Ignoranz, Informationsarmut und Verblendung Prozesse entscheidend bestimmen können. Fabry also sieht dort Carolin Winter und hält sie für "eine unglaublich schöne Hure. Ich wußte plötzlich, daß ich sie haben wollte." Die Einlösung dieses Begehrens geschieht ähnlich schnell und explosiv wie dessen Aufkommen. Die Frau, die sich Alice nennen läßt, entschwindet dann in der Nacht unbemerkt aus dem Hotelzimmer, unter Hinterlassung von Fabrys reichlich bemessenem Hurenlohn wie auch ihrer sämtlichen Kleidung, aber unter Mitnahme seines Mantels.
Die Irritation des Ingenieurs erreicht eine neue Stufe, als er dieser Blume der Nacht am nächsten Morgen wieder begegnet, in der Kanzlei von Dr. Robert Maiser. Dort wird sie ihm als die Rechtsanwältin Dr. Carolin Winter vorgestellt, obendrein zuständig für die Ausarbeitung des von ihm gewünschten Vertragsentwurfes. Im Vertragsrecht sei sie nämlich, so erläutert ihr Chef, gerissen wie eine Füchsin. Für Fabry reicht ihre Gerissenheit weit über Vertragsrecht hinaus, denn die Advokatin gibt durch nichts zu erkennen, daß sie ihren neuen Klienten nur Stunden zuvor unter deutlich anderen Bedingungen schon kennengelernt hat. Immerhin nimmt sie eine Einladung zum Abendessen im Restaurant des bettenmäßig bereits getesteten Hotels an, und Fabry hofft, dort die beiden Aggregatzustände des Objekts seiner Begierde, die Hure und die Anwältin, zusammenführen zu können.
Das mißlingt jedoch gründlich, weil Frau Dr. Winter beim Übergang vom geschäftlichen zum erotischen Teil des Abends wie in Panik flieht und danach für Tage nicht mehr zu erreichen ist. Fabry fahndet erst selbst nach ihr und beauftragt dann eine auf solche Fälle spezialisierte Agentur mit der Suche, denn sein Lebensziel ist darauf zusammengeschnurrt, Carolin Winter nahe zu sein. Vor der Nacht mit "Alice" hatte er "noch nie einen gebraucht, der mir gesagt hätte, wo es langgeht", jetzt antwortet er seiner etatmäßigen Lebensabschnittspartnerin Gitte auf deren telefonische Frage, wo er denn überhaupt sei, mit der Ortsangabe "in einer Krise". Die Krise bleibt sein psychischer Aufenthaltsort auch dann noch, als Carolins Versteck gefunden ist, das Weingut ihres Vaters. Der bietet dem erwartet, aber überraschend dort auftauchenden Liebenden sofort Speis und Trank, ein Zimmer für eine oder mehrere Nächte und obendrein die Hand seiner Tochter. Doch diese erfreuliche Offerte wird ergänzt um den Hinweis, "daß Carolin auch noch eine stattliche Menge von Familiengeheimnissen in die Ehe einbringen wird". Die sind nicht nur in quantitativer Hinsicht beeindruckend, sondern auch in ihren Dimensionen schlicht bedrückend, was sich Fabry aber nur schritt- und näherungsweise erschließt. Zwei der Frauen um Winter, seine Gattin und Frau Schäfer, die Haushälterin, trinken heimlich, aber so heftig, daß es ihm schnell auffällt. Bis er auch versteht, daß sie jeweils damit anfingen, als der Patriarch sie von der Bettkante stieß, verstreicht wirre Zeit. Da war auch was zwischen Frau Winter und Bruno, dem Gutsverwalter. Der hat sich schließlich selbst die Zunge abgebissen. Und da war etwas zwischen Karl Winter und seiner Tochter Carolin, was nicht vorbei ist. Etwas Monströses, an dem Carolin nicht beteiligt zu sein glaubt, da sie das an ihre beste Freundin Carlotta delegiert. Die aber wohnt in Carolins Körper und bedient sich aus ihrem Kleiderschrank. Fabry begegnet beiden und sieht sie als eine Person, die sie sind. Wie eben auch nicht. Sein Begehren gilt Carlotta. Richtet er es an Carolin, kann das nicht gutgehen. Es geht auch nicht gut. Gar nichts geht gut.
Peter Märthesheimer, der diese dramatische Tragödie abwechselnd aus der Sicht von Robert Fabry und Carolin Winter beschreibt, fiel vor diesem ersten Roman schon lange Zeit deutlich positiv als Drehbuch- und Bühnenautor auf. "Ich bin die Andere" nun ist Literatur pur und nicht das Buch zum kommenden Film. Die innere Entwicklung der beiden Protagonisten zu sich selbst und zum anderen, wie Märthesheimer sie von beiden protokollieren läßt, könnte außerliterarisch nur in homöopathischer Verdünnung geliefert werden. Bei Themen wie Kindesmißbrauch, Selbstverstümmelung und Bewußtseinsspaltung kann man sich leicht verheben oder sie des billigen Effekts wegen ins Schaufenster stellen. Hier aber haben sie ihren selbstverständlichen Platz in einem konsequenten Reigen von Traumatisierungen. Als Leser kann man diesem Reigen nachsinnen, es aber auch bleiben lassen und "Ich bin die Andere" einfach als einen umgekehrten (Beziehungs-)Krimi lesen: Erst wird - fast - alles aufgeklärt, dann geschieht der Mord.
BURKHARD SCHERER
Peter Märthesheimer: "Ich bin die Andere". Roman. Europa Verlag, Hamburg und Wien 2000. 239 S., geb., 34,50 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Erst klärt sich fast alles auf, "dann geschieht der Mord". Man könne diesen Roman wie einen "umgekehrten Krimi" lesen, meint Rezensent Burkhard Scherer. Doch ist er offensichtlich der Ansicht, dass dem Leser in diesem Fall einiges entgeht. Die Geschichte um die Verstrickungen eines Ingenieurs, eine Frau mit multipler Persönlichkeit und deren patriarchalischem Vater sei "Literatur pur", lobt er. In dem Gewirr lege Märthesheimer, der bisher vor allem Drehbücher geschrieben hatte, Funktionen der "Ahnungslosigkeit, Ignoranz, Informationsarmut und Verblendung" in Prozessen offen. Die Themen - Kindsmissbrauch, Selbstverstümmelung, Bewusstseinsspaltung - würden nicht für billige Effekte benutzt, was nach Meinung des Rezensent auch damit zu tun hat, dass die Geschichte aus zwei Perspektiven erzählt wird, sondern erscheinen ganz "selbstverständlich" in einem "konsequenten Reigen von Traumatisierungen".
© Perlentaucher Medien GmbH
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