Dieter Grimm ist einer der führenden Gelehrten des Öffentlichen Rechts und einer der wichtigsten juristischen Zeitzeugen der Bundesrepublik. Er hat nicht nur in herausgehobener Funktion an der deutschen Rechtsentwicklung mitgewirkt und über sie nachgedacht, er ist auch ein international wahrgenommener Beobachter und Themensetzer. In diesem wissenschaftsbiographischen Interview berichtet er über Erfahrungen und Hintergründe, die weder in Gerichtsentscheidungen noch in wissenschaftlichen Publikationen zur Sprache kommen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.05.2017Vom Handstand im Hörsaal
Dieter Grimm, Rechtsgelehrter von europäischem Rang, feiert seinen 80. Geburtstag. In einem autobiografischen
Gesprächsband erzählt er von seiner Studienzeit bei Adorno – und wie man als Verfassungsrichter Kritik pariert
VON HERIBERT PRANTL
Schriebe ein Fußballtrainer ein Buch, das „Ich bin ein Freund des Fußballs“ heißt, dann wäre man gelangweilt. Beim Tapezierermeister, der sein Werk „Ich bin ein Freund der Tapete“ nennt, wäre es nicht anders. Und wenn der Bademeister nichts Spannenderes zu titeln wüsste als „Ich bin ein Freund des Badens“, dann würde man seine Lebenserinnerungen allenfalls dann lesen, wenn man die Banalität auf dem Buchumschlag für einen besonderen Trick hielte. Dieter Grimm hat nun ein Buch publiziert, das den Titel trägt: „Ich bin ein Freund der Verfassung“.
Von dieser Mitteilung des früheren Verfassungsrichters ist niemand überrascht. Aber es ist nicht die Art des genialischen Juristen Grimm, Effekt zu haschen. Das muss er auch nicht, weil er etwas zu sagen hat – und hinter dem, was er eloquent zu sagen hat, steht die Kraft des scharfen Denkens. Grimm ist kein knalliger Formulierer, aber er ist ein glänzender Stilist. Dieter Grimm ist einer der großen europäischen Rechtswissenschaftler; er ist ein polyglotter Professor und ein aufgeklärter Katholik; er ist ein Verfassungsfreund, der die Freiheitsrechte der Bürger mit Kompetenz und Leidenschaft verteidigt; und er ist ein Rechtslehrer mit Leib und Seele, einer, der seine Studenten dafür begeistern kann, dass das Studium ein intellektuelles Abenteuer ist. Unaufgeregt zeigt er ihnen, wie aufregend Verfassungsrecht und Verfassungspolitik sind.
Alle Richter schreiben Urteile. Geschichte schreiben nur wenige. Grimm hat mit seinen Urteilen als Bundesverfassungsrichter (von 1987 bis 1999) Geschichte geschrieben. Helmut Kerscher, der als Korrespondent dieser Zeitung zwei Jahrzehnte lang aus Karlsruhe berichtete, schrieb einst zu seinem Abschied: „Selten ist ein solcher Ausbund an Liebenswürdigkeit und Friedfertigkeit so verketzert worden wie Dieter Grimm. Erst hatte er Gegner, weil er maßgeblich zur Stärkung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks beitrug. Dann bekam er Feinde und Polizeischutz, weil er für die „Soldaten sind Mörder“-Entscheidung verantwortlich gemacht wurde und für den von den Kirchen heftig bekämpften Kruzifix-Beschluss. Die wenigsten Kritiker wussten, wen sie da für den Anti-Christen hielten: einen veritablen, nur eben erzliberalen Stipendiaten der Bischöflichen Studienförderung Cusanuswerk“. Grimm hat die Attacken gut überstanden – das Bundesverfassungsgericht auch.
Dieter Grimm ist ein Liebhaber des Grundgesetzes; und er ist ein Freund des Bundesverfassungsgerichts, von dem er sagt, dass sich dessen Rolle geändert habe. Früher habe die Aufgabe des Gerichts darin bestanden, den politischen Institutionen, den Fachgerichten und den Verwaltungsbehörden die Bedeutung der Grundrechte einzuschärfen. Diese Phase sei vorbei. Die Grundrechtsbindung sei heute „in erstaunlichem Maß internalisiert“. Natürlich gebe es noch Grundrechtsverstöße; aber sie seien seltener als früher das Ergebnis einer mangelnden Grundrechtssensibilität. Stattdessen rücke das Gericht „nun mehr und mehr in die Rolle ein, in der es als Gegengewicht gegen die Kurzatmigkeit und Prinzipienvergessenheit der Politik fungiert und diese an die in der Verfassung zum Ausdruck gekommenen langfristigen Aspirationen der Gesellschaft erinnert“. Das Gericht sei vom Wächter zum Mahner geworden.
So liest man es in dem klugen Gesprächsbuch „Ich bin ein Freund der Verfassung“, das just zum 80. Geburtstag von Dieter Grimm erschienen ist. Eine Festschrift aus diesem Anlass, in dem die Weggefährten ihre Aufsätze publizieren, hat Grimm, wie er sagt, „abwenden“ können. Viele Gelehrte messen ihren Rang gern an der Dicke einer solchen Festschrift und an der Zahl der Beiträger. Solche Ruhm-Belegexemplare würden zur souveränen Bescheidenheit Grimms nicht so recht passen. Er hat sich lieber von drei Rechtswissenschaftlerkollegen ins Gespräch ziehen lassen – ein Interview für eine rechtswissenschaftliche Zeitschrift sollte es werden; aber dort sprengte es dann das Format.
So wurde schließlich daraus etwas, was es in dieser Art kaum gibt – ein „wissenschaftsbiografisches Interview“ in Buchform, 325 kurzweilige Seiten lang, Reflexionen, Erzählungen, Meditationen darüber, wie aus dem Sohn eines Eisenbahners im gehobenen Dienst, in dessen Familie vor ihm nie jemand eine Universität von innen gesehen hatte, ein Verfassungsrichter und Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin wurde, ein Rechtslehrer in Bielefeld, Berlin, Harvard, Yale, Toronto, Kalkutta, Rom, Seoul und Peking. Eitel und kokett ist er dabei nie, selbstbewusst schon .
Grimm erinnert sich – Jahrgang 1937 – daran, wie er als Kind erst Soldat und dann Pfarrer werden wollte, wie man ihm im Dachgeschoss des Hauses eine kleine Abstellkammer als Kapelle samt Altar und Tabernakel herrichtete, er erinnert sich an den „ausgeprägten Aufstiegswillen“ der Eltern, an den ansehnlich gefüllten Bücherschrank zu Hause, an seine Zeit als Schulsprecher und junger Funktionär der „Jungen Presse“, einem Verband der Schülerzeitungen – und daran, wie es ihm bei einem spontanen Versuch erging, Kanzler Konrad Adenauer zu interviewen. Damals begann das, was ihn immer wieder verwunderte: Er fand sich in Führungsrollen wieder, „ohne es darauf angelegt zu haben“.
Grimm besuchte das Wilhelmsgymnasium in Kassel, es ist das einzige Gymnasium in Deutschland, aus dem drei Bundesverfassungsrichter hervorgegangen sind: Der erste war Hermann Heußner, dessen Großtat als Richter das Volkszählungs-Urteil wurde. Der zweite war Ernst-Wolfgang Böckenförde, der dritte Grimm. In einer Rede zu einem Schuljubiläum hat Grimm darauf hingewiesen, dass wohl drei nötig waren, um einen schrecklichen Juristen aufzuwiegen, der ebenfalls Abiturient des Wilhelmsgymnasiums zu Kassel war: Roland Freisler, der Präsident des Volksgerichtshofs in der NS-Zeit.
In Grimms Erinnerungen ans Studium erfährt man von einem Professor, zu dessen Glanzstück es gehörte, einen Handstand im Hörsaal zu machen, er erinnert sich an Adorno, den er nicht verstanden habe; er habe sich streckenweise damit unterhalten zu prüfen, ob dieser „seine Schachtelsätze korrekt zu Ende brachte. Er tat es.“ Grimm erinnert sich an seine Studien in Paris, wo die Professoren ihre Vorlesungen in Robe hielten und von einem Pedell in Uniform in den Hörsaal geleitet wurden, an seine Studien am Arbeitstisch im Haus des verstorbenen Rechtstheoretikers Leon Duguit zu Bordeaux.
Man kichert bei Grimms Schilderungen aus seiner Referendarzeit am Amtsgericht in Hofgeismar und am Landgericht Kassel, man teilt sein Hochgefühl in Harvard, geht mit ihm an die Uni in Bielefeld, „eine Universität der kurzen Wege und der mühelosen Übergänge zwischen den Disziplinen“. Bielefeld war damals, als Dieter Grimm dort als Nachfolger von Böckenförde Rechtsprofessor wurde, das Mekka der modernen Geschichtswissenschaft. Grimm erzählt auch wunderbar von seinen dortigen Erlebnissen mit Niklas Luhmann. In der Bibliothek Literatur zu einem Vortrag suchend, sah er Luhmann vorbeieilen und fragte ihn schnell: „Was sagen Sie zur Kultur?“ Er erwiderte: „Ich meide sie“.
Wie wird man Verfassungsrichter? Wie geht es bei den Beratungen zu? Und wie geht man mit Kritik um, wenn sie auf einen herunterstürzt? Gelassen. Als ihn am Juristentag ein Politiker wegen der „Soldaten sind Mörder“-Entscheidung in einer Weise angriff, die offenbarte, dass er sie nicht gelesen hatte, empfahl ihm Grimm, sich zunächst einmal Kenntnis über den Gegenstand der Kritik zu verschaffen. Der Politiker erwiderte, dass er keine Zeit habe, von heute auf morgen 70 Seiten zu lesen. Grimms trockene Antwort: „Es sind sieben Seiten“. Das ist Grimm.
Grimms Interviewer Oliver Lepsius zitiert die ungeheuer massive Kritik am Kruzifix-Beschluss – Grimms Münchner Professorenkollege Peter Badura schrieb im Auftrag der erzürnten bayerischen Staatsregierung ein Gutachten dagegen, und die Bild-Zeitung titele: „Er soll die Schulkreuze retten. Der Herrgott bleibt“. Grimm bemerkt hier nur: „Dazu war der Herrgott wohl nicht auf das Gutachten von Peter Badura angewiesen.“
Grimm kann Kritik elegant parieren. Und wenn Grimm über Grundrechte sinniert, spürt man, dass er das Zauberkunststück der großen Bundespräsidenten Theodor Heuss und Richard von Weizsäcker behände beherrscht: große Streitfragen intellektuell ins Schweben zu bringen. Dieter Grimm kann das Schwierige leicht erscheinen lassen. Er wäre auch ein wunderbarer Bundespräsident geworden. Heute wird der europäische Rechtsdenker Dieter Grimm achtzig Jahre alt.
Dieter Grimm: „Ich bin ein Freund der Verfassung.“ Im Gespräch mit Oliver Lepsius, Christian Waldhoff und Matthias Roßbach. Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2017. 325 Seiten, 29 Euro.
Alle Richter schreiben
Urteile, Geschichte schreiben
aber nur wenige
Der Bücherschrank im
Haus der Eltern
war ansehnlich gefüllt
Auch ein wunderbarer
Bundespräsident
wäre er sicher geworden
Fand sich oft in Führungsrollen wieder: Dieter Grimm, hier neben der Büste des römischen Kaisers Augustus in der Münchner Glyptothek. Seine Arbeit als Richter und Professor hat er immer als intellektuelles Abenteuer verstanden.
Foto: Alessandra Schellnegger
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Dieter Grimm, Rechtsgelehrter von europäischem Rang, feiert seinen 80. Geburtstag. In einem autobiografischen
Gesprächsband erzählt er von seiner Studienzeit bei Adorno – und wie man als Verfassungsrichter Kritik pariert
VON HERIBERT PRANTL
Schriebe ein Fußballtrainer ein Buch, das „Ich bin ein Freund des Fußballs“ heißt, dann wäre man gelangweilt. Beim Tapezierermeister, der sein Werk „Ich bin ein Freund der Tapete“ nennt, wäre es nicht anders. Und wenn der Bademeister nichts Spannenderes zu titeln wüsste als „Ich bin ein Freund des Badens“, dann würde man seine Lebenserinnerungen allenfalls dann lesen, wenn man die Banalität auf dem Buchumschlag für einen besonderen Trick hielte. Dieter Grimm hat nun ein Buch publiziert, das den Titel trägt: „Ich bin ein Freund der Verfassung“.
Von dieser Mitteilung des früheren Verfassungsrichters ist niemand überrascht. Aber es ist nicht die Art des genialischen Juristen Grimm, Effekt zu haschen. Das muss er auch nicht, weil er etwas zu sagen hat – und hinter dem, was er eloquent zu sagen hat, steht die Kraft des scharfen Denkens. Grimm ist kein knalliger Formulierer, aber er ist ein glänzender Stilist. Dieter Grimm ist einer der großen europäischen Rechtswissenschaftler; er ist ein polyglotter Professor und ein aufgeklärter Katholik; er ist ein Verfassungsfreund, der die Freiheitsrechte der Bürger mit Kompetenz und Leidenschaft verteidigt; und er ist ein Rechtslehrer mit Leib und Seele, einer, der seine Studenten dafür begeistern kann, dass das Studium ein intellektuelles Abenteuer ist. Unaufgeregt zeigt er ihnen, wie aufregend Verfassungsrecht und Verfassungspolitik sind.
Alle Richter schreiben Urteile. Geschichte schreiben nur wenige. Grimm hat mit seinen Urteilen als Bundesverfassungsrichter (von 1987 bis 1999) Geschichte geschrieben. Helmut Kerscher, der als Korrespondent dieser Zeitung zwei Jahrzehnte lang aus Karlsruhe berichtete, schrieb einst zu seinem Abschied: „Selten ist ein solcher Ausbund an Liebenswürdigkeit und Friedfertigkeit so verketzert worden wie Dieter Grimm. Erst hatte er Gegner, weil er maßgeblich zur Stärkung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks beitrug. Dann bekam er Feinde und Polizeischutz, weil er für die „Soldaten sind Mörder“-Entscheidung verantwortlich gemacht wurde und für den von den Kirchen heftig bekämpften Kruzifix-Beschluss. Die wenigsten Kritiker wussten, wen sie da für den Anti-Christen hielten: einen veritablen, nur eben erzliberalen Stipendiaten der Bischöflichen Studienförderung Cusanuswerk“. Grimm hat die Attacken gut überstanden – das Bundesverfassungsgericht auch.
Dieter Grimm ist ein Liebhaber des Grundgesetzes; und er ist ein Freund des Bundesverfassungsgerichts, von dem er sagt, dass sich dessen Rolle geändert habe. Früher habe die Aufgabe des Gerichts darin bestanden, den politischen Institutionen, den Fachgerichten und den Verwaltungsbehörden die Bedeutung der Grundrechte einzuschärfen. Diese Phase sei vorbei. Die Grundrechtsbindung sei heute „in erstaunlichem Maß internalisiert“. Natürlich gebe es noch Grundrechtsverstöße; aber sie seien seltener als früher das Ergebnis einer mangelnden Grundrechtssensibilität. Stattdessen rücke das Gericht „nun mehr und mehr in die Rolle ein, in der es als Gegengewicht gegen die Kurzatmigkeit und Prinzipienvergessenheit der Politik fungiert und diese an die in der Verfassung zum Ausdruck gekommenen langfristigen Aspirationen der Gesellschaft erinnert“. Das Gericht sei vom Wächter zum Mahner geworden.
So liest man es in dem klugen Gesprächsbuch „Ich bin ein Freund der Verfassung“, das just zum 80. Geburtstag von Dieter Grimm erschienen ist. Eine Festschrift aus diesem Anlass, in dem die Weggefährten ihre Aufsätze publizieren, hat Grimm, wie er sagt, „abwenden“ können. Viele Gelehrte messen ihren Rang gern an der Dicke einer solchen Festschrift und an der Zahl der Beiträger. Solche Ruhm-Belegexemplare würden zur souveränen Bescheidenheit Grimms nicht so recht passen. Er hat sich lieber von drei Rechtswissenschaftlerkollegen ins Gespräch ziehen lassen – ein Interview für eine rechtswissenschaftliche Zeitschrift sollte es werden; aber dort sprengte es dann das Format.
So wurde schließlich daraus etwas, was es in dieser Art kaum gibt – ein „wissenschaftsbiografisches Interview“ in Buchform, 325 kurzweilige Seiten lang, Reflexionen, Erzählungen, Meditationen darüber, wie aus dem Sohn eines Eisenbahners im gehobenen Dienst, in dessen Familie vor ihm nie jemand eine Universität von innen gesehen hatte, ein Verfassungsrichter und Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin wurde, ein Rechtslehrer in Bielefeld, Berlin, Harvard, Yale, Toronto, Kalkutta, Rom, Seoul und Peking. Eitel und kokett ist er dabei nie, selbstbewusst schon .
Grimm erinnert sich – Jahrgang 1937 – daran, wie er als Kind erst Soldat und dann Pfarrer werden wollte, wie man ihm im Dachgeschoss des Hauses eine kleine Abstellkammer als Kapelle samt Altar und Tabernakel herrichtete, er erinnert sich an den „ausgeprägten Aufstiegswillen“ der Eltern, an den ansehnlich gefüllten Bücherschrank zu Hause, an seine Zeit als Schulsprecher und junger Funktionär der „Jungen Presse“, einem Verband der Schülerzeitungen – und daran, wie es ihm bei einem spontanen Versuch erging, Kanzler Konrad Adenauer zu interviewen. Damals begann das, was ihn immer wieder verwunderte: Er fand sich in Führungsrollen wieder, „ohne es darauf angelegt zu haben“.
Grimm besuchte das Wilhelmsgymnasium in Kassel, es ist das einzige Gymnasium in Deutschland, aus dem drei Bundesverfassungsrichter hervorgegangen sind: Der erste war Hermann Heußner, dessen Großtat als Richter das Volkszählungs-Urteil wurde. Der zweite war Ernst-Wolfgang Böckenförde, der dritte Grimm. In einer Rede zu einem Schuljubiläum hat Grimm darauf hingewiesen, dass wohl drei nötig waren, um einen schrecklichen Juristen aufzuwiegen, der ebenfalls Abiturient des Wilhelmsgymnasiums zu Kassel war: Roland Freisler, der Präsident des Volksgerichtshofs in der NS-Zeit.
In Grimms Erinnerungen ans Studium erfährt man von einem Professor, zu dessen Glanzstück es gehörte, einen Handstand im Hörsaal zu machen, er erinnert sich an Adorno, den er nicht verstanden habe; er habe sich streckenweise damit unterhalten zu prüfen, ob dieser „seine Schachtelsätze korrekt zu Ende brachte. Er tat es.“ Grimm erinnert sich an seine Studien in Paris, wo die Professoren ihre Vorlesungen in Robe hielten und von einem Pedell in Uniform in den Hörsaal geleitet wurden, an seine Studien am Arbeitstisch im Haus des verstorbenen Rechtstheoretikers Leon Duguit zu Bordeaux.
Man kichert bei Grimms Schilderungen aus seiner Referendarzeit am Amtsgericht in Hofgeismar und am Landgericht Kassel, man teilt sein Hochgefühl in Harvard, geht mit ihm an die Uni in Bielefeld, „eine Universität der kurzen Wege und der mühelosen Übergänge zwischen den Disziplinen“. Bielefeld war damals, als Dieter Grimm dort als Nachfolger von Böckenförde Rechtsprofessor wurde, das Mekka der modernen Geschichtswissenschaft. Grimm erzählt auch wunderbar von seinen dortigen Erlebnissen mit Niklas Luhmann. In der Bibliothek Literatur zu einem Vortrag suchend, sah er Luhmann vorbeieilen und fragte ihn schnell: „Was sagen Sie zur Kultur?“ Er erwiderte: „Ich meide sie“.
Wie wird man Verfassungsrichter? Wie geht es bei den Beratungen zu? Und wie geht man mit Kritik um, wenn sie auf einen herunterstürzt? Gelassen. Als ihn am Juristentag ein Politiker wegen der „Soldaten sind Mörder“-Entscheidung in einer Weise angriff, die offenbarte, dass er sie nicht gelesen hatte, empfahl ihm Grimm, sich zunächst einmal Kenntnis über den Gegenstand der Kritik zu verschaffen. Der Politiker erwiderte, dass er keine Zeit habe, von heute auf morgen 70 Seiten zu lesen. Grimms trockene Antwort: „Es sind sieben Seiten“. Das ist Grimm.
Grimms Interviewer Oliver Lepsius zitiert die ungeheuer massive Kritik am Kruzifix-Beschluss – Grimms Münchner Professorenkollege Peter Badura schrieb im Auftrag der erzürnten bayerischen Staatsregierung ein Gutachten dagegen, und die Bild-Zeitung titele: „Er soll die Schulkreuze retten. Der Herrgott bleibt“. Grimm bemerkt hier nur: „Dazu war der Herrgott wohl nicht auf das Gutachten von Peter Badura angewiesen.“
Grimm kann Kritik elegant parieren. Und wenn Grimm über Grundrechte sinniert, spürt man, dass er das Zauberkunststück der großen Bundespräsidenten Theodor Heuss und Richard von Weizsäcker behände beherrscht: große Streitfragen intellektuell ins Schweben zu bringen. Dieter Grimm kann das Schwierige leicht erscheinen lassen. Er wäre auch ein wunderbarer Bundespräsident geworden. Heute wird der europäische Rechtsdenker Dieter Grimm achtzig Jahre alt.
Dieter Grimm: „Ich bin ein Freund der Verfassung.“ Im Gespräch mit Oliver Lepsius, Christian Waldhoff und Matthias Roßbach. Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2017. 325 Seiten, 29 Euro.
Alle Richter schreiben
Urteile, Geschichte schreiben
aber nur wenige
Der Bücherschrank im
Haus der Eltern
war ansehnlich gefüllt
Auch ein wunderbarer
Bundespräsident
wäre er sicher geworden
Fand sich oft in Führungsrollen wieder: Dieter Grimm, hier neben der Büste des römischen Kaisers Augustus in der Münchner Glyptothek. Seine Arbeit als Richter und Professor hat er immer als intellektuelles Abenteuer verstanden.
Foto: Alessandra Schellnegger
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.05.2017Ein Amt, das man nicht ausschlägt
Bedenkzeit hat man später als Verfassungsrichter noch genug: Dieter Grimm erzählt
Wie wird man Bundesverfassungsrichter? Vor dreißig Jahren bei Dieter Grimm war es so: Das Telefon in Grimms Büro in der Universität Bielefeld klingelte, und am anderen Ende der Leitung war ein ehemaliger Bundesjustizminister. Gerhard Jahn eröffnete das Gespräch mit der Bemerkung, Grimm wisse ja sicher, dass Konrad Hesse demnächst aus dem Verfassungsgericht ausscheiden werde. Grimm, der bei Hesse in Freiburg studiert hatte, wusste es nicht und sagte Jahn gleichwohl sofort zu, ohne die angebotene Bedenkzeit von zwei Wochen in Anspruch zu nehmen. Keine Sondierungen, keine diskrete Inaugenscheinnahme durch den Zirkel der maßgeblichen SPD-Rechtspolitiker - jedenfalls nicht mit Wissen des Kandidaten.
Ein paar Monate vorher hatte Grimm, kein SPD-Mitglied, auf einem rechtspolitischen Kongress der Partei gesprochen. Die spätere Justizministerin Herta Däubler-Gmelin war so beeindruckt von seinem Referat zur rechtlichen Durchsetzung von Interessen, die im politischen Prozess keine Lobby haben, dass sie ihm in ihrer freimütigen Art sagte, sie habe ihn weidlich "ausgebeint". Dem in Kassel aufgewachsenen Grimm musste sie das schwäbische Wort übersetzen: so viel wie "ausgeweidet". Mag sein, dass die eine Arbeitsprobe genügte für die Nominierung fürs höchste Rechtsstaatsamt. Das erwarten Politiker schließlich von Karlsruhe: Texte, die sie gut ausschlachten können.
Dieter Grimm feiert morgen seinen achtzigsten Geburtstag. Aus diesem Anlass haben die Staatsrechtslehrer Oliver Lepsius (Bayreuth) und Christian Waldhoff (Berlin) ein weit ausgreifendes biographisches Interview mit ihm geführt, das am 19. Mai als Buch erscheinen wird. Die Interviewer äußern die Vermutung, die SPD könnte bei der Berufung Grimms ein bestimmtes Rechtsgebiet im Auge gehabt haben: das Rundfunkrecht. Dafür war Hesse zuständig gewesen, und im Ersten Senat vererben die ausscheidenden Richter ihre Dezernate ihren Nachfolgern.
Da als Grimms Nachfolger mit Wolfgang Hoffmann-Riem 1999 wiederum ein dezidierter Verteidiger des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ernannt wurde, leugnet Grimm nicht, dass seine einschlägigen Schriften zum Kulturauftrag des Staates seinen Bonner Entdeckern bekannt gewesen sein könnten: "Der Effekt scheint dafür zu sprechen." Aber er ist froh, dass Jahn ihn nicht danach fragte. Die Richterkandidatenfindung sei verglichen mit den Vereinigten Staaten "immer noch erfreulich unprofessionell": erfreulich, weil das Amateurhafte der Patronage den Begünstigten die professionelle, nämlich unabhängige Amtsführung erleichtert - im Interesse der Gewaltenteilung. "Man darf die Zielsicherheit des politischen Auswahlprozesses nicht überschätzen."
Das ist schon deshalb richtig, weil die Texte eines Verfassungsjuristen zwar hinsichtlich seiner politischen Anschauungen informativ sind, aber nicht hinsichtlich seiner politischen Talente. Wie sich ein Professor, der sein Berufsleben lang nur im eigenen Namen gesprochen hat, in einem kollegialen Entscheidungsgremium schlagen wird, das ist kaum zu prognostizieren.
Der Kooperationszwang arbeitsteiliger Pflichterfüllung schafft auch Machtchancen. In Grimms mündlichem Selbstporträt tritt uns ein energischer Manager der eigenen Kompetenzen entgegen. Mit dem von Hesse geerbten Artikel 5 des Grundgesetzes war er nicht ausgelastet. "Ich konnte das Ressort dann erheblich arrondieren": Versammlungsrecht, Datenschutz, Vereinigungsfreiheit, schließlich auch das Allgemeine Persönlichkeitsrecht - als Weiterungen oder Komplemente der Meinungsfreiheit fielen ihm alle diese Materien zu, kraft der Natur der Sache beziehungsweise der Person, die am Zusammenhang dieser Sachen ein systematisches Interesse hat.
Fällt Grimms Richtertätigkeit in eine Ära der Systematisierung der Karlsruher Rechtsprechung, die zu jedem Grundrecht inzwischen schon mindestens ein Grundsatzurteil in der eigenen Sammlung vorfand? Es ist ein besonderer Reiz des Bandes, dass die Interviewer Grimm mit solchen Fragen dazu provozieren, sein Wirken von außen zu betrachten, mit den Augen des Verfassungshistorikers, der aus seinen Studien in Amerika wie aus der Zusammenarbeit mit den Bielefelder Historikern eine besondere Aufmerksamkeit für das institutionelle Setting und die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Verfassungsrechtsprechung mitbringt.
Grimm empfiehlt mehr mündliche Verhandlungen: Die Kritik am Kruzifix-Urteil von 1995 wäre vielleicht sachlicher ausgefallen, wenn die Öffentlichkeit gewarnt gewesen wäre. Hier hätten Lepsius und Waldhoff nachfragen können, ob der Staat seinem Kulturauftrag gerecht wird, solange die Verhandlungen des Bundesverfassungsgerichts nicht im Rundfunk übertragen werden.
PATRICK BAHNERS
Dieter Grimm: "Ich bin ein Freund der Verfassung". Im Gespräch mit Oliver Lepsius, Christian Waldhoff und Matthias Roßbach.
Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2017. 325 S., br., 29,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bedenkzeit hat man später als Verfassungsrichter noch genug: Dieter Grimm erzählt
Wie wird man Bundesverfassungsrichter? Vor dreißig Jahren bei Dieter Grimm war es so: Das Telefon in Grimms Büro in der Universität Bielefeld klingelte, und am anderen Ende der Leitung war ein ehemaliger Bundesjustizminister. Gerhard Jahn eröffnete das Gespräch mit der Bemerkung, Grimm wisse ja sicher, dass Konrad Hesse demnächst aus dem Verfassungsgericht ausscheiden werde. Grimm, der bei Hesse in Freiburg studiert hatte, wusste es nicht und sagte Jahn gleichwohl sofort zu, ohne die angebotene Bedenkzeit von zwei Wochen in Anspruch zu nehmen. Keine Sondierungen, keine diskrete Inaugenscheinnahme durch den Zirkel der maßgeblichen SPD-Rechtspolitiker - jedenfalls nicht mit Wissen des Kandidaten.
Ein paar Monate vorher hatte Grimm, kein SPD-Mitglied, auf einem rechtspolitischen Kongress der Partei gesprochen. Die spätere Justizministerin Herta Däubler-Gmelin war so beeindruckt von seinem Referat zur rechtlichen Durchsetzung von Interessen, die im politischen Prozess keine Lobby haben, dass sie ihm in ihrer freimütigen Art sagte, sie habe ihn weidlich "ausgebeint". Dem in Kassel aufgewachsenen Grimm musste sie das schwäbische Wort übersetzen: so viel wie "ausgeweidet". Mag sein, dass die eine Arbeitsprobe genügte für die Nominierung fürs höchste Rechtsstaatsamt. Das erwarten Politiker schließlich von Karlsruhe: Texte, die sie gut ausschlachten können.
Dieter Grimm feiert morgen seinen achtzigsten Geburtstag. Aus diesem Anlass haben die Staatsrechtslehrer Oliver Lepsius (Bayreuth) und Christian Waldhoff (Berlin) ein weit ausgreifendes biographisches Interview mit ihm geführt, das am 19. Mai als Buch erscheinen wird. Die Interviewer äußern die Vermutung, die SPD könnte bei der Berufung Grimms ein bestimmtes Rechtsgebiet im Auge gehabt haben: das Rundfunkrecht. Dafür war Hesse zuständig gewesen, und im Ersten Senat vererben die ausscheidenden Richter ihre Dezernate ihren Nachfolgern.
Da als Grimms Nachfolger mit Wolfgang Hoffmann-Riem 1999 wiederum ein dezidierter Verteidiger des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ernannt wurde, leugnet Grimm nicht, dass seine einschlägigen Schriften zum Kulturauftrag des Staates seinen Bonner Entdeckern bekannt gewesen sein könnten: "Der Effekt scheint dafür zu sprechen." Aber er ist froh, dass Jahn ihn nicht danach fragte. Die Richterkandidatenfindung sei verglichen mit den Vereinigten Staaten "immer noch erfreulich unprofessionell": erfreulich, weil das Amateurhafte der Patronage den Begünstigten die professionelle, nämlich unabhängige Amtsführung erleichtert - im Interesse der Gewaltenteilung. "Man darf die Zielsicherheit des politischen Auswahlprozesses nicht überschätzen."
Das ist schon deshalb richtig, weil die Texte eines Verfassungsjuristen zwar hinsichtlich seiner politischen Anschauungen informativ sind, aber nicht hinsichtlich seiner politischen Talente. Wie sich ein Professor, der sein Berufsleben lang nur im eigenen Namen gesprochen hat, in einem kollegialen Entscheidungsgremium schlagen wird, das ist kaum zu prognostizieren.
Der Kooperationszwang arbeitsteiliger Pflichterfüllung schafft auch Machtchancen. In Grimms mündlichem Selbstporträt tritt uns ein energischer Manager der eigenen Kompetenzen entgegen. Mit dem von Hesse geerbten Artikel 5 des Grundgesetzes war er nicht ausgelastet. "Ich konnte das Ressort dann erheblich arrondieren": Versammlungsrecht, Datenschutz, Vereinigungsfreiheit, schließlich auch das Allgemeine Persönlichkeitsrecht - als Weiterungen oder Komplemente der Meinungsfreiheit fielen ihm alle diese Materien zu, kraft der Natur der Sache beziehungsweise der Person, die am Zusammenhang dieser Sachen ein systematisches Interesse hat.
Fällt Grimms Richtertätigkeit in eine Ära der Systematisierung der Karlsruher Rechtsprechung, die zu jedem Grundrecht inzwischen schon mindestens ein Grundsatzurteil in der eigenen Sammlung vorfand? Es ist ein besonderer Reiz des Bandes, dass die Interviewer Grimm mit solchen Fragen dazu provozieren, sein Wirken von außen zu betrachten, mit den Augen des Verfassungshistorikers, der aus seinen Studien in Amerika wie aus der Zusammenarbeit mit den Bielefelder Historikern eine besondere Aufmerksamkeit für das institutionelle Setting und die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Verfassungsrechtsprechung mitbringt.
Grimm empfiehlt mehr mündliche Verhandlungen: Die Kritik am Kruzifix-Urteil von 1995 wäre vielleicht sachlicher ausgefallen, wenn die Öffentlichkeit gewarnt gewesen wäre. Hier hätten Lepsius und Waldhoff nachfragen können, ob der Staat seinem Kulturauftrag gerecht wird, solange die Verhandlungen des Bundesverfassungsgerichts nicht im Rundfunk übertragen werden.
PATRICK BAHNERS
Dieter Grimm: "Ich bin ein Freund der Verfassung". Im Gespräch mit Oliver Lepsius, Christian Waldhoff und Matthias Roßbach.
Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2017. 325 S., br., 29,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main