Dieter Grimm ist einer der führenden Gelehrten des Öffentlichen Rechts und einer der wichtigsten juristischen Zeitzeugen der Bundesrepublik. Er hat nicht nur in herausgehobener Funktion an der deutschen Rechtsentwicklung mitgewirkt und über sie nachgedacht, er ist auch ein international wahrgenommener Beobachter und Themensetzer. In diesem wissenschaftsbiographischen Interview berichtet er über Erfahrungen und Hintergründe, die weder in Gerichtsentscheidungen noch in wissenschaftlichen Publikationen zur Sprache kommen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.05.2017Ein Amt, das man nicht ausschlägt
Bedenkzeit hat man später als Verfassungsrichter noch genug: Dieter Grimm erzählt
Wie wird man Bundesverfassungsrichter? Vor dreißig Jahren bei Dieter Grimm war es so: Das Telefon in Grimms Büro in der Universität Bielefeld klingelte, und am anderen Ende der Leitung war ein ehemaliger Bundesjustizminister. Gerhard Jahn eröffnete das Gespräch mit der Bemerkung, Grimm wisse ja sicher, dass Konrad Hesse demnächst aus dem Verfassungsgericht ausscheiden werde. Grimm, der bei Hesse in Freiburg studiert hatte, wusste es nicht und sagte Jahn gleichwohl sofort zu, ohne die angebotene Bedenkzeit von zwei Wochen in Anspruch zu nehmen. Keine Sondierungen, keine diskrete Inaugenscheinnahme durch den Zirkel der maßgeblichen SPD-Rechtspolitiker - jedenfalls nicht mit Wissen des Kandidaten.
Ein paar Monate vorher hatte Grimm, kein SPD-Mitglied, auf einem rechtspolitischen Kongress der Partei gesprochen. Die spätere Justizministerin Herta Däubler-Gmelin war so beeindruckt von seinem Referat zur rechtlichen Durchsetzung von Interessen, die im politischen Prozess keine Lobby haben, dass sie ihm in ihrer freimütigen Art sagte, sie habe ihn weidlich "ausgebeint". Dem in Kassel aufgewachsenen Grimm musste sie das schwäbische Wort übersetzen: so viel wie "ausgeweidet". Mag sein, dass die eine Arbeitsprobe genügte für die Nominierung fürs höchste Rechtsstaatsamt. Das erwarten Politiker schließlich von Karlsruhe: Texte, die sie gut ausschlachten können.
Dieter Grimm feiert morgen seinen achtzigsten Geburtstag. Aus diesem Anlass haben die Staatsrechtslehrer Oliver Lepsius (Bayreuth) und Christian Waldhoff (Berlin) ein weit ausgreifendes biographisches Interview mit ihm geführt, das am 19. Mai als Buch erscheinen wird. Die Interviewer äußern die Vermutung, die SPD könnte bei der Berufung Grimms ein bestimmtes Rechtsgebiet im Auge gehabt haben: das Rundfunkrecht. Dafür war Hesse zuständig gewesen, und im Ersten Senat vererben die ausscheidenden Richter ihre Dezernate ihren Nachfolgern.
Da als Grimms Nachfolger mit Wolfgang Hoffmann-Riem 1999 wiederum ein dezidierter Verteidiger des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ernannt wurde, leugnet Grimm nicht, dass seine einschlägigen Schriften zum Kulturauftrag des Staates seinen Bonner Entdeckern bekannt gewesen sein könnten: "Der Effekt scheint dafür zu sprechen." Aber er ist froh, dass Jahn ihn nicht danach fragte. Die Richterkandidatenfindung sei verglichen mit den Vereinigten Staaten "immer noch erfreulich unprofessionell": erfreulich, weil das Amateurhafte der Patronage den Begünstigten die professionelle, nämlich unabhängige Amtsführung erleichtert - im Interesse der Gewaltenteilung. "Man darf die Zielsicherheit des politischen Auswahlprozesses nicht überschätzen."
Das ist schon deshalb richtig, weil die Texte eines Verfassungsjuristen zwar hinsichtlich seiner politischen Anschauungen informativ sind, aber nicht hinsichtlich seiner politischen Talente. Wie sich ein Professor, der sein Berufsleben lang nur im eigenen Namen gesprochen hat, in einem kollegialen Entscheidungsgremium schlagen wird, das ist kaum zu prognostizieren.
Der Kooperationszwang arbeitsteiliger Pflichterfüllung schafft auch Machtchancen. In Grimms mündlichem Selbstporträt tritt uns ein energischer Manager der eigenen Kompetenzen entgegen. Mit dem von Hesse geerbten Artikel 5 des Grundgesetzes war er nicht ausgelastet. "Ich konnte das Ressort dann erheblich arrondieren": Versammlungsrecht, Datenschutz, Vereinigungsfreiheit, schließlich auch das Allgemeine Persönlichkeitsrecht - als Weiterungen oder Komplemente der Meinungsfreiheit fielen ihm alle diese Materien zu, kraft der Natur der Sache beziehungsweise der Person, die am Zusammenhang dieser Sachen ein systematisches Interesse hat.
Fällt Grimms Richtertätigkeit in eine Ära der Systematisierung der Karlsruher Rechtsprechung, die zu jedem Grundrecht inzwischen schon mindestens ein Grundsatzurteil in der eigenen Sammlung vorfand? Es ist ein besonderer Reiz des Bandes, dass die Interviewer Grimm mit solchen Fragen dazu provozieren, sein Wirken von außen zu betrachten, mit den Augen des Verfassungshistorikers, der aus seinen Studien in Amerika wie aus der Zusammenarbeit mit den Bielefelder Historikern eine besondere Aufmerksamkeit für das institutionelle Setting und die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Verfassungsrechtsprechung mitbringt.
Grimm empfiehlt mehr mündliche Verhandlungen: Die Kritik am Kruzifix-Urteil von 1995 wäre vielleicht sachlicher ausgefallen, wenn die Öffentlichkeit gewarnt gewesen wäre. Hier hätten Lepsius und Waldhoff nachfragen können, ob der Staat seinem Kulturauftrag gerecht wird, solange die Verhandlungen des Bundesverfassungsgerichts nicht im Rundfunk übertragen werden.
PATRICK BAHNERS
Dieter Grimm: "Ich bin ein Freund der Verfassung". Im Gespräch mit Oliver Lepsius, Christian Waldhoff und Matthias Roßbach.
Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2017. 325 S., br., 29,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bedenkzeit hat man später als Verfassungsrichter noch genug: Dieter Grimm erzählt
Wie wird man Bundesverfassungsrichter? Vor dreißig Jahren bei Dieter Grimm war es so: Das Telefon in Grimms Büro in der Universität Bielefeld klingelte, und am anderen Ende der Leitung war ein ehemaliger Bundesjustizminister. Gerhard Jahn eröffnete das Gespräch mit der Bemerkung, Grimm wisse ja sicher, dass Konrad Hesse demnächst aus dem Verfassungsgericht ausscheiden werde. Grimm, der bei Hesse in Freiburg studiert hatte, wusste es nicht und sagte Jahn gleichwohl sofort zu, ohne die angebotene Bedenkzeit von zwei Wochen in Anspruch zu nehmen. Keine Sondierungen, keine diskrete Inaugenscheinnahme durch den Zirkel der maßgeblichen SPD-Rechtspolitiker - jedenfalls nicht mit Wissen des Kandidaten.
Ein paar Monate vorher hatte Grimm, kein SPD-Mitglied, auf einem rechtspolitischen Kongress der Partei gesprochen. Die spätere Justizministerin Herta Däubler-Gmelin war so beeindruckt von seinem Referat zur rechtlichen Durchsetzung von Interessen, die im politischen Prozess keine Lobby haben, dass sie ihm in ihrer freimütigen Art sagte, sie habe ihn weidlich "ausgebeint". Dem in Kassel aufgewachsenen Grimm musste sie das schwäbische Wort übersetzen: so viel wie "ausgeweidet". Mag sein, dass die eine Arbeitsprobe genügte für die Nominierung fürs höchste Rechtsstaatsamt. Das erwarten Politiker schließlich von Karlsruhe: Texte, die sie gut ausschlachten können.
Dieter Grimm feiert morgen seinen achtzigsten Geburtstag. Aus diesem Anlass haben die Staatsrechtslehrer Oliver Lepsius (Bayreuth) und Christian Waldhoff (Berlin) ein weit ausgreifendes biographisches Interview mit ihm geführt, das am 19. Mai als Buch erscheinen wird. Die Interviewer äußern die Vermutung, die SPD könnte bei der Berufung Grimms ein bestimmtes Rechtsgebiet im Auge gehabt haben: das Rundfunkrecht. Dafür war Hesse zuständig gewesen, und im Ersten Senat vererben die ausscheidenden Richter ihre Dezernate ihren Nachfolgern.
Da als Grimms Nachfolger mit Wolfgang Hoffmann-Riem 1999 wiederum ein dezidierter Verteidiger des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ernannt wurde, leugnet Grimm nicht, dass seine einschlägigen Schriften zum Kulturauftrag des Staates seinen Bonner Entdeckern bekannt gewesen sein könnten: "Der Effekt scheint dafür zu sprechen." Aber er ist froh, dass Jahn ihn nicht danach fragte. Die Richterkandidatenfindung sei verglichen mit den Vereinigten Staaten "immer noch erfreulich unprofessionell": erfreulich, weil das Amateurhafte der Patronage den Begünstigten die professionelle, nämlich unabhängige Amtsführung erleichtert - im Interesse der Gewaltenteilung. "Man darf die Zielsicherheit des politischen Auswahlprozesses nicht überschätzen."
Das ist schon deshalb richtig, weil die Texte eines Verfassungsjuristen zwar hinsichtlich seiner politischen Anschauungen informativ sind, aber nicht hinsichtlich seiner politischen Talente. Wie sich ein Professor, der sein Berufsleben lang nur im eigenen Namen gesprochen hat, in einem kollegialen Entscheidungsgremium schlagen wird, das ist kaum zu prognostizieren.
Der Kooperationszwang arbeitsteiliger Pflichterfüllung schafft auch Machtchancen. In Grimms mündlichem Selbstporträt tritt uns ein energischer Manager der eigenen Kompetenzen entgegen. Mit dem von Hesse geerbten Artikel 5 des Grundgesetzes war er nicht ausgelastet. "Ich konnte das Ressort dann erheblich arrondieren": Versammlungsrecht, Datenschutz, Vereinigungsfreiheit, schließlich auch das Allgemeine Persönlichkeitsrecht - als Weiterungen oder Komplemente der Meinungsfreiheit fielen ihm alle diese Materien zu, kraft der Natur der Sache beziehungsweise der Person, die am Zusammenhang dieser Sachen ein systematisches Interesse hat.
Fällt Grimms Richtertätigkeit in eine Ära der Systematisierung der Karlsruher Rechtsprechung, die zu jedem Grundrecht inzwischen schon mindestens ein Grundsatzurteil in der eigenen Sammlung vorfand? Es ist ein besonderer Reiz des Bandes, dass die Interviewer Grimm mit solchen Fragen dazu provozieren, sein Wirken von außen zu betrachten, mit den Augen des Verfassungshistorikers, der aus seinen Studien in Amerika wie aus der Zusammenarbeit mit den Bielefelder Historikern eine besondere Aufmerksamkeit für das institutionelle Setting und die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Verfassungsrechtsprechung mitbringt.
Grimm empfiehlt mehr mündliche Verhandlungen: Die Kritik am Kruzifix-Urteil von 1995 wäre vielleicht sachlicher ausgefallen, wenn die Öffentlichkeit gewarnt gewesen wäre. Hier hätten Lepsius und Waldhoff nachfragen können, ob der Staat seinem Kulturauftrag gerecht wird, solange die Verhandlungen des Bundesverfassungsgerichts nicht im Rundfunk übertragen werden.
PATRICK BAHNERS
Dieter Grimm: "Ich bin ein Freund der Verfassung". Im Gespräch mit Oliver Lepsius, Christian Waldhoff und Matthias Roßbach.
Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2017. 325 S., br., 29,- [Euro].
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