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Am 30.Dezember 1995 ist Heiner Müller gestorben. Alexander Kluge führte in den Monaten davor eine Reihe von Gesprächen mit ihm. Im Herbst 1995 zum Beispiel geht es um Atem, Hitler, Immanuel Kant, den Generationsvertrag, um Trost durch Verwandlung und um Tabak.

Produktbeschreibung
Am 30.Dezember 1995 ist Heiner Müller gestorben. Alexander Kluge führte in den Monaten davor eine Reihe von Gesprächen mit ihm. Im Herbst 1995 zum Beispiel geht es um Atem, Hitler, Immanuel Kant, den Generationsvertrag, um Trost durch Verwandlung und um Tabak.
Autorenporträt
Alexander Kluge, geboren 1932 in Halberstadt, studierte in Marburg und Frankfurt/Main Rechtswissenschaften, Geschichte und Kirchenmusik. Nach seiner Zulassung als Rechtsanwalt absolvierte er ein Volontariat bei dem Filmregisseur Fritz Lang und betätigte sich mit Erfolg als Filmemacher und literarischer Autor. Er erhielt zahlreiche Preise. So wurde Alexander Kluge 2003 der "Georg-Büchner-Preis" verliehen und 2014 der "Heine-Preis" der Landeshauptstadt Düsseldorf. "... Als wichtiger Vertreter der kritischen Theorie knüpft er an das poetische, publizistische und politische Schaffen Heinrich Heines an", so die Jury.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.01.2009

Verkünder der Untergänge

Wer den vielen Leben Heiner Müllers auf die Spur kommen will, kann sich jetzt auf die Suche machen: Die drei letzten Bände der Werkausgabe versammeln Gespräche mit dem Dramatiker aus dreißig Jahren.

Unsere Zeit hätte ihm reichlich Stoff geboten: In Pappkartons tragen entlassene Banker ihre Habseligkeiten aus New Yorker Wolkenkratzern. Übernächtigte Staatsfrauen und -männer stemmen sich graugesichtig mit Verstaatlichungen gegen drohende Staatskrisen. Von der Wolokolamsker Chaussee kommt kein Gas mehr für das frierende Europa. Und ein deutscher Milliardär, der sich verspekuliert hat, wirft sich vor den Zug. Dem 1995 verstorbenen Heiner Müller wäre zu den realen Dramen der Gegenwart einiges eingefallen, vielleicht aber nicht gerade dem Dramatiker Müller. Denn "in der großen Aktualität sieht man nichts mehr", begründete er gelegentlich seine ästhetische Zurückhaltung. Dem intellektuellen Chefkommentator Müller jedoch hätte man derzeit in den Medien kaum entkommen können. Angesichts des momentanen Schweigens all jener Autoren, die ansonsten um keine laute Meinung verlegen sind, müssten aber selbst die größten Müller-Skeptiker seine bedeutungsschwanger vernuschelten Deutungen der Lage vermissen. Durs Grünbein hatte seinem Entdecker einst in dieser Zeitung nachgerufen: "Sein Zynismus war Güte / Weil er die Untergänge bekanntgab, die Katastrophen / Von denen der Hausfrieden schwieg." Heiner Müller wäre heute achtzig Jahre alt geworden.

Wer seinen verschiedenen Leben auf die Spur kommen will, kann sich jetzt in einem gigantischen Steinbruch auf die Suche machen. Die drei letzten Bände der bei Suhrkamp erscheinenden Werkausgabe präsentieren auf dreitausend Seiten 175 Gespräche mit dem Dramatiker aus den Jahren 1965 bis 1995, darunter siebzehn unveröffentlichte aus dem Nachlass, allesamt leider zu spärlich kommentiert. Bekannte Gespräche sind abermals abgedruckt, so mit Alexander Kluge, André Müller oder Sylvère Lotringer, aber man findet auch Werkstattgespräche mit Regisseuren oder Deutschlehrern. In den drei Jahrzehnten geht Müller den Weg vom in der DDR verbotenen Dramatiker, der allmählich in der Bundesrepublik entdeckt wird, zum weltweit gespielten Autor, der den Büchnerpreis (West) und den Nationalpreis (Ost) erhält, als Regisseur reüssiert und schließlich 1990 Präsident der Ostberliner Akademie der Künste wird. Da ist er längst zur einzigen gesamtdeutschen Kunstikone geworden, bis hin zur Selbstparodie mit notorischer Zigarre und Whiskyglas ausstaffiert.

In den Gesprächen trifft man auf unendlich viel Theaterhistorie und auf Müller als guten Bekannten: den Aphoristiker, den Geschichtsmystiker, den Intellektuellen mit Lust an Paradoxien, Gegensätzen, Anekdoten und Sottisen. Er lästert mit Frank Castorf über Peter Zadek. Er ist der Seher, der schon 1991 weiß: "Es ist eine Illusion, anzunehmen, dass der Krieg vorbei ist. Vielleicht ist die Nachkriegsperiode vorbei, aber jetzt beginnt wieder mindestens eine Vorkriegsperiode." Und der unorthodoxe Linke, der 1983 die Angst vor dem dritten Weltkrieg nicht versteht und als Künstler sein "Einverständnis mit der Welt" zu Protokoll gibt.

Müllers Helden tauchen häufig auf: natürlich Shakespeare und Brecht, Marx, Stalin und Hitler; schließlich auch Tacitus und Ovid, Ernst Jünger und Carl Schmitt. Und selten auch sein großer Gegner: Peter Hacks, der sich bei Müllers Ausschluss aus dem DDR-Schriftstellerverband 1961 als einziger der Stimme enthalten hatte. Hacks, "der Monarchist", baue sich "sein privates Weimar auf und erkläre das dann für allgemeinverbindlich", moniert Müller 1974, als die persönlichen und ästhetischen Gegensätze bereits unüberbrückbar waren. "Wir verabscheuen uns mit Respekt", bekennt er noch 1990. Das Jahrhundert der Extreme hat ihn nicht losgelassen, so wenig wie seine Jahrgangsgenossen Jürgen Habermas, Walter Kempowski, Christa Wolf oder Werner Tübke. Alles drehte sich sich bei Müller um die deutsche Vergangenheit, mit Schlachten, Blut und Ideologien. Das Jahr 1945 war daher "ein großes Erlebnis für mich": "Das war die schönste Zeit."

Über zwei Drittel der Gespräche stammen aus Müllers letzten acht Lebensjahren. Auch wenn es sich dabei um eine "Form von Literatur" handelt, wie Alexander Kluge jüngst meinte, ist diese Ballung auch Ausdruck einer Schaffenskrise. Ämter werden Fluch und Fluchtort zugleich: "Ich komme gar nicht zum Schreiben. Vor lauter Interviews und der Scheiße mit der Berliner Akademie der Künste, die ich am Hals habe", klagt er 1990. Die Verfertigung der Gedanken beim Reden ist für Müller Therapie und Materialsammlung. Mehr und mehr wird er zur Projektionsfläche, "weil ich jedem etwas anderes sage". Ihm gelingt das Kunststück, immer dabei zu sein und doch irgendwie dagegen.

Die öffentliche Popularität des Intellektuellen geht einher mit Müllers Verstummen als Dramatiker. Sein Poem "Mommsens Block" von 1993 kann auch als Selbstauskunft gelesen werden: "Wissend der ungeschriebene Text ist eine Wunde / aus der das Blut geht das kein Nachruhm stillt." Und noch einmal Grünbein: "Über ihm hat sich die Welle geschlossen, das Wasser / Fließt ohne ihn weiter. Sein steinernes Werk / Sinkt langsam zum Grund." Unterwasserarchäologen müssen nunmehr die dramatischen Schätze bergen.

ALEXANDER CAMMANN

Heiner Müller: "Gespräche". Bd. 1-3, hrsg. von Frank Hörnigk (Werke Band 10-12). Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 863, 1001 u. 957 S., je Band geb. 38,- [Euro], br. 28,- [Euro].

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