Agathe und ihr hünenhafter Ehemann Réjean haben das Geheimnis einer harmonischen und sinnlich erfüllenden Ehe entdeckt: großzügig akzeptierte kleine Lügen. Auch nach 20 Jahren freut sich Agathe über seine Angler-Erfolge - obwohl der mitgebrachte Fisch offensichtlich aus dem Kühlregal kommt. Als genau dieser Ehemann von einem ebensolchen Angelausflug nicht mehr heimkehrt und sein vielgeliebter Chevy Silver mitsamt dem unberührten Proviantkorb aufgefunden wird, tun sich allerdings ein paar Fragen auf. Der trauernden Agathe geht bald das Geld aus, und so fängt sie an, in einem kirmeligen Elektronikgeschäft zu arbeiten. Ihre Kollegin Debbie, eine Ex-Cheerleaderin, bringt ihr das Autofahren, das Rock-and-Roll-Tanzen und noch so manches andere bei. Gleichzeitig wird Agathe von Réjeans Autoverkäufer und, wie sich herausstellt, allerbestem Freund heimlich verfolgt. Bis der Verlorengeglaubte einigermaßen verändert plötzlich wieder vor der Tür steht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.04.2020Bin einmal kurz angeln
Michelle Winters mag nichts mehr als Laster
Das ist mal was Neues: "Mit den Jahren war die körperliche Beziehung zwischen ihnen immer mehr aufgeblüht - trotz der Banalität und Langeweile des Alltags, die jedes Paar früher oder später heimsucht." Agathe und Réjean leben in einem kanadischen Kuhdorf und scheinen gerade auf dem besten Weg, gemeinsam glücklich alt zu werden, als der Mann plötzlich verschwindet, unter dem Vorwand, nur kurz angeln gehen zu wollen. Da Réjean groß und stark ist - Brustkorb wie ein Regenfass, Hände wie Bananenbüschel -, vermutet man, er wäre freiwillig fort: ein "voluntary missing adult". Agathe vermisst diesen Obelix furchtbar und fragt sich, was zu seinem Verschwinden geführt haben könnte. War es womöglich ihre Vorliebe für englischsprachige Rockmusik, die Réjean "unglaublich dämlich" findet und ihr französischen Folk vorzieht, dessen Repertoire sie wiederum für begrenzt hält?
Der Kurzroman, der dies ulkig-kriminalistisch aufrollt, heißt "Ich bin ein Laster", und damit ist nicht etwa ein Laster im Sinne von Untugend gemeint, sondern tatsächlich ein Lastkraftwagen. "I Am a Truck" lautet der Originaltitel des Debüts der aus New Brunswick stammenden Michelle Winters. Was es damit auf sich hat, bleibt ambivalent. "Der Silverado war eine blechgewordene Metapher für Réjean", erfährt man angesichts seines verlassen aufgefundenen Pick-up-Trucks, während am Ende dieser Geschichte voller überraschender Wendungen die Einsicht dämmert, dass der Titel von weiblicher Selbstermächtigung kündet.
Mehr als vom Kampf der Geschlechter handelt das Buch aber vom Clash der Kulturen in Kanada, der nicht nur Musik betrifft, sondern auch Autos und Essgewohnheiten. Klischees werden dabei ausgekostet und auch verdreht: Käse französischer Machart ist "ohne Zweifel die Quelle des waldverseuchenden Gestanks", Hinterwäldler mit Hunden und Waffen reden Schmalspur-Englisch, bis sie sich plötzlich als Weinkenner entpuppen. Und, sonderbar: Ein Chevrolet-Händler fährt heimlich Ford.
Diese seltsam schnurrige Story, deren Handlungszeit anhand der vielzitierten Lieder von Aerosmith bis T. Rex, die Agathe als freie Frau für sich entdeckt, wohl in den Siebzigern anzusiedeln ist, hat Barbara Schaden sympathisch übersetzt und dabei zum Glück auch viele Stellen aus dem Original erhalten, die von der charakteristischen Sprachmischung zeugen: "Was machst du in deiner Freizeit?" - "Ben, je drive mon truck."
Wenn man so will, ist "Ich bin ein Laster" eine satirische Aktualisierung des in Kanada einflussreichen Romans "Two Solitudes" von Hugh MacLennan aus dem Jahr 1945, der zum Inbegriff des Streits zwischen anglo- und frankophoner Kultur im Land geworden ist. Hier wird der Streit zur Karikatur, fast wie in einem Film von Jim Jarmusch. Wenn kanadische Cowboys mit Ohren "von Muffingröße" sich bei einer Konfrontation darüber verbrüdern, dass ihr Lieblingsbuch Saint-Exupérys "Der Kleine Prinz" ist, und einer sagt: "Dites-moi, what is your favourite part of these buke?", kann die Sache nicht allzu übel ausgehen.
JAN WIELE.
Michelle Winters: "Ich bin ein Laster". Roman.
Aus dem kanadischen Englisch von Barbara Schaden. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020. 140 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Michelle Winters mag nichts mehr als Laster
Das ist mal was Neues: "Mit den Jahren war die körperliche Beziehung zwischen ihnen immer mehr aufgeblüht - trotz der Banalität und Langeweile des Alltags, die jedes Paar früher oder später heimsucht." Agathe und Réjean leben in einem kanadischen Kuhdorf und scheinen gerade auf dem besten Weg, gemeinsam glücklich alt zu werden, als der Mann plötzlich verschwindet, unter dem Vorwand, nur kurz angeln gehen zu wollen. Da Réjean groß und stark ist - Brustkorb wie ein Regenfass, Hände wie Bananenbüschel -, vermutet man, er wäre freiwillig fort: ein "voluntary missing adult". Agathe vermisst diesen Obelix furchtbar und fragt sich, was zu seinem Verschwinden geführt haben könnte. War es womöglich ihre Vorliebe für englischsprachige Rockmusik, die Réjean "unglaublich dämlich" findet und ihr französischen Folk vorzieht, dessen Repertoire sie wiederum für begrenzt hält?
Der Kurzroman, der dies ulkig-kriminalistisch aufrollt, heißt "Ich bin ein Laster", und damit ist nicht etwa ein Laster im Sinne von Untugend gemeint, sondern tatsächlich ein Lastkraftwagen. "I Am a Truck" lautet der Originaltitel des Debüts der aus New Brunswick stammenden Michelle Winters. Was es damit auf sich hat, bleibt ambivalent. "Der Silverado war eine blechgewordene Metapher für Réjean", erfährt man angesichts seines verlassen aufgefundenen Pick-up-Trucks, während am Ende dieser Geschichte voller überraschender Wendungen die Einsicht dämmert, dass der Titel von weiblicher Selbstermächtigung kündet.
Mehr als vom Kampf der Geschlechter handelt das Buch aber vom Clash der Kulturen in Kanada, der nicht nur Musik betrifft, sondern auch Autos und Essgewohnheiten. Klischees werden dabei ausgekostet und auch verdreht: Käse französischer Machart ist "ohne Zweifel die Quelle des waldverseuchenden Gestanks", Hinterwäldler mit Hunden und Waffen reden Schmalspur-Englisch, bis sie sich plötzlich als Weinkenner entpuppen. Und, sonderbar: Ein Chevrolet-Händler fährt heimlich Ford.
Diese seltsam schnurrige Story, deren Handlungszeit anhand der vielzitierten Lieder von Aerosmith bis T. Rex, die Agathe als freie Frau für sich entdeckt, wohl in den Siebzigern anzusiedeln ist, hat Barbara Schaden sympathisch übersetzt und dabei zum Glück auch viele Stellen aus dem Original erhalten, die von der charakteristischen Sprachmischung zeugen: "Was machst du in deiner Freizeit?" - "Ben, je drive mon truck."
Wenn man so will, ist "Ich bin ein Laster" eine satirische Aktualisierung des in Kanada einflussreichen Romans "Two Solitudes" von Hugh MacLennan aus dem Jahr 1945, der zum Inbegriff des Streits zwischen anglo- und frankophoner Kultur im Land geworden ist. Hier wird der Streit zur Karikatur, fast wie in einem Film von Jim Jarmusch. Wenn kanadische Cowboys mit Ohren "von Muffingröße" sich bei einer Konfrontation darüber verbrüdern, dass ihr Lieblingsbuch Saint-Exupérys "Der Kleine Prinz" ist, und einer sagt: "Dites-moi, what is your favourite part of these buke?", kann die Sache nicht allzu übel ausgehen.
JAN WIELE.
Michelle Winters: "Ich bin ein Laster". Roman.
Aus dem kanadischen Englisch von Barbara Schaden. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020. 140 S., geb., 18,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensent Stefan Michalzik hält Michelle Winters' Roman für außerordentlich stark. Schon dass die Autorin klischeefrei von starken Männern und Autos im "wilden" Kanada zu erzählen vermag, scheint ihm bemerkenswert. Die in den 70er und 80ern spielende Story um das plötzliche Verschwinden eines Ehemannes findet Michalzik pointiert und gekonnt mit Rückblenden und kriminalistisch gelegten Spuren spielend erzählt. Spannend, atmosphärisch und von untergründigem Witz, meint Michalzik.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Winters packt viel Charme in diese kurze, sehr menschliche Geschichte. Sie hat ein großes Talent für lebendige, teilweise absurde Details und verwandelt Alltägliches in Magie.« The Globe and Mail