Johann Wolfgang von Goethe ist ernst zu nehmen, wenn er sich einen "Plastiker" nennt. Den Begriff Plastik versteht er vom griechischen Wortursprung her: plassein = bilden, formen, gestalten. Er modellierte selbst. Als Denkmalsentwerfer, Berater von Johann Gottfried Schadow, Christian Friedrich Tieck und Freund von Christian Daniel Rauch, als Dichter mit eigenen Skulpturimaginationen und als Morphologe mit einem dynamischen Formbegriff sind Selbstbildung und Weltverantwortung seine Themen. Diese Studie behandelt erstmals Goethes Engagement für die Plastik integral und deckt damit auch seine ungeschriebene Skulpturästhetik auf. Was bedeuten ihm "sinnliche Kunstgesetze", was die Einheit von "Sprache und Plastik", Rhythmus, Metamorphose, was Bildungskraft und "organisches Ganzes"? Wie gezeigt wird, haben diese Stichworte auch moderne Bildhauer - unter anderem Andreu Alfaro, Joseph Beuys, Eduardo Chillida, Ewald Mataré oder Henry Moore - interessiert.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Diese Studie von Christa Lichtenstern muss sich nicht in den "Regalkilometern" an Goethe-Literatur verstecken, versichert Rezensent Stefan Trinks. Denn tatsächlich widmet sich Lichtenstern, emeritierte Direktorin des Kunstgeschichtlichen Instituts der Uni Saarland, einem bisher wenig beachteten Aspekt der Goethe-Forschung: Dessen Interesse für das Dreidimensionale. Goethe entwarf den "Schlangenstein"-Altar in Weimar, übersetzte die Benvenuto-Cellini-Autobiografie ins Deutsche und half befreundeten Bildhauern wie Johann Gottfried Schadow oder Christian Friedrich Tieck bei der Durchsetzung ihrer Projekte, erfahren wir. Dass Goethe ein "Hyper-Influencer" der Kunstwelt um 1800 war, stellt die Autorin deutlich heraus, meint Trinks. Dass Lichtenstern von einer "ungeschriebenen Skulpturenästhetik" spricht, macht den Rezensenten zwar zunächst skeptisch, aber die Autorin löst das Versprechen ein, versichert er. Er liest hier nicht nur eine Analyse von Goethes bildhaftem Denken, sondern lernt auch dessen weitgreifenden dynamischen Formbegriff kennen, der "inneres Umformen" ebenso einschließt wie "grundlegendes Umformen des Habitats".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.03.2023Plastischer Altvater
Christa Lichtenstern findet Neues bei Goethe
Hätte Christa Lichtenstern, bis zu ihrer Emeritierung 2008 Lehrstuhlinhaberin und Direktorin des Kunstgeschichtlichen Instituts an der Universität des Saarlands, mit ihrem Buch "Ich bin ein Plastiker. Goethes ungeschriebene Skulpturästhetik" nur ein Werk über Goethe verfasst, das die Tausendsassahaftigkeit des uomo universale ein weiteres Mal herausstreicht - es könnte getrost in den Regalkilometer an Literatur über den Altvater eingestellt werden. Natürlich war Goethe bei aller Begeisterung für Flachware und ihre genuinen Optikgesetze der Wahrnehmung zeitlebens auch am Malereizwilling Sculptura interessiert: Er modellierte selbst und entwarf wiederholt Denkmäler, so etwa den ikonographisch anspruchsvollen "Schlangenstein"-Altar in Weimar mit Vergils Schlange und Brotlaib darauf. Den Renaissanceplastiker Benvenuto Cellini bewunderte er und übersetzte dessen Autobiographie ebenso ins Deutsche wie seine einflussreiche Anleitung zum "Anatomischen Zeichnen". Mit den Bildhauern Johann Gottfried Schadow, Christian Friedrich Tieck und Christian Daniel Rauch war er befreundet, half ihnen bei der Durchsetzung von Projekten, beriet sie politisch gewieft. Rauch beispielsweise assistierte er in der Frage der anmutigsten Gestaltung der marmornen Viktorien für die Walhalla des Bayernkönigs Ludwig I. wie auch der anrührendsten Formung des Mausoleums mitsamt Epitaphfigur der 1810 früh verstorbenen Königin der Herzen, Luise von Preußen, der Lady Di seiner Zeit. Im Kapitel zu Rauch erfährt man aber auch, wie Goethes Interesse für das Mittelalter nicht bereits mit der Eloge auf Erwin von Steinbach und das Straßburger Münster wieder beendet war, sondern 1814/15 mit einem ausführlichen Bericht zur Sammlung mittelalterlicher Tafelmalerei der Brüder Boisserée abermals entflammte. Im Jahr 1816 ersann er einen Entwurf für den Einband der Zeitschrift "Kunst und Alterthum in den Rhein- und Mayngegenden", der die Sonne der Aufklärung auf dem Frontispiz zu beiden Seiten von gotischen Gewändefiguren einfasste, 1824 folgte gar ein eigener Text zu den romanischen Externsteinen bei Horn. Kurzum: Wer alles Faktische über Goethes Skulptur-Engagements als Hyper-Influencer der Kunstwelt um 1800 erfahren will, ist mit dem Buch bestens informiert.
Doch würden üblicherweise bei einer im Titel behaupteten "ungeschriebenen Skulpturenästhetik" alle Alarmglocken läuten. Wenn wichtig, warum nur hat Goethe sie nicht zu Papier gebracht? Wie Michelangelo nach eigenem Bekunden auf sein plastisches "Reimen in Formen" in Gestalt Hunderter von Sonetten ebenso stolz wie auf seine Skulpturen war, ist auch Goethe ernst zu nehmen, wenn er sich selbst einen Plastiker nennt. Lichtenstern analysiert daher auch sein anschaulich bildhaftes Denken, seine endogene Morphologie der Ideen als gleichsam soziale Plastik. Dieser dynamische Formbegriff greift weit: Lebenslanges inneres Ummodeln durch Selbstbildung und politische "Weltverantwortung", also grundlegendes Umformen des Habitats - in diesem Fall Thüringen - à la Faust II, gehören integral dazu. Goethes "sinnliche Kunstgesetze", die Einheit von "Sprache und Plastik", die Rhythmisierung meist harter Skulpturenmaterie spielen eine essenzielle Rolle, der Begriff der Metamorphose wird von der Verwandlung des Materials hin zur Skulpteur wie auch Betrachter verändernden Bildungskraft im Sinne eines organischen Ganzen weitergedacht. Interessant scheint hier auch, wie Lichtenstern nach eigenem Bekunden auf das Buchprojekt stieß: über fünf moderne Bildhauer, die sich allesamt auf diese Lehren Goethes berufen, nämlich Andreu Alfaro, Ewald Mataré und sein Schüler Joseph Beuys, Eduardo Chillida sowie Henry Moore.
Beim Durchmessen der 145 konzentrierten Seiten fällt auf den ersten Blick ins Auge, wie heterogen Goethes plastische Einlassungen waren - kein Projekt gleicht dem anderen. Goethe war bekanntlich Stilpluralist, der lange vor dem Historismus einem Gänsemarsch der Stile entsagte und sich für deren freies Nebeneinander entschied. Lichtenstern macht dennoch drei Großphasen des Figurativen bei ihm aus, angefangen beim steinbachschen Idealismus über den rauchschen Klassizismus mit vielen Denkmalsentwürfen bis hin zu tieckscher Romantik gegen Ende. In skulpturalen Fragen ist der Autorin besonders zu vertrauen. Sie wurde 1976 in Frankfurt mit einer Dissertation über den Bildhauer Ossip Zadkine promoviert, ihr Stiefvater Heinz Demisch war Künstler, ihre Mutter Eva Maria schrieb über 200 Artikel zu den schönen Künsten in der F.A.Z., ihr Partner war der Bildhauer Emil Cimiotti. Am heutigen Mittwoch wird Christa Lichtenstern achtzig Jahre alt. STEFAN TRINKS
Christa Lichtenstern: "Ich bin ein Plastiker". Goethes ungeschriebene Skulpturästhetik.
Deutscher Kunstverlag, Berlin 2022. 213 S., geb., Abb., 38,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Christa Lichtenstern findet Neues bei Goethe
Hätte Christa Lichtenstern, bis zu ihrer Emeritierung 2008 Lehrstuhlinhaberin und Direktorin des Kunstgeschichtlichen Instituts an der Universität des Saarlands, mit ihrem Buch "Ich bin ein Plastiker. Goethes ungeschriebene Skulpturästhetik" nur ein Werk über Goethe verfasst, das die Tausendsassahaftigkeit des uomo universale ein weiteres Mal herausstreicht - es könnte getrost in den Regalkilometer an Literatur über den Altvater eingestellt werden. Natürlich war Goethe bei aller Begeisterung für Flachware und ihre genuinen Optikgesetze der Wahrnehmung zeitlebens auch am Malereizwilling Sculptura interessiert: Er modellierte selbst und entwarf wiederholt Denkmäler, so etwa den ikonographisch anspruchsvollen "Schlangenstein"-Altar in Weimar mit Vergils Schlange und Brotlaib darauf. Den Renaissanceplastiker Benvenuto Cellini bewunderte er und übersetzte dessen Autobiographie ebenso ins Deutsche wie seine einflussreiche Anleitung zum "Anatomischen Zeichnen". Mit den Bildhauern Johann Gottfried Schadow, Christian Friedrich Tieck und Christian Daniel Rauch war er befreundet, half ihnen bei der Durchsetzung von Projekten, beriet sie politisch gewieft. Rauch beispielsweise assistierte er in der Frage der anmutigsten Gestaltung der marmornen Viktorien für die Walhalla des Bayernkönigs Ludwig I. wie auch der anrührendsten Formung des Mausoleums mitsamt Epitaphfigur der 1810 früh verstorbenen Königin der Herzen, Luise von Preußen, der Lady Di seiner Zeit. Im Kapitel zu Rauch erfährt man aber auch, wie Goethes Interesse für das Mittelalter nicht bereits mit der Eloge auf Erwin von Steinbach und das Straßburger Münster wieder beendet war, sondern 1814/15 mit einem ausführlichen Bericht zur Sammlung mittelalterlicher Tafelmalerei der Brüder Boisserée abermals entflammte. Im Jahr 1816 ersann er einen Entwurf für den Einband der Zeitschrift "Kunst und Alterthum in den Rhein- und Mayngegenden", der die Sonne der Aufklärung auf dem Frontispiz zu beiden Seiten von gotischen Gewändefiguren einfasste, 1824 folgte gar ein eigener Text zu den romanischen Externsteinen bei Horn. Kurzum: Wer alles Faktische über Goethes Skulptur-Engagements als Hyper-Influencer der Kunstwelt um 1800 erfahren will, ist mit dem Buch bestens informiert.
Doch würden üblicherweise bei einer im Titel behaupteten "ungeschriebenen Skulpturenästhetik" alle Alarmglocken läuten. Wenn wichtig, warum nur hat Goethe sie nicht zu Papier gebracht? Wie Michelangelo nach eigenem Bekunden auf sein plastisches "Reimen in Formen" in Gestalt Hunderter von Sonetten ebenso stolz wie auf seine Skulpturen war, ist auch Goethe ernst zu nehmen, wenn er sich selbst einen Plastiker nennt. Lichtenstern analysiert daher auch sein anschaulich bildhaftes Denken, seine endogene Morphologie der Ideen als gleichsam soziale Plastik. Dieser dynamische Formbegriff greift weit: Lebenslanges inneres Ummodeln durch Selbstbildung und politische "Weltverantwortung", also grundlegendes Umformen des Habitats - in diesem Fall Thüringen - à la Faust II, gehören integral dazu. Goethes "sinnliche Kunstgesetze", die Einheit von "Sprache und Plastik", die Rhythmisierung meist harter Skulpturenmaterie spielen eine essenzielle Rolle, der Begriff der Metamorphose wird von der Verwandlung des Materials hin zur Skulpteur wie auch Betrachter verändernden Bildungskraft im Sinne eines organischen Ganzen weitergedacht. Interessant scheint hier auch, wie Lichtenstern nach eigenem Bekunden auf das Buchprojekt stieß: über fünf moderne Bildhauer, die sich allesamt auf diese Lehren Goethes berufen, nämlich Andreu Alfaro, Ewald Mataré und sein Schüler Joseph Beuys, Eduardo Chillida sowie Henry Moore.
Beim Durchmessen der 145 konzentrierten Seiten fällt auf den ersten Blick ins Auge, wie heterogen Goethes plastische Einlassungen waren - kein Projekt gleicht dem anderen. Goethe war bekanntlich Stilpluralist, der lange vor dem Historismus einem Gänsemarsch der Stile entsagte und sich für deren freies Nebeneinander entschied. Lichtenstern macht dennoch drei Großphasen des Figurativen bei ihm aus, angefangen beim steinbachschen Idealismus über den rauchschen Klassizismus mit vielen Denkmalsentwürfen bis hin zu tieckscher Romantik gegen Ende. In skulpturalen Fragen ist der Autorin besonders zu vertrauen. Sie wurde 1976 in Frankfurt mit einer Dissertation über den Bildhauer Ossip Zadkine promoviert, ihr Stiefvater Heinz Demisch war Künstler, ihre Mutter Eva Maria schrieb über 200 Artikel zu den schönen Künsten in der F.A.Z., ihr Partner war der Bildhauer Emil Cimiotti. Am heutigen Mittwoch wird Christa Lichtenstern achtzig Jahre alt. STEFAN TRINKS
Christa Lichtenstern: "Ich bin ein Plastiker". Goethes ungeschriebene Skulpturästhetik.
Deutscher Kunstverlag, Berlin 2022. 213 S., geb., Abb., 38,- Euro.
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