Sie macht sich auf in die Stadt, nach Berlin, aber sie ist nicht allein, sie hat ihre Kindheit bei sich, im Kopf, in den Erinnerungen, im flatternden Herzen. Es ist das Dorf, das sie nicht vergessen wird, niemals, die Straße, auf der sie mit der Mutter gehen musste, der Teich, an dem sie mit dem Vater saß, das Haus. Und es ist der Bruder, der engste Vertraute und Komplize ihrer frühen Jahre, mit dem sie den Sinn für Licht, Grün und Wolken teilte und mit dem sie einen Pakt geschlossen und den sie doch zurückgelassen hat. Dies ist ein Buch über den Versuch eines Neubeginns, der nicht leicht fällt, wenn das, was hinter einem liegt, fast alles hatte von dem, was man als Leben kennengelernt hat. Mit großer sprachlicher Intensität erzählt Julia Blesken in ihrem Debüt von Kinderglück und Verlorenheit, Verrat und Aufbruch, Fragilität und Mut, entwirft so eine Welt an der Schnittstelle: einprägsam und unverwechselbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.01.2010Silberkugeln, die bedeutungsschwer hängen
Geschichtsstille: Julia Bleskens Roman produziert trotz der betont emotionslosen Entrückung ziemlich viel Pathos
Die Scham über das Auto kommt mit der Wende. Dabei hatte sich der Vater beim Kauf so darüber gefreut. "Ich bin ein Rudel Wölfe", das Debüt von Julia Blesken, führt in die Geschichtsstille. Ödnis und Zerfall zersetzen diese Prosa bis in die Syntax, die nicht vorwärtskommt. Selbst in verheißungsvolleren Zeiten klingen die Sätze oft wie abgeschnitten. "Im Frühling. Die Knospen der Bäume sind aufgesprungen." Die Erzählerin heißt Re, wie "zurück", was auch ihre Stoßrichtung ist. In Berlin, wo sie mit dem Ersparten des Großvaters studieren will, hält sie es nicht aus. Marode Orte diesseits und jenseits alter Grenzlinien - es ist gleich, wohin diese Protagonistin läuft, ob in die Großstadt oder, wie hier, ins Dorf ihrer Kindheit. Sie ist ohnehin vornehmlich in der Vergangenheit unterwegs. Eine Waldläuferin ohne Orientierungssinn.
Julia Blesken, geboren 1976 in Berlin, beschreibt die "Stille der Welt" in einem stagnierenden, tief gestimmten Ton, als Abgesang, der jeden Aufbruch verhindert oder zumindest verschiebt. Volumen erhält diese fragile Prosa durch die Nebenmelodien, aus denen die Figuren hervortreten wie Gespenster. Das Hauptthema, die DDR, ordnet den Text im Hintergrund, mit unbarmherziger Selbstverständlichkeit, ohne großes Aufheben: "Wir sind draußen, sagt mein Vater, damals schon und jetzt wieder, nur dass es jetzt keinen mehr stört." Hinter diesem kleinen "nur" geht die Erzählerin in Stellung. Sie spürt Fragen nach, denen das Fragezeichen fehlt: "Hatte es einen Augenblick der Entscheidung gegeben." Oft kniet sie sich herab bis auf Kinderaugenhöhe, schildert Phantasiespiele und Rituale zwischen Bruder und Schwester, die mehr als geschwisterlich aneinander gebunden scheinen. Absatzweise verrückt so der Text in einen märchenhaften Ton, der fremd in die Gegenwart ragt wie manchmal Rappertexte von Peter Fox: "Mein Bruder hat goldenes Haar. Es schmeckt nach See."
Illusion und Realität fügen sich zu einer stimmungsstarken Erzählung, die nach und nach ihre Opfer zeigt: die Mutter, einst begnadete Klavierspielerin, die als Melkerin arbeiten muss und im Dorf vor den Augen der Kinder verkümmert; der Vater als Verlierer vor wie nach der Wende; der Bruder, der die Schule ignoriert. Statt zur FDJ geht er mit der Schwester täglich zum See, um Karpfen zu fangen. Mal ist es unausgesprochen das System, nach dem Mauerfall die vermeintliche Freiheit oder überhaupt die Provinz, die Schaden anrichten - abstrakte, gestaltlose Gewalten, die wie böse Stiefmütter wirken, unter denen das Geschwisterpärchen ängstlich niederduckt. Das Ende solcher Überforderungsgeschichten ist voraussehbar trüb - so auch hier. Tabletten und Alkohol produzieren den Eltern einen glanzlosen Schein. Drum herum schimmelt es. Julia Blesken erzählt bisweilen suggestiv von diesem Drama der Abnabelung. Das Abgleiten der Mutter in die Depression bleibt nicht nur als Einzelschicksal erkennbar, sondern eng verwoben mit den Lebensverhältnissen. Stark die Schilderung, wie sie täglich zur Haltestelle läuft, ohne in den Bus einzusteigen. "Sitzt einfach nur da, früher auf einer Holzbank, jetzt auf einem weißen Plastesitz mit Sprung."
Oft aber vertraut die Autorin ihren Bildern nicht und variiert, bis der schöne Ersteindruck zur unentschiedenen Suchbewegung verwäscht: "Zwischen den Zweigen der Kastanien der Himmel. Zartes Blau zwischen Grün. Vielleicht auch Türkis. Das Schwimmbad ist blau gekachelt. Wände, Fußboden, Becken, alles blau. Ozeanblau. Ozeanblau im grünen Licht." Oder sie lässt sich zur Artistik verführen, stellt unnötig um und betont übertrieben: "Über Wurzelstränge auf die Uferböschung zu lief Re ..." Anderes nutzt sich durch Häufung ab. Das Märchenrepertoire, die goldenen Ketten, kleinen Silberkugeln und Glöckchen nehmen bedeutungsschwer überhand. Trotz der betont emotionslosen Einrückung produziert dieser Anspielungsraum Pathos. Wendungen kippen vor allem dann, wenn Betroffenheit und Beobachtung, Teilnahme und Distanz zu eilig ineinandergreifen. Gerade in den überzeugendsten Szenen, die wirken wie hinter Glas gemalt, verstellen plötzlich die Hauptfigur und deren Empfinden die Sicht. Und wenn man in "meergrüne", "hechtgraue" und ähnlichfarbige Augenpaare blicken muss, sehnt man sich nach normalen Augenpaaren.
Sieht man über die Stellen hinweg, vermittelt sich die Verlorenheit der ausgesetzten Figuren. Im besten Fall zwängt sich der Lauf der Geschichte in dieses Debüt. "Mit der Maueröffnung seien alle Grenzen gefallen, wir gefallen, irgendwohin, er wisse selber nicht so genau, wohin, und einen Moment lang sieht es aus, als denke er wirklich darüber nach, wo wir geblieben sind."
ANJA HIRSCH
Julia Blesken: "Ich bin ein Rudel Wölfe". Roman. Jung und Jung, Salzburg 2009. 223 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Geschichtsstille: Julia Bleskens Roman produziert trotz der betont emotionslosen Entrückung ziemlich viel Pathos
Die Scham über das Auto kommt mit der Wende. Dabei hatte sich der Vater beim Kauf so darüber gefreut. "Ich bin ein Rudel Wölfe", das Debüt von Julia Blesken, führt in die Geschichtsstille. Ödnis und Zerfall zersetzen diese Prosa bis in die Syntax, die nicht vorwärtskommt. Selbst in verheißungsvolleren Zeiten klingen die Sätze oft wie abgeschnitten. "Im Frühling. Die Knospen der Bäume sind aufgesprungen." Die Erzählerin heißt Re, wie "zurück", was auch ihre Stoßrichtung ist. In Berlin, wo sie mit dem Ersparten des Großvaters studieren will, hält sie es nicht aus. Marode Orte diesseits und jenseits alter Grenzlinien - es ist gleich, wohin diese Protagonistin läuft, ob in die Großstadt oder, wie hier, ins Dorf ihrer Kindheit. Sie ist ohnehin vornehmlich in der Vergangenheit unterwegs. Eine Waldläuferin ohne Orientierungssinn.
Julia Blesken, geboren 1976 in Berlin, beschreibt die "Stille der Welt" in einem stagnierenden, tief gestimmten Ton, als Abgesang, der jeden Aufbruch verhindert oder zumindest verschiebt. Volumen erhält diese fragile Prosa durch die Nebenmelodien, aus denen die Figuren hervortreten wie Gespenster. Das Hauptthema, die DDR, ordnet den Text im Hintergrund, mit unbarmherziger Selbstverständlichkeit, ohne großes Aufheben: "Wir sind draußen, sagt mein Vater, damals schon und jetzt wieder, nur dass es jetzt keinen mehr stört." Hinter diesem kleinen "nur" geht die Erzählerin in Stellung. Sie spürt Fragen nach, denen das Fragezeichen fehlt: "Hatte es einen Augenblick der Entscheidung gegeben." Oft kniet sie sich herab bis auf Kinderaugenhöhe, schildert Phantasiespiele und Rituale zwischen Bruder und Schwester, die mehr als geschwisterlich aneinander gebunden scheinen. Absatzweise verrückt so der Text in einen märchenhaften Ton, der fremd in die Gegenwart ragt wie manchmal Rappertexte von Peter Fox: "Mein Bruder hat goldenes Haar. Es schmeckt nach See."
Illusion und Realität fügen sich zu einer stimmungsstarken Erzählung, die nach und nach ihre Opfer zeigt: die Mutter, einst begnadete Klavierspielerin, die als Melkerin arbeiten muss und im Dorf vor den Augen der Kinder verkümmert; der Vater als Verlierer vor wie nach der Wende; der Bruder, der die Schule ignoriert. Statt zur FDJ geht er mit der Schwester täglich zum See, um Karpfen zu fangen. Mal ist es unausgesprochen das System, nach dem Mauerfall die vermeintliche Freiheit oder überhaupt die Provinz, die Schaden anrichten - abstrakte, gestaltlose Gewalten, die wie böse Stiefmütter wirken, unter denen das Geschwisterpärchen ängstlich niederduckt. Das Ende solcher Überforderungsgeschichten ist voraussehbar trüb - so auch hier. Tabletten und Alkohol produzieren den Eltern einen glanzlosen Schein. Drum herum schimmelt es. Julia Blesken erzählt bisweilen suggestiv von diesem Drama der Abnabelung. Das Abgleiten der Mutter in die Depression bleibt nicht nur als Einzelschicksal erkennbar, sondern eng verwoben mit den Lebensverhältnissen. Stark die Schilderung, wie sie täglich zur Haltestelle läuft, ohne in den Bus einzusteigen. "Sitzt einfach nur da, früher auf einer Holzbank, jetzt auf einem weißen Plastesitz mit Sprung."
Oft aber vertraut die Autorin ihren Bildern nicht und variiert, bis der schöne Ersteindruck zur unentschiedenen Suchbewegung verwäscht: "Zwischen den Zweigen der Kastanien der Himmel. Zartes Blau zwischen Grün. Vielleicht auch Türkis. Das Schwimmbad ist blau gekachelt. Wände, Fußboden, Becken, alles blau. Ozeanblau. Ozeanblau im grünen Licht." Oder sie lässt sich zur Artistik verführen, stellt unnötig um und betont übertrieben: "Über Wurzelstränge auf die Uferböschung zu lief Re ..." Anderes nutzt sich durch Häufung ab. Das Märchenrepertoire, die goldenen Ketten, kleinen Silberkugeln und Glöckchen nehmen bedeutungsschwer überhand. Trotz der betont emotionslosen Einrückung produziert dieser Anspielungsraum Pathos. Wendungen kippen vor allem dann, wenn Betroffenheit und Beobachtung, Teilnahme und Distanz zu eilig ineinandergreifen. Gerade in den überzeugendsten Szenen, die wirken wie hinter Glas gemalt, verstellen plötzlich die Hauptfigur und deren Empfinden die Sicht. Und wenn man in "meergrüne", "hechtgraue" und ähnlichfarbige Augenpaare blicken muss, sehnt man sich nach normalen Augenpaaren.
Sieht man über die Stellen hinweg, vermittelt sich die Verlorenheit der ausgesetzten Figuren. Im besten Fall zwängt sich der Lauf der Geschichte in dieses Debüt. "Mit der Maueröffnung seien alle Grenzen gefallen, wir gefallen, irgendwohin, er wisse selber nicht so genau, wohin, und einen Moment lang sieht es aus, als denke er wirklich darüber nach, wo wir geblieben sind."
ANJA HIRSCH
Julia Blesken: "Ich bin ein Rudel Wölfe". Roman. Jung und Jung, Salzburg 2009. 223 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.04.2010Und ewig lockt das dunkel wehende Haar
„Wolken. Windsbraut. Woge. Wortgepränge”: Julia Blesken erzählt von der ostdeutschen Provinz und einer beinahe inzestuösen Geschwisterliebe
Das hatten wir noch nicht: einen Nachwenderoman in Tateinheit mit einem Provinzgemälde, einer Kindheitsgeschichte und der Schilderung einer fast-inzestuösen Geschwisterliebe. Das Ganze in einer ebenso abgezirkelten wie wortschwelgerischen Prosa mit lyrischer Anmutung und märchenhaften Anklängen – und überdies aus der Feder einer jungen Westdeutschen, die sich in die Erinnerungs- und Gefühlswelt einer jungen Ostdeutschen hineinversetzt. Der begabte Autorinnennachwuchs, an dem es bei uns offenkundig nicht mangelt, muss halt schauen, wo noch was geht. Kann doch kein Debütant heutzutage mehr die Augen verschließen vor dem defätistischen Diktum Karl Valentins, es sei eigentlich schon alles gesagt, nur noch nicht von einem jeden.
Der Gerechtigkeit halber sei erwähnt, dass Julia Blesken, Jahrgang 1976, in West-Berlin geboren und aufgewachsen, bei der Arbeit an ihrem ersten Roman von einem starken inneren Drang beseelt war. Gleich nach der Maueröffnung, verriet sie in einem Gespräch, habe ihre Familie sich ins Auto gesetzt, großstadtmüde, hungrig nach Himmel, Landschaft und Weite, um in einem sachsen-anhaltinischen Dorf einen Bauernhof zu kaufen und in eine fremde Lebenswirklichkeit einzutauchen. Das Bedürfnis, über jenes Dorf zu schreiben, dort Erlebtes, Gehörtes und Beobachtetes weiterzuspinnen, sei im Laufe der Jahre in ihr zur zwingenden Notwendigkeit herangereift. Mit Hilfe eines umsichtigen Lektorats wurde aus sieben Erzählungen ein Roman gebastelt, dessen Titel wie der ultimative Abgesang auf das ironische Zeitalter klingt: „Ich bin ein Rudel Wölfe” scheint vom vulgären „Ich bin ein Star, holt mich hier raus” und dem unsterblich gewordenen „Ich war eine Dose” geradewegs zurückzuführen zum alttestamentarischen „Ich bin eine Blume zu Saron”.
Julia Blesken sucht ihre Metaphern mit Vorliebe in der Fauna, aber ihr Pathos strebt ins Archaische, wenn sie schreibt: „Ich bin ein Kiebitz, mein Bruder ein Gleitaar.” Oder, leicht abstürzend: "Ich bin ein Marder, sagt mein Bruder. Ich bin eine Schnirkelschnecke, sage ich, weil ich das Wort so mag.”
Die beiden Wörter, die man als Leser schon nach wenigen Seiten überhaupt nicht mehr mag, weil ihre litaneiartige Wiederholung eher zwanghaft als poetisch wirkt, lauten „mein Bruder”. Das Verwendungsspektrum reicht vom saloppen „Alles Quatsch, sagt mein Bruder” bis zu traklhaften Manierismen wie „Nachtschattig das Haar meines Bruders und fremd”, aber bei der Frage der Dosierung hat das Lektorat eindeutig versagt. Da darf man schon froh sein, dass die Schwester nicht durchgehend aus der Ich-Perspektive erzählt, sondern immer wieder in der dritten Person auftritt und dann vom Bruder zur Abwechslung als „Marc” spricht. Omnipräsent ist er aber auch in diesen Passagen, die vom Aufbruch einer jungen Dörflerin in die Großstadt Berlin handeln. Und von ihrer resignierten Rückkehr, dem Unvermögen, in der Fremde und in der Zukunft Fuß zu fassen, auf das ihr aparter Vorname „Re” so einsilbig wie symbolträchtig hinweist.
Wenn eine Westberlinerin, die zum Zeitpunkt des Mauerfalls gerade dreizehn war, sich das Innenleben einer ostdeutschen Studienanfängerin anverwandelt, die im Winter 1990/91 aus der Provinz in die Metropole, aus einem geschlossenen System in die verheißungsvolle Freiheit gelangt und keine Orientierung findet, dann darf man getrost von einem literarischen Wagnis sprechen. Es erfordert einiges an Courage, sich als Tochter westlicher Immobilienkäufer in eine DDR-Kindheit auf dem Lande hineinzudenken und sich vorzustellen, wie das entlegene Dorf, von dem die Romanheldin nicht loskommt, nach der politischen Wende in Stagnation versinkt und aus der Zeit fällt, wie eine Familie, die schon zu DDR-Zeiten eine Außenseiterrolle spielte, in den Verliererstatus abgleitet und, als Folge davon, in Depression und Alkoholismus, Verwirrung und Verweigerung.
Julia Blesken hat Geschichte studiert, sie hat sich ortskundig gemacht in einer offenbar intakt gebliebenen Landschaft, und sie hat gewissenhaft ein Minimum an DDR-Folklore in ihren Text eingearbeitet: LPG, Kolchose, Konsum, Plaste. Aber sie hat – zum Glück – nicht im Ernst versucht, eine Realität zu beschreiben, die sie nie erlebt hat. Ihre Erzählung ist in einem geschichtsfernen Raum angesiedelt, den die Insignien einer (noch) angesagten Thematik kulissenhaft dekorieren. Und die Figuren sind Stereotypen, die man in einem Nachwende-Problem-Unterhaltungsfilm so leicht wie beliebig besetzen könnte.
Die strenge Großmutter und der liebevolle Großvater, der im Lauf der Handlung das Zeitliche segnet, sind einst aus Ostpreußen geflohen. Die schöne Mutter ist von der Pianistin zur Melkerin abgestiegen und im Dorf stets fremd geblieben, was sich irgendwann auf ihren Geisteszustand niederschlägt. Der ebenfalls schöne Vater, trunksüchtig aus Frust, hat nach der Maueröffnung seine Arbeit als Traktorist verloren, dafür sein volles Haar behalten. Der Bruder, dessen Haar mal „nachtschattig” ist und mal „golden wie der Ring meiner Großmutter”, schwänzt die Schule und die FDJ und kriegt natürlich auch später kein Bein an den Grund. Vor allem aber hat er eine extrem kitschgefährdete Beziehung zu seiner Schwester, die gern sein Haar in den Mund nimmt – „kleine goldene Speere, der Geschmack nach See” – und ihrerseits mit „nachtschwarzem, schattenlosem Haar” aufwarten kann, „so schwarz wie der Teer, der uns im Sommer an den Beinen kleben bleibt”.
Julia Blesken verfügt über eine sprachliche Kunstfertigkeit, die zunächst beeindruckt, doch bald schon langweilt, weil sie noch die belanglosesten Dinge mit pseudo-poetischer Überwertigkeit versieht oder in einen raunenden Märchenton hüllt. Wenn die Großmutter von ihrem guten Portwein einschenkt, wird nicht einfach angestoßen, sondern: „Die Gläser klingen kurz und hell und schneiden die Luft, die zwischen uns bewegt wird, als wäre sie stofflich, schwer und weich.” Auch die scharf geschnittene Nase der Mutter „schneidet die Luft”. Das Raunen steigert sich immer wieder zu elliptischen Sätzen nach dem Muster: „Die Stimme meines Bruders wie Samt”. Oder es erstirbt in bedeutungsschweren Substantivketten wie „Glück. Goldhaar. Gnade. Gottesfurcht”, oder auch „Wolken. Windsbraut. Woge. Wortgepränge”.
Am Ende folgt die Erzählerin einem geheimnisvollen Mann, dessen „dunkel wehendes Haar” sie magisch anzieht. Kurz bevor das Heimatdorf erreicht ist, schwingt das Mädchen Re, aus Berlin kommend, sich den leicht stilbrüchigen „orangenen Plastebeutel” über die Schulter und steigt in den Zug, den der Fremde nimmt. Offenbar fährt der wieder nach Berlin. Und der Leser, des hohen Tones überdrüssig, findet Zuflucht bei dem profanen Gedanken: „Wenn das mal nicht nach hinten losgeht.” KRISTINA MAIDT-ZINKE
JULIA BLESKEN: Ich bin ein Rudel Wölfe. Roman. Verlag Jung und Jung, Salzburg 2009. 223 Seiten, 20 Euro.
Eine strenge Großmama, schöne Eltern – was will man mehr?
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
„Wolken. Windsbraut. Woge. Wortgepränge”: Julia Blesken erzählt von der ostdeutschen Provinz und einer beinahe inzestuösen Geschwisterliebe
Das hatten wir noch nicht: einen Nachwenderoman in Tateinheit mit einem Provinzgemälde, einer Kindheitsgeschichte und der Schilderung einer fast-inzestuösen Geschwisterliebe. Das Ganze in einer ebenso abgezirkelten wie wortschwelgerischen Prosa mit lyrischer Anmutung und märchenhaften Anklängen – und überdies aus der Feder einer jungen Westdeutschen, die sich in die Erinnerungs- und Gefühlswelt einer jungen Ostdeutschen hineinversetzt. Der begabte Autorinnennachwuchs, an dem es bei uns offenkundig nicht mangelt, muss halt schauen, wo noch was geht. Kann doch kein Debütant heutzutage mehr die Augen verschließen vor dem defätistischen Diktum Karl Valentins, es sei eigentlich schon alles gesagt, nur noch nicht von einem jeden.
Der Gerechtigkeit halber sei erwähnt, dass Julia Blesken, Jahrgang 1976, in West-Berlin geboren und aufgewachsen, bei der Arbeit an ihrem ersten Roman von einem starken inneren Drang beseelt war. Gleich nach der Maueröffnung, verriet sie in einem Gespräch, habe ihre Familie sich ins Auto gesetzt, großstadtmüde, hungrig nach Himmel, Landschaft und Weite, um in einem sachsen-anhaltinischen Dorf einen Bauernhof zu kaufen und in eine fremde Lebenswirklichkeit einzutauchen. Das Bedürfnis, über jenes Dorf zu schreiben, dort Erlebtes, Gehörtes und Beobachtetes weiterzuspinnen, sei im Laufe der Jahre in ihr zur zwingenden Notwendigkeit herangereift. Mit Hilfe eines umsichtigen Lektorats wurde aus sieben Erzählungen ein Roman gebastelt, dessen Titel wie der ultimative Abgesang auf das ironische Zeitalter klingt: „Ich bin ein Rudel Wölfe” scheint vom vulgären „Ich bin ein Star, holt mich hier raus” und dem unsterblich gewordenen „Ich war eine Dose” geradewegs zurückzuführen zum alttestamentarischen „Ich bin eine Blume zu Saron”.
Julia Blesken sucht ihre Metaphern mit Vorliebe in der Fauna, aber ihr Pathos strebt ins Archaische, wenn sie schreibt: „Ich bin ein Kiebitz, mein Bruder ein Gleitaar.” Oder, leicht abstürzend: "Ich bin ein Marder, sagt mein Bruder. Ich bin eine Schnirkelschnecke, sage ich, weil ich das Wort so mag.”
Die beiden Wörter, die man als Leser schon nach wenigen Seiten überhaupt nicht mehr mag, weil ihre litaneiartige Wiederholung eher zwanghaft als poetisch wirkt, lauten „mein Bruder”. Das Verwendungsspektrum reicht vom saloppen „Alles Quatsch, sagt mein Bruder” bis zu traklhaften Manierismen wie „Nachtschattig das Haar meines Bruders und fremd”, aber bei der Frage der Dosierung hat das Lektorat eindeutig versagt. Da darf man schon froh sein, dass die Schwester nicht durchgehend aus der Ich-Perspektive erzählt, sondern immer wieder in der dritten Person auftritt und dann vom Bruder zur Abwechslung als „Marc” spricht. Omnipräsent ist er aber auch in diesen Passagen, die vom Aufbruch einer jungen Dörflerin in die Großstadt Berlin handeln. Und von ihrer resignierten Rückkehr, dem Unvermögen, in der Fremde und in der Zukunft Fuß zu fassen, auf das ihr aparter Vorname „Re” so einsilbig wie symbolträchtig hinweist.
Wenn eine Westberlinerin, die zum Zeitpunkt des Mauerfalls gerade dreizehn war, sich das Innenleben einer ostdeutschen Studienanfängerin anverwandelt, die im Winter 1990/91 aus der Provinz in die Metropole, aus einem geschlossenen System in die verheißungsvolle Freiheit gelangt und keine Orientierung findet, dann darf man getrost von einem literarischen Wagnis sprechen. Es erfordert einiges an Courage, sich als Tochter westlicher Immobilienkäufer in eine DDR-Kindheit auf dem Lande hineinzudenken und sich vorzustellen, wie das entlegene Dorf, von dem die Romanheldin nicht loskommt, nach der politischen Wende in Stagnation versinkt und aus der Zeit fällt, wie eine Familie, die schon zu DDR-Zeiten eine Außenseiterrolle spielte, in den Verliererstatus abgleitet und, als Folge davon, in Depression und Alkoholismus, Verwirrung und Verweigerung.
Julia Blesken hat Geschichte studiert, sie hat sich ortskundig gemacht in einer offenbar intakt gebliebenen Landschaft, und sie hat gewissenhaft ein Minimum an DDR-Folklore in ihren Text eingearbeitet: LPG, Kolchose, Konsum, Plaste. Aber sie hat – zum Glück – nicht im Ernst versucht, eine Realität zu beschreiben, die sie nie erlebt hat. Ihre Erzählung ist in einem geschichtsfernen Raum angesiedelt, den die Insignien einer (noch) angesagten Thematik kulissenhaft dekorieren. Und die Figuren sind Stereotypen, die man in einem Nachwende-Problem-Unterhaltungsfilm so leicht wie beliebig besetzen könnte.
Die strenge Großmutter und der liebevolle Großvater, der im Lauf der Handlung das Zeitliche segnet, sind einst aus Ostpreußen geflohen. Die schöne Mutter ist von der Pianistin zur Melkerin abgestiegen und im Dorf stets fremd geblieben, was sich irgendwann auf ihren Geisteszustand niederschlägt. Der ebenfalls schöne Vater, trunksüchtig aus Frust, hat nach der Maueröffnung seine Arbeit als Traktorist verloren, dafür sein volles Haar behalten. Der Bruder, dessen Haar mal „nachtschattig” ist und mal „golden wie der Ring meiner Großmutter”, schwänzt die Schule und die FDJ und kriegt natürlich auch später kein Bein an den Grund. Vor allem aber hat er eine extrem kitschgefährdete Beziehung zu seiner Schwester, die gern sein Haar in den Mund nimmt – „kleine goldene Speere, der Geschmack nach See” – und ihrerseits mit „nachtschwarzem, schattenlosem Haar” aufwarten kann, „so schwarz wie der Teer, der uns im Sommer an den Beinen kleben bleibt”.
Julia Blesken verfügt über eine sprachliche Kunstfertigkeit, die zunächst beeindruckt, doch bald schon langweilt, weil sie noch die belanglosesten Dinge mit pseudo-poetischer Überwertigkeit versieht oder in einen raunenden Märchenton hüllt. Wenn die Großmutter von ihrem guten Portwein einschenkt, wird nicht einfach angestoßen, sondern: „Die Gläser klingen kurz und hell und schneiden die Luft, die zwischen uns bewegt wird, als wäre sie stofflich, schwer und weich.” Auch die scharf geschnittene Nase der Mutter „schneidet die Luft”. Das Raunen steigert sich immer wieder zu elliptischen Sätzen nach dem Muster: „Die Stimme meines Bruders wie Samt”. Oder es erstirbt in bedeutungsschweren Substantivketten wie „Glück. Goldhaar. Gnade. Gottesfurcht”, oder auch „Wolken. Windsbraut. Woge. Wortgepränge”.
Am Ende folgt die Erzählerin einem geheimnisvollen Mann, dessen „dunkel wehendes Haar” sie magisch anzieht. Kurz bevor das Heimatdorf erreicht ist, schwingt das Mädchen Re, aus Berlin kommend, sich den leicht stilbrüchigen „orangenen Plastebeutel” über die Schulter und steigt in den Zug, den der Fremde nimmt. Offenbar fährt der wieder nach Berlin. Und der Leser, des hohen Tones überdrüssig, findet Zuflucht bei dem profanen Gedanken: „Wenn das mal nicht nach hinten losgeht.” KRISTINA MAIDT-ZINKE
JULIA BLESKEN: Ich bin ein Rudel Wölfe. Roman. Verlag Jung und Jung, Salzburg 2009. 223 Seiten, 20 Euro.
Eine strenge Großmama, schöne Eltern – was will man mehr?
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
In den besten Momenten hat sich tatsächlich der Lauf der Geschichte in dieses Debüt von Julia Blesken gezwängt, meint Rezensentin Anja Hirsch, die sehr beeindruckt wirkt, wenn auch nicht ganz hundertprozentig überzeugt. Meist erscheint ihr diese Erzählung, die von einer Familie im Osten erzählt, die es vor und nach der Wende gleichermaßen schlecht getroffen hat, "stimmungsstark", wenn Illusion und Realität sich ineinanderfügen. Sehr suggestiv erzählt Blesken dann von einer depressiven Mutter, die statt als Pianistin als Melkerin arbeitet, von einem Bruder, der statt in die FDJ Karpfenfischen geht und einem Vater, der meint, heute wie in der DDR außen vor zu bleiben, "nur dass es heute niemanden mehr stört". Doch oft übertreibe die Autorin ihre sprachliche Artistik, variiere über jedes einzelnes Augenpaar ("hechtgrau", "meergrün") und verspiele damit Überzeugungskraft.
© Perlentaucher Medien GmbH
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