"ich bin in der Anstalt" nennt Friederike Mayröcker, die "Grande Dame der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur" (Süddeutsche Zeitung), ihre neue Prosaschrift - ein Buch der Betrachtungen von Körperlichkeit und Körperempfinden, ein Tasten nach den ständig sich verschiebenden Grenzen von Innen und Außen, ein Versuch ihrer Auflösung im Moment des Schreibens, radikal und schonungslos.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.09.2010Wollen Sie mit mir über Tränen sprechen?
Posaunenseligkeit: Nüchtern und mit geradezu klinischer Neugier denkt Friederike Mayröcker in ihren jüngsten Notaten über den körperlichen Verfall nach - und setzt ihm die Erinnerungen und die Freundschaften entgegen.
Tränen werden in diesen Aufzeichnungen häufig vergossen, Tränen der Sehnsucht, der Trauer, der Entbehrung und der Liebe. Als kritische Beobachterin ihrer selbst gibt Friederike Mayröcker gewissenhaft Zeugnis von Tränenströmen, die in ihrem fünfundachtzigsten Lebensjahr geflossen sind. Dass dieses Zeugnis trotz der Vielzahl von Tränen aber niemals larmoyant oder wehleidig wird, ist der Sprachkraft und der unbestechlichen Selbstbeobachtung dieser großen Dichterin zu verdanken.
In ihrem jüngsten Buch versammelt Friederike Mayröcker Notate aus dem Zeitraum von Dezember 2008 bis November 2009, die sie so experimentierfreudig und stilsicher wie nur immer als "Fusznoten zu einem nichtgeschriebenen Werk" verstanden wissen will. Es ist nichts Geringeres als das Leben selbst, worauf sich diese zweihundertdreiundvierzig Miniaturen beziehen, aber es ist zugleich auch die Literatur, und wie eigentlich immer bei Friederike Mayröcker kann man das eine nicht wirklich vom anderen trennen. So sind es längst nicht nur ihre eigenen Tränen, von denen sie in diesen Aufzeichnungen berichtet. Vielmehr reflektiert sie stets auch die Frage, ob überhaupt eine authentische, angemessene Sprache für Persönlichstes möglich ist.
Gewährsmänner für ihr Projekt einer schonungslosen Selbsterkundung findet sie bei dem Kirchenvater Augustin und seinen "Bekenntnissen" sowie dem französischen Philosophen Jacques Derrida, dessen Texte, insbesondere seine autobiographischen Schriften, Friederike Mayröcker faszinieren. Gleich zu Beginn zitiert sie eine Frage Derridas, die sich leitmotivisch durch das gesamte Buch zieht: "Wollen Sie mit mir über Tränen sprechen?"
Ja, nur zu gern will Friederike Mayröcker darüber sprechen, aber auch noch über so vieles andere, über ihre Kindheit, die Erinnerung an die Mutter und das "tiefe Blau ihrer Augen Vergiszmeinnicht Stiefmütterchen Blau", über die fortdauernde Liebe zu ihrem Lebenspartner Ernst Jandl, dessen Tod mittlerweile zehn Jahre zurückliegt, über Begegnungen mit Freunden, über ihre Lektüre und über die verstörenden Erfahrungen des Alterns.
Mehrfach muss Friederike Mayröcker während dieses Jahres zur Behandlung ins Krankenhaus. "Ich bin in der Anstalt" lautet der Refrain, den sie programmatisch als Titel für dieses Buch gewählt hat. Doch ob im Krankenhausbett oder daheim bei ihren Büchern, Zetteln und Erinnerungsstücken: Nüchtern und mit geradezu klinischer Neugier notiert Friederike Mayröcker die körperlichen Veränderungen, die sie an sich wahrnimmt, den "stallartigen" eigenen Geruch beim morgendlichen Aufwachen, die zunehmenden Flecken auf der Haut, die anhaltende "Hartleibigkeit" und die Schwierigkeiten beim Wasserlassen, "Körperquälereien" das alles.
Vor allem das eigene Gesicht unter den schwarzen Ponyfransen wird zum Feld unerbittlicher Reflexionen: "mein massives derbes Gesicht im Spiegel, ich empfinde Abscheu und Scham. Was war geschehen was hatten die Jahre mit meinem Gesicht gemacht, die ALTERSBÄCKCHEN der unfreie Gang, übriggeblieben nur der triste Blick, ich rühre mich nicht mehr an, wie beschämend: ich umgebe mich mit Stofftieren, Spiele übelriechender Einsamkeit". Man wird lange suchen müssen, um vergleichbare literarische Selbsterkundungen des Alters zu finden.
Dem Selbstekel setzt Friederike Mayröcker ihre Erinnerungen entgegen und die vielfältigen Erfahrungen gegenwärtiger Freundschaften. Zum Altern gehört aber auch die Erfahrung, dass die Zahl der "lieben Verstorbenen" immer größer wird. Ihrer österreichischen Kollegin, der acht Jahre jüngeren Elfriede Gerstl, die im April 2009 starb, gedenkt Friederike Mayröcker mit dem Eingeständnis, Versäumtes nicht mehr nachholen zu können: "Bodo Hell sagt, sie hat den 1. Frühlingsvollmond nicht mehr erlebt, wir hatten das Blumengeschäft an der Ecke der Kleeblattgasse übersehen, und wollten ihr so gern ganze Sträusze vorbeibringen."
Friederike Mayröcker notiert den Tod weiterer Weggefährten und Freunde. Dass ihre Aufzeichnungen dennoch nicht zu einer andauernden Totenklage werden, versteht die Dichterin selbst als eine Form der Immunität, der auch das Alter nichts anhaben kann: "und doch so glühend meine Lebens Gläubigkeit und Lebens Wachsamkeit und POSAUNEN SELIGKEIT und dieses Gebet: ,nur nicht im Sommer sterben".
Die Wurzeln dieser "Gläubigkeit" und "Wachsamkeit" aber, so teilt es Friederike Mayröcker mit, reichen tief in ihre Kindheit zurück. Anrührend ist der kurze Lebenslauf, in dem sie die frühen Prägungen zusammenfasst: "Ich schlüpfte. Wie 1 Jungvogel, immense Neugier auf Welt und Zeit, dann die Hierarchie der Triebe, die grosze Distanz zum Elternpaar, eigentlich zum Vater, den mein Verhalten schmerzte: 1 x sah ich ihn weinen, ich hatte mich abgewandt von ihnen: meine Art der pubertären Revolte, alles in friedvoller Weise kein liebloses Wort . . . aber die Leberblümchenhügel unter unseren Füszen in jedem Frühling, Jahr für Jahr, die blauen Hänge so wuchs ich auf."
Hölderlins Gedicht "Da ich ein Knabe war" klingt in diesem Resümee an, heißt es doch dort in ruhiger Gewissheit: "Im Arme der Götter wuchs ich groß." Friederike Mayröcker ist mit Hölderlins Werk vertraut, wie erst unlängst ihr Gedichtband "Scardanelli" gezeigt hat, mit dem sie dem kranken Dichter im Turm am Neckar liebevolle Reverenz erweist. Anders als ihr Tübinger Vorgänger beruft sich Friederike Mayröcker freilich auf keine Götter, wenn sie ihre glückliche Kindheit und die anhaltende Liebe zur Natur beschreibt. Doch schildert sie immer wieder, dass sie in einsamen schlaflosen Nächten die Gebete ihrer Kinderjahre aufsagt, auch wenn sie sich nur noch lückenhaft an sie erinnert. Die Macht der Sprache vermag offenbar noch immer Trost zu spenden und elementare Ängste zu bändigen. Und Literatur, das demonstrieren diese Aufzeichnungen eindringlich, bleibt für Friederike Mayröcker das Medium, in dem sich ihr Leben manifestiert und das ihr zugleich elementares Lebensmittel ist.
SABINE DOERING
Friederike Mayröcker: "ich bin in der Anstalt. Fusznoten zu einem nichtgeschriebenen Werk." Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 190 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Posaunenseligkeit: Nüchtern und mit geradezu klinischer Neugier denkt Friederike Mayröcker in ihren jüngsten Notaten über den körperlichen Verfall nach - und setzt ihm die Erinnerungen und die Freundschaften entgegen.
Tränen werden in diesen Aufzeichnungen häufig vergossen, Tränen der Sehnsucht, der Trauer, der Entbehrung und der Liebe. Als kritische Beobachterin ihrer selbst gibt Friederike Mayröcker gewissenhaft Zeugnis von Tränenströmen, die in ihrem fünfundachtzigsten Lebensjahr geflossen sind. Dass dieses Zeugnis trotz der Vielzahl von Tränen aber niemals larmoyant oder wehleidig wird, ist der Sprachkraft und der unbestechlichen Selbstbeobachtung dieser großen Dichterin zu verdanken.
In ihrem jüngsten Buch versammelt Friederike Mayröcker Notate aus dem Zeitraum von Dezember 2008 bis November 2009, die sie so experimentierfreudig und stilsicher wie nur immer als "Fusznoten zu einem nichtgeschriebenen Werk" verstanden wissen will. Es ist nichts Geringeres als das Leben selbst, worauf sich diese zweihundertdreiundvierzig Miniaturen beziehen, aber es ist zugleich auch die Literatur, und wie eigentlich immer bei Friederike Mayröcker kann man das eine nicht wirklich vom anderen trennen. So sind es längst nicht nur ihre eigenen Tränen, von denen sie in diesen Aufzeichnungen berichtet. Vielmehr reflektiert sie stets auch die Frage, ob überhaupt eine authentische, angemessene Sprache für Persönlichstes möglich ist.
Gewährsmänner für ihr Projekt einer schonungslosen Selbsterkundung findet sie bei dem Kirchenvater Augustin und seinen "Bekenntnissen" sowie dem französischen Philosophen Jacques Derrida, dessen Texte, insbesondere seine autobiographischen Schriften, Friederike Mayröcker faszinieren. Gleich zu Beginn zitiert sie eine Frage Derridas, die sich leitmotivisch durch das gesamte Buch zieht: "Wollen Sie mit mir über Tränen sprechen?"
Ja, nur zu gern will Friederike Mayröcker darüber sprechen, aber auch noch über so vieles andere, über ihre Kindheit, die Erinnerung an die Mutter und das "tiefe Blau ihrer Augen Vergiszmeinnicht Stiefmütterchen Blau", über die fortdauernde Liebe zu ihrem Lebenspartner Ernst Jandl, dessen Tod mittlerweile zehn Jahre zurückliegt, über Begegnungen mit Freunden, über ihre Lektüre und über die verstörenden Erfahrungen des Alterns.
Mehrfach muss Friederike Mayröcker während dieses Jahres zur Behandlung ins Krankenhaus. "Ich bin in der Anstalt" lautet der Refrain, den sie programmatisch als Titel für dieses Buch gewählt hat. Doch ob im Krankenhausbett oder daheim bei ihren Büchern, Zetteln und Erinnerungsstücken: Nüchtern und mit geradezu klinischer Neugier notiert Friederike Mayröcker die körperlichen Veränderungen, die sie an sich wahrnimmt, den "stallartigen" eigenen Geruch beim morgendlichen Aufwachen, die zunehmenden Flecken auf der Haut, die anhaltende "Hartleibigkeit" und die Schwierigkeiten beim Wasserlassen, "Körperquälereien" das alles.
Vor allem das eigene Gesicht unter den schwarzen Ponyfransen wird zum Feld unerbittlicher Reflexionen: "mein massives derbes Gesicht im Spiegel, ich empfinde Abscheu und Scham. Was war geschehen was hatten die Jahre mit meinem Gesicht gemacht, die ALTERSBÄCKCHEN der unfreie Gang, übriggeblieben nur der triste Blick, ich rühre mich nicht mehr an, wie beschämend: ich umgebe mich mit Stofftieren, Spiele übelriechender Einsamkeit". Man wird lange suchen müssen, um vergleichbare literarische Selbsterkundungen des Alters zu finden.
Dem Selbstekel setzt Friederike Mayröcker ihre Erinnerungen entgegen und die vielfältigen Erfahrungen gegenwärtiger Freundschaften. Zum Altern gehört aber auch die Erfahrung, dass die Zahl der "lieben Verstorbenen" immer größer wird. Ihrer österreichischen Kollegin, der acht Jahre jüngeren Elfriede Gerstl, die im April 2009 starb, gedenkt Friederike Mayröcker mit dem Eingeständnis, Versäumtes nicht mehr nachholen zu können: "Bodo Hell sagt, sie hat den 1. Frühlingsvollmond nicht mehr erlebt, wir hatten das Blumengeschäft an der Ecke der Kleeblattgasse übersehen, und wollten ihr so gern ganze Sträusze vorbeibringen."
Friederike Mayröcker notiert den Tod weiterer Weggefährten und Freunde. Dass ihre Aufzeichnungen dennoch nicht zu einer andauernden Totenklage werden, versteht die Dichterin selbst als eine Form der Immunität, der auch das Alter nichts anhaben kann: "und doch so glühend meine Lebens Gläubigkeit und Lebens Wachsamkeit und POSAUNEN SELIGKEIT und dieses Gebet: ,nur nicht im Sommer sterben".
Die Wurzeln dieser "Gläubigkeit" und "Wachsamkeit" aber, so teilt es Friederike Mayröcker mit, reichen tief in ihre Kindheit zurück. Anrührend ist der kurze Lebenslauf, in dem sie die frühen Prägungen zusammenfasst: "Ich schlüpfte. Wie 1 Jungvogel, immense Neugier auf Welt und Zeit, dann die Hierarchie der Triebe, die grosze Distanz zum Elternpaar, eigentlich zum Vater, den mein Verhalten schmerzte: 1 x sah ich ihn weinen, ich hatte mich abgewandt von ihnen: meine Art der pubertären Revolte, alles in friedvoller Weise kein liebloses Wort . . . aber die Leberblümchenhügel unter unseren Füszen in jedem Frühling, Jahr für Jahr, die blauen Hänge so wuchs ich auf."
Hölderlins Gedicht "Da ich ein Knabe war" klingt in diesem Resümee an, heißt es doch dort in ruhiger Gewissheit: "Im Arme der Götter wuchs ich groß." Friederike Mayröcker ist mit Hölderlins Werk vertraut, wie erst unlängst ihr Gedichtband "Scardanelli" gezeigt hat, mit dem sie dem kranken Dichter im Turm am Neckar liebevolle Reverenz erweist. Anders als ihr Tübinger Vorgänger beruft sich Friederike Mayröcker freilich auf keine Götter, wenn sie ihre glückliche Kindheit und die anhaltende Liebe zur Natur beschreibt. Doch schildert sie immer wieder, dass sie in einsamen schlaflosen Nächten die Gebete ihrer Kinderjahre aufsagt, auch wenn sie sich nur noch lückenhaft an sie erinnert. Die Macht der Sprache vermag offenbar noch immer Trost zu spenden und elementare Ängste zu bändigen. Und Literatur, das demonstrieren diese Aufzeichnungen eindringlich, bleibt für Friederike Mayröcker das Medium, in dem sich ihr Leben manifestiert und das ihr zugleich elementares Lebensmittel ist.
SABINE DOERING
Friederike Mayröcker: "ich bin in der Anstalt. Fusznoten zu einem nichtgeschriebenen Werk." Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 190 S., geb., 19,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Ergreifend fand Otto A. Böhmer diesen Lyrikband über die Angst vor der Hinfälligkeit des Körpers, dem Verlöschen des Geistes im Alter. Auch sei dieses Buch ein Zeugnis dafür, dass das beste Instrument gegen die Angst das Schreiben sei. Mit Hochgenuss zitiert der Kritiker Verse und Sentenzen, malt Mayröckers Denkmuster nach und zieht auch den Hut vor ihrer lyrischen Auseinandersetzung mit dem französischen Philosophen Jacques Derrida.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Der vorherrschende Eindruck aber, den dieses Altersbuch macht, ist der eines überaus lebendigen, kaum je zur Ruhe kommenden Gewusels der Gedanken, Gespräche, Geräusche, ein Kaleidoskop aus gesehenen und erinnerten Bildern. Statt eine Geschichte zu erzählen, erzählt es en passant von seiner eigenen Entstehung, von der um das Schreiben herumgebauten Welt, aus der es hervorgegangen ist.« Lothar Müller Süddeutsche Zeitung