Jeremy O’Keefe hat kurz nach dem Anschlag auf die Twin-Towers in New York eine Professorenstelle in Oxford angenommen und kehrt nun nach 10 Jahren wieder in seine Heimatstadt zurück. Sein Wechsel an eine New Yorker Universität bedeutet einen beruflichen Aufstieg; denn sein College in England hatte
nur einen mittelmäßigen Ruf. Während längerer Abwesenheit von der Heimat konserviert man gern ein…mehrJeremy O’Keefe hat kurz nach dem Anschlag auf die Twin-Towers in New York eine Professorenstelle in Oxford angenommen und kehrt nun nach 10 Jahren wieder in seine Heimatstadt zurück. Sein Wechsel an eine New Yorker Universität bedeutet einen beruflichen Aufstieg; denn sein College in England hatte nur einen mittelmäßigen Ruf. Während längerer Abwesenheit von der Heimat konserviert man gern ein idealistisches Bild, das der Realität nur schwer standhalten wird. Auch während Jeremys Abwesenheit haben sich die Menschen und die Stadt verändert. Kurz nach seinem Weggang aus den USA hatte er sich von seiner Frau getrennt; so dass er außer zu seiner Tochter und seiner Mutter kaum noch Kontakte hat. Jeremy verstrickt sich zunehmend in harschem Ton in Diskussionen darüber, ob er einen britischen Akzent angenommen hätte oder sich inzwischen wie ein Brite verhalten würde. Da es sich hier um subjektive Eindrücke handelt, über die man schwer streiten kann, fällt Jeremys Beharrlichkeit bei diesem Thema deutlich aus dem Rahmen. Köstlich dagegen wirkt die Szene, als seine Mutter ihm vorwirft: „Sei nicht so pedantisch!“ Jeremy war schon früher ein schwieriger, hypochondrischer, negativ eingestellter Mensch. Aus seiner Sicht nimmt die Qualifikation seiner Studenten beständig ab, „alles“ verschlimmert sich. Er denkt in Stereotypen und handelt wie ein Altersstarrsinniger aus dem Lehrbuch. Schließlich bekommt Jeremy verdächtige Pakete, die ihn eine gezielte Verfolgung vermuten lassen und die Frage nach Privatsphäre im Zeitalter des Internets aufwerfen. Für einen Historiker, der über die Stasi zu DDR-Zeiten geforscht hat, sind Jeremys Ängste nicht unrealistisch. Im Vergleich zu seiner Tochter und der New Yorker Kultur-Schickeria wirkt Jeremy nicht besonders paranoid. Psychologisch finde ich die Frage höchst interessant, was für einen Mann von Mitte 50 gerade noch als normales Verhalten gelten kann. - Als Jeremy bei einem Termin vergeblich auf eine Studentin wartet und sich das nicht erklären kann, lässt er seine geistige Leistungsfähigkeit durch eine Neurologin untersuchen. Die Ärztin nennt ihm mögliche Ursachen für seine Ausfälle. Jeremy könnte in der Folge von 9/11 psychisch erkrankt sein, akut belastet und deshalb dünnhäutiger, an beginnender Demenz leiden oder tatsächlich verfolgt werden. Dass andere Jeremys Verhalten besorgniserregender finden als er selbst, könnte Hinweis auf eine hirnorganische Erkrankung sein, die der Patient als letzter wahrnimmt. Die Einordnung seines starrsinnigen Verhaltens ist kulturabhängig – und wird durch Jeremys jüngsten Ortswechsel nicht einfacher. - Anfangs habe ich den Roman stilistisch als holperig empfunden und wurde im Lesefluss immer wieder von der Frage nach dem Sinn unterbrochen. (z. B. ob ein Gegenstand kompetent sein kann, S. 10). Dass der vielfach preisgekrönte Patrick Flanery sich nach erstklassigen Vorgänger-Romanen nun ungeschickt ausdrücken sollte, leuchtete mir nicht ein. Erst als ich mir bewusst machte, dass ich von einem Icherzähler nur seine Sicht der Dinge erfahren werde, konnte ich die sprachlichen Marotten als Teil von Jeremys Verunsicherung sehen. Vielleicht mussten Jeremys Satzungetüme stehen bleiben, weil ein Mann wie er Texte nicht gegenlesen und korrigieren lässt. Da schreibt ein verstörter Mann mit berechtigten Zweifeln an seiner geistigen Leistungsfähigkeit und ich werde als Leser zum Zuschauer seines – möglichen – geistigen Verfalls. Auch wenn die Person eines älteren Geschichtsprofessors in seinem Elfenbeinturm wenig spektakulär wirkt, sollte man dem Roman ungefähr bis zur Mitte eine Chance geben …
Jeremy fordert die Geduld der Leser seines Manuskripts mit stereotyper Denkweise und einem gehörigen Maß an Starrsinn heraus. Wer sich von seinen Marotten nicht abschrecken lässt und Distanz zum Text schaffen kann, wird anerkennen müssen wie gekonnt Flanery seine Leser auf dem schmalen Grat zwischen Normalität und Erkrankung balancieren lässt.