Produktdetails
- Verlag: Sportverlag
- 2., aktualis. u. erw. Aufl.
- Seitenzahl: 175
- Abmessung: 225mm
- Gewicht: 299g
- ISBN-13: 9783328008835
- ISBN-10: 3328008837
- Artikelnr.: 24474053
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
"Von Kopf bis Fuß auf Leben eingestellt", das ist mehr als ein Buchtitel, wenn es um die Erinnerungen einer querschnittsgelähmten Frau geht. Es ist das Lebens-, das Überlebensmotto von Marianne Buggenhagen, deren Autobiographie voller Saft und Kraft aus dem Wust an bunt glänzenden Sportlerbüchern herausragt. Was für eine Biographie haben glatte Jungstars auch schon zu bieten im Vergleich zu dieser Frau, die es als erste deutsche Behindertensportlerin zu größerer Bekanntheit gebracht hat. Eine "Person öffentlichen Interesses" war sie, die "kleine Kaputte", auf einen Schlag mit der Wahl zur "Sport-Eins" Ende 1994 - in der Abstimmung der Fernsehzuschauer lag sie vor Franziska van Almsick und Steffi Graf. Diese Rolle nutzt sie, um etwas für andere Behinderte zu tun. Sie arbeitet im Klinikum Buch in Berlin mit Querschnittsgelähmten, sie vertritt die Interessen der Behinderten in der Öffentlichkeit. Denn es ist "schwerer geworden, mich einfach zu überhören".
Als Marianne Buggenhagen 19 war und ihre Beine von einem Bandscheibenschaden für immer gelähmt waren, wollte sie sich umbringen. Das mißlang durch einen Zufall, und sie begann wieder zu leben. Als sie zufällig sah, wie virtuos Basketball im Rollstuhl gespielt werden kann, entdeckte sie den Sport, den "wichtigsten Bestandteil meiner Rückkehr ins Leben", ohne den sie "im Pflegeheim gelandet oder asozial geworden" wäre. Die Talentforscher der DDR hatten sie einst wegen ihrer Körpergröße zum Volleyball beordert - ohne nachhaltigen Erfolg. Als Behindertensportlerin wurde Marianne Buggenhagen in den verschiedensten Sporarten rund 130mal DDR-Meisterin. Einmal startete sie, die als "Invalidenrentnerin" in den Westen durfte, im Schwäbischen bei einem Sportfest, verbotenerweise natürlich, und konnte ein ZDF-Kamerateam überreden, ihr Bild nicht zu zeigen - das Bügeleisen, das sie dort gewann, tut noch heute gute Dienste. Weitere internationale Erfolge konnte sie bis zum Alter von 37 nicht erzielen, denn der DDR-Versehrtensportverband gehörte nicht der Weltföderation an. Dennoch verwahrt sie sich gegen die Behauptung des früheren Innenministers Wolfgang Schäuble, in der DDR habe es keinen Behindertensport gegeben. "Ich bin kein künstlich erschaffener Nachwende-Homunculus", schreibt sie, "ich habe meine Biographie, die nicht umgeschrieben werden mußte."
Sie waren geduldet, aber nicht gefördert, denn "wir waren zu teuer". Vom Sportgerät her wären die DDR-Behindertensportler deshalb nicht konkurrenzfähig gewesen gegen westliche Hochleistungsrollstühle. Marianne Buggenhagen schildert, mit wieviel Geschick sie sich aus verschiedensten Quellen das Material zum "Hochfrisieren" des Geräts besorgten. Damit durften sie ihre Wettbewerbe bestreiten, außer wenn die hohen Herren zusahen - Marianne Buggenhagen erlebte, wie während der olympischen Tagung 1985 in Ost-Berlin die Rollstuhlfahrer in eine Nebenstraße geschoben wurden, damit sie IOC-Präsident Samaranch nicht vor die Augen kamen.
Nicht alles ist so viel besser geworden nach der Wende, auch wenn natürlich plötzlich "sportlich das ganze Universum vor mir lag". Dem rauschhaften Erlebnis der Paralympics von Barcelona 1992, wo sie vier Goldmedaillen in Wurfdisziplinen und Fünfkampf gewann, folgte die Ernüchterung der wenig besuchten Leichtathletik-WM der Behinderten 1994 in Berlin und die Enttäuschung von Atlanta 1996, wo nach den Olympischen Spielen auch die Paralympics eine "Summierung nicht eingehaltener Versprechen" wurden.
Die Kraft dieses Buches liegt auch in dem Mut, mit dem es ohne falsche Scham, aber auch ohne jeden Hang zur Selbstentblößung den Alltag einer Behinderten schildert: Den Stuhlgang, der ohne Uhr und Pampers nicht auskommt, die etwas andere Form der Liebe mit "vielen Höhepunkten, die nicht nach ein bißchen Sperma enden", auch die Enttäuschung darüber, kein Kind adoptieren zu dürfen - nur weil Marianne Buggenhagen und ihr Lebenspartner behindert sind. Es sind die vielen Hindernisse in der Alltagswelt der Nichtbehinderten, die sie zu dem Schluß führen: "Behindert wird man gemacht." Das war in der DDR so, wo Rollstuhlfahrer wegen zu schmaler Zugabteile im Gepäckwaggon befördert wurden, das ist im vereinigten Deutschland auch oft nicht anders, wenn zum Beispiel an der Haltestelle kein Niederflurbus hält und Marianne Buggenhagen "draußen stehenbleibt wie Sperrmüll".
Sie engagierte sich für Berlins Olympiabewerbung auch aus Eigennutz: "Wenn wir die Spiele nicht kriegen, suche ich noch in 20 Jahren auf dem Alex vergeblich nach einer behindertengerechten Toilette." Berlin hat die Spiele nicht gekriegt und deshalb für Marianne Buggenhagen "viele Mauern behalten". Sie wird weiter gegen sie ankämpfen. CHRISTIAN EICHLER
Besprochenes Buch: Marianne Buggenhagen: "Ich bin von Kopf bis Fuß auf Leben eingestellt. Die Autobiographie", aufgeschrieben von Klaus Weise, Sportverlag Berlin, 160 Seiten, 16 Seiten Fotos, 29,90 Mark.
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