Ein idyllisches Bergdorf in Südtirol - doch die Zeiten sind hart. Die Leute werden vor die Wahl gestellt: entweder nach Deutschland auszuwandern oder als Bürger zweiter Klasse in Italien zu bleiben. Trina entscheidet sich für ihr Dorf, ihr Zuhause. Als die Faschisten ihr verbieten, als Lehrerin tätig zu sein, unterrichtet sie heimlich. Und als ein Energiekonzern für einen Stausee Felder und Häuser überfluten will, leistet sie Widerstand - mit Leib und Seele.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Christian Mayer bewundert Marco Balzano für sein Erzähltalent und die Fähigkeit, in seinem Roman um Leid und Vertreibung in Südtirol und das Schicksal einer jungen Lehrerin, den fast vergessenen Opfern der Staudammbaus im Vinschgau eine Stimme zu verleihen. Dass der Autor sich nicht so recht entscheiden kann zwischen der Nacherzählung der Geschichte Südtirols im 20. Jahrhundert und der Geschichte der Lehrerin, sieht Mayer ihm schließlich nach. Zu kunst- und stimmungsvoll erscheint ihm die Verknüpfung der beiden Ebenen. Am intensivsten, bewegendsten aber ist der Roman für Mayer, wenn Balzano ganz nah an seiner Figur bleibt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.08.2020Das Leben ist kein Unterseeboot
Marco Balzano schildert im Roman "Ich bleibe hier" das Schicksal eines Dorfes in Südtirol
"Du mußt verstehn! Aus Eins mach Zehn, und Zwei laß gehn, und Drei mach gleich, so bist Du reich. Das ist das Hexen-Einmaleins!" Hexe, strega, Premio Strega. Der italienische Literaturpreis, benannt allerdings nicht nach einer Hexe, sondern einer Likörfirma Strega, die ihn dotierte, wurde 1947 erstmals vergeben, an Ennio Flaiano, mit einem Vorlauf noch zu Kriegszeiten, als sich die sogenannten Sonntagsfreunde um Maria Bellonci zum Diskutieren trafen und in Zeiten von Faschismus und Verzweiflung literarischen Widerstand leisten wollten.
Marco Balzano, 1978 in Mailand geboren, hat vor zwei Jahren mit "Ich bleibe hier" sozusagen den silbernen Premio Strega gewonnen und bei rund zehn anderen Preisen die Nase vorn gehabt. Der Roman verfolgt das Schicksal des Dorfs Graun in Südtirol: von Mussolinis Italianisierung jener deutschsprachigen Region, die nach dem Ersten Weltkrieg Italien zugesprochen worden war, über den Zweiten Weltkrieg bis zur Flutung des Ortes wenige Jahre später. Literaturkritik und Leserschaft eint Begeisterung.
Zu Recht, völlig zu Recht sogar - wenn man auf eingängige Sprache und packende Bilder hofft. Das Covermotiv, im Original genau wie in der deutschen Übersetzung der aus dem Wasser herausragende Kirchturm von St. Katharina, tut ein Übriges. Kein Zweifel, hier geht es um eine miese Geschichte. Von Kriegen geprüfte Menschen fallen der Profitgier zum Opfer. Der Staudamm, bereits vor dem Ersten Weltkrieg geplant, vernichtet Bauernhöfe. Fortschritt versus Nachhaltigkeit - eine moderne miese Geschichte eben. Und es wäre auch eine gute Geschichte, wenn nicht nach dem Prinzip der literarischen Selbstoptimierung Scheibe um Scheibe auf die Hantelstange gesteckt worden wäre.
Die Ich-Erzählerin Trina berichtet ihrer Tochter Marica, die als Schülerin 1939 mit ihrer Tante nach Deutschland gegangen ist und seitdem keinen Kontakt zu ihren Eltern mehr hat, von ihrem Leben. Das Dorf im hintersten Krähwinkel ist bäuerlich geprägt, die Atmosphäre expressis verbis bildungsfern. Dies nutzt Balzano jedoch nicht, um geschickt mit Grau- und Leerstellen eine etwaige Uninformiertheit der Menschen zu erklären. Stattdessen schafft er mit apodiktischen Aussagen Puzzleteile, die einzeln vielleicht überzeugen, insgesamt aber nicht zusammenpassen.
Anschauliches Beispiel ist die Italianisierung. "Vom ersten Augenblick an hieß es: Wir gegen sie. Die Sprache des einen gegen die des anderen. Die Arroganz der plötzlichen Macht gegen das Pochen auf jahrhundertealte Wurzeln." Trotzdem lernt Trina Italienisch, um Lehrerin zu werden. Deutsch unterrichtet sie heimlich, dies jedoch nicht, um Widerstand zu leisten, sondern um als verliebte Frau "vor Erich zu glänzen". Ihr Tun fliegt auf, vom Vater unterstützt, setzt sie die klandestine Tätigkeit aber fort und kann sogar ihre Freundin Barbara dafür gewinnen. Diese wird deswegen an Trinas Hochzeitstag verhaftet und in der Folge verbannt.
Trina gibt den heimlichen Deutschunterricht auf, hält aber noch über zehn Jahre später fest: "Gleich nach der Hochzeit hatten wir ja auch mit meinem Lehrerinnengehalt gerechnet, da wir dachten, dass ich, Faschismus hin oder her, auf die eine oder andere Weise unterrichten könnte." Damit nicht genug. Ein Junge kriegt in der Schule Schläge, weil er kein Italienisch kann. Trina gibt ihm Nachhilfe. Aber 1940, als die italienischen Bekanntmachungen zum Bau des Staudamms aushängen? "Wenige in Graun konnten lesen, aber keiner verstand diese Sprache, die nur die Sprache des Hasses war." Sicher, das Vorgehen ist dadurch besonders perfide, die Darstellung der Sprachkampagne aber auch hübsch verschwurbelt.
Das Verhältnis beider Staaten zueinander bleibt ausgeblendet, der Stahlpakt von 1939 unerwähnt. Hitler ist als ferne Größe Gegenspieler zu Mussolini. "Auf Adolf Hitler zu hoffen war die einzige Rebellion." Das ändert sich erst mit dem Zweiten Weltkrieg, als Erich sieht, wie die Soldaten verheizt werden. Er geht mit Trina in die Berge, um dort den Krieg abzuwarten. Hier gelingen Balzano gute Szenen, die jedoch einzig das Grauen des Krieges, nicht aber die spezifische Situation der nationalen Minderheit beleuchten.
Mit dem Staudamm wird dann die verlorene Tochter Marica wieder auf den Plan gerufen. "Mit dir hätten wir die Kraft gefunden, woandershin zu gehen. Neu anzufangen." Nach der letzten Messe vor der Flutung wollen sie indes nur noch in Graun bleiben: "Ohne Interesse an der Zukunft und ohne irgendeine Gewissheit. Nur bleiben."
Weniger wäre mehr gewesen. Und anregender.
CHRISTIANE PÖHLMANN
Marco Balzano: "Ich bleibe hier". Roman. Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Diogenes Verlag, Zürich 2020. 288 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Marco Balzano schildert im Roman "Ich bleibe hier" das Schicksal eines Dorfes in Südtirol
"Du mußt verstehn! Aus Eins mach Zehn, und Zwei laß gehn, und Drei mach gleich, so bist Du reich. Das ist das Hexen-Einmaleins!" Hexe, strega, Premio Strega. Der italienische Literaturpreis, benannt allerdings nicht nach einer Hexe, sondern einer Likörfirma Strega, die ihn dotierte, wurde 1947 erstmals vergeben, an Ennio Flaiano, mit einem Vorlauf noch zu Kriegszeiten, als sich die sogenannten Sonntagsfreunde um Maria Bellonci zum Diskutieren trafen und in Zeiten von Faschismus und Verzweiflung literarischen Widerstand leisten wollten.
Marco Balzano, 1978 in Mailand geboren, hat vor zwei Jahren mit "Ich bleibe hier" sozusagen den silbernen Premio Strega gewonnen und bei rund zehn anderen Preisen die Nase vorn gehabt. Der Roman verfolgt das Schicksal des Dorfs Graun in Südtirol: von Mussolinis Italianisierung jener deutschsprachigen Region, die nach dem Ersten Weltkrieg Italien zugesprochen worden war, über den Zweiten Weltkrieg bis zur Flutung des Ortes wenige Jahre später. Literaturkritik und Leserschaft eint Begeisterung.
Zu Recht, völlig zu Recht sogar - wenn man auf eingängige Sprache und packende Bilder hofft. Das Covermotiv, im Original genau wie in der deutschen Übersetzung der aus dem Wasser herausragende Kirchturm von St. Katharina, tut ein Übriges. Kein Zweifel, hier geht es um eine miese Geschichte. Von Kriegen geprüfte Menschen fallen der Profitgier zum Opfer. Der Staudamm, bereits vor dem Ersten Weltkrieg geplant, vernichtet Bauernhöfe. Fortschritt versus Nachhaltigkeit - eine moderne miese Geschichte eben. Und es wäre auch eine gute Geschichte, wenn nicht nach dem Prinzip der literarischen Selbstoptimierung Scheibe um Scheibe auf die Hantelstange gesteckt worden wäre.
Die Ich-Erzählerin Trina berichtet ihrer Tochter Marica, die als Schülerin 1939 mit ihrer Tante nach Deutschland gegangen ist und seitdem keinen Kontakt zu ihren Eltern mehr hat, von ihrem Leben. Das Dorf im hintersten Krähwinkel ist bäuerlich geprägt, die Atmosphäre expressis verbis bildungsfern. Dies nutzt Balzano jedoch nicht, um geschickt mit Grau- und Leerstellen eine etwaige Uninformiertheit der Menschen zu erklären. Stattdessen schafft er mit apodiktischen Aussagen Puzzleteile, die einzeln vielleicht überzeugen, insgesamt aber nicht zusammenpassen.
Anschauliches Beispiel ist die Italianisierung. "Vom ersten Augenblick an hieß es: Wir gegen sie. Die Sprache des einen gegen die des anderen. Die Arroganz der plötzlichen Macht gegen das Pochen auf jahrhundertealte Wurzeln." Trotzdem lernt Trina Italienisch, um Lehrerin zu werden. Deutsch unterrichtet sie heimlich, dies jedoch nicht, um Widerstand zu leisten, sondern um als verliebte Frau "vor Erich zu glänzen". Ihr Tun fliegt auf, vom Vater unterstützt, setzt sie die klandestine Tätigkeit aber fort und kann sogar ihre Freundin Barbara dafür gewinnen. Diese wird deswegen an Trinas Hochzeitstag verhaftet und in der Folge verbannt.
Trina gibt den heimlichen Deutschunterricht auf, hält aber noch über zehn Jahre später fest: "Gleich nach der Hochzeit hatten wir ja auch mit meinem Lehrerinnengehalt gerechnet, da wir dachten, dass ich, Faschismus hin oder her, auf die eine oder andere Weise unterrichten könnte." Damit nicht genug. Ein Junge kriegt in der Schule Schläge, weil er kein Italienisch kann. Trina gibt ihm Nachhilfe. Aber 1940, als die italienischen Bekanntmachungen zum Bau des Staudamms aushängen? "Wenige in Graun konnten lesen, aber keiner verstand diese Sprache, die nur die Sprache des Hasses war." Sicher, das Vorgehen ist dadurch besonders perfide, die Darstellung der Sprachkampagne aber auch hübsch verschwurbelt.
Das Verhältnis beider Staaten zueinander bleibt ausgeblendet, der Stahlpakt von 1939 unerwähnt. Hitler ist als ferne Größe Gegenspieler zu Mussolini. "Auf Adolf Hitler zu hoffen war die einzige Rebellion." Das ändert sich erst mit dem Zweiten Weltkrieg, als Erich sieht, wie die Soldaten verheizt werden. Er geht mit Trina in die Berge, um dort den Krieg abzuwarten. Hier gelingen Balzano gute Szenen, die jedoch einzig das Grauen des Krieges, nicht aber die spezifische Situation der nationalen Minderheit beleuchten.
Mit dem Staudamm wird dann die verlorene Tochter Marica wieder auf den Plan gerufen. "Mit dir hätten wir die Kraft gefunden, woandershin zu gehen. Neu anzufangen." Nach der letzten Messe vor der Flutung wollen sie indes nur noch in Graun bleiben: "Ohne Interesse an der Zukunft und ohne irgendeine Gewissheit. Nur bleiben."
Weniger wäre mehr gewesen. Und anregender.
CHRISTIANE PÖHLMANN
Marco Balzano: "Ich bleibe hier". Roman. Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Diogenes Verlag, Zürich 2020. 288 S., geb., 22,- [Euro].
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