-Die irrsinnig zarten Stimmen der Vögel, morgens halb fünf, in einem Berliner Hinterhof. Dunkle Fenster, Rauhverputzte Brandmauer, Kammerluken, wie Schießscharten. Ein reglos schlafender Baum. Und nur die Vögel, diese notorischen Frühaufsteher, und ich - wir, ganz allein auf der Welt.
21 Texte umfasst dieser Band, in denen sich der Ostberliner Autor Sparschuh auf Spurensuche begibt: Mit Schiller durch Amerika, Wanderungen durch Berlin-Pankow und zum Bahnhof Friedrichstrasse, Graben im frisch gewendeten Märkischen Sand. Ebenso scharfsinniger wie burlesker Humor zeichnet den Ostberliner aus, der in seinen Texten den radikalen Umbruch begrüsst, während er die vergessliche Eile, mit der gelebtes Leben achtlos verdrängt wird, mit jeder Zeile unterläuft.
21 Texte umfasst dieser Band, in denen sich der Ostberliner Autor Sparschuh auf Spurensuche begibt: Mit Schiller durch Amerika, Wanderungen durch Berlin-Pankow und zum Bahnhof Friedrichstrasse, Graben im frisch gewendeten Märkischen Sand. Ebenso scharfsinniger wie burlesker Humor zeichnet den Ostberliner aus, der in seinen Texten den radikalen Umbruch begrüsst, während er die vergessliche Eile, mit der gelebtes Leben achtlos verdrängt wird, mit jeder Zeile unterläuft.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.04.1998Mehr Westen war nie
Jens Sparschuhs Erzählungen "Ich dachte, sie finden uns nicht"
Manchmal wird Fiktion Wirklichkeit. Er hätte nicht gedacht, schreibt Jens Sparschuh in der Vorrede zu seiner Erzählung "Bahnhof Friedrichstraße. Ein Museum" (1988), daß sich der Berliner Bahnhof mit dem Fall der Mauer über Nacht in das verwandeln würde, was er in seiner Fiktion längst war: ein Ort versteinerter Geschichte. 1989 wurde er zur Besichtigung freigegeben. In Sparschuhs Erzählung fanden sich die einzelnen Stationen des musealen Rundgangs zu dieser Zeit längst vorgezeichnet.
Der Berliner Bahnhof Friedrichstraße ging 1945 in Rauch auf. Als zentraler Bahnhof auf der neuentstandenen Ost-West-Achse der Berliner Stadtbahn war er noch in den dreißiger Jahren das Verkehrszentrum Berlins, bis sich die Reisenden in Soldaten, später in Flüchtlinge verwandelten. Nach 1945 notdürftig wieder instand gesetzt, wurde er im Nachkriegsberlin zum Dreh- und Angelpunkt der in vier Sektoren geteilten Stadt. Später dann blieb er, obwohl wiederaufgebaut, lange Jahre die offene Bruchstelle einer in zwei Hälften zerbrochenen Metropole: "Der internationale Knotenpunkt im Schienennetz", so verzeichnet es der fiktive Museumsführer in Sparschuhs Erzählung, "verwandelte sich in einen nationalen Knoten. . . Punkt."
In seiner "Zerstreuten Prosa" wird Jens Sparschuh zum Chronisten des Umbruchs. "Stadtarchäologie" heißt der Titel einer seiner Erzählungen, die den Veränderungen im Berliner Stadtbild seit dem Mauerfall in detaillierten Beobachtungen nachspüren. Sie beginnen wesentlich früher, im "Transitraum Berlin", wo das Ich-erzählende Kind auf dem Teppichboden des Kinderzimmers mit ferngesteuerten Panzern und Gummicowboys - Made in W.-Germany - erste Reisen in den Westen unternimmt. "Im Kino hatte es den Schatz im Silbersee gegeben und in den verwirrend bunten Läden Wrigley's Spearmint Gums und Jeans. Mehr Westen war nie!"
Mehr Westen ist auch dann nicht, als im humoristischen Szenario der Erzählung "Schwimmschule" Jahrzehnte später der amtliche Bescheid in den Postkästen liegt, sämtliche DDR-Freischwimmerzeugnisse hätten ihre Gültigkeit verloren. Die erneute Bewährungsprobe jenseits des Beckenrands wird bei Sparschuh zum burlesken Albtraum. Ein Frei-Schwimmen findet nicht statt.
Neben den Berlin-Texten enthält der Band literarische Glossen, darunter ein fiktives Interview mit Lichtenberg und ein Porträt von Johannes R. Becher, das sich - durchzogen von Bechers Gedichtanfängen (das Register des Gesamtwerks verzeichnet in alphabetischer Reihenfolge 149 Gedichte auf "Ich") - immer wieder selbst ins Wort zu fallen scheint. Sparschuh, 1955 in Chemnitz geboren, gehört zu jenen Autoren der ehemaligen DDR, die ohne Larmoyanz und "Ostalgie" die veränderten Verhältnisse dokumentieren. Er meidet die Verklärung ebenso wie die Anmaßung; er will auch keinen Ruck durch Deutschland gehen lassen. Verhalten, fast beiläufig kommen die Erzählungen daher und wahren - die essayistischen Glossen wie die Erzählungen - ironische Distanz zu ihrem Gegenstand.
Eine literarische Glosse ist auch der Text "Warum schreiben". Er verhandelt einen ganzen Fragenkatalog zum Schriftstellertum und legt dabei die gängigen Klischees zu Autoridentität und Schreibpraxis frei. Es sei unhöflich, heißt es dort, dem Leser Zeit zu stehlen und ihn mit halbfertigen, halbherzigen Texten zu behelligen. Jens Sparschuh bleibt mit seinen Prosastücken ganz entschieden im Rahmen dessen, was seine Erzählungen "Höflichkeit" nennen. JULIA ENCKE
Jens Sparschuh: "Ich dachte, sie finden uns nicht". Zerstreute Prosa. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1997. 175 S., br., 16,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jens Sparschuhs Erzählungen "Ich dachte, sie finden uns nicht"
Manchmal wird Fiktion Wirklichkeit. Er hätte nicht gedacht, schreibt Jens Sparschuh in der Vorrede zu seiner Erzählung "Bahnhof Friedrichstraße. Ein Museum" (1988), daß sich der Berliner Bahnhof mit dem Fall der Mauer über Nacht in das verwandeln würde, was er in seiner Fiktion längst war: ein Ort versteinerter Geschichte. 1989 wurde er zur Besichtigung freigegeben. In Sparschuhs Erzählung fanden sich die einzelnen Stationen des musealen Rundgangs zu dieser Zeit längst vorgezeichnet.
Der Berliner Bahnhof Friedrichstraße ging 1945 in Rauch auf. Als zentraler Bahnhof auf der neuentstandenen Ost-West-Achse der Berliner Stadtbahn war er noch in den dreißiger Jahren das Verkehrszentrum Berlins, bis sich die Reisenden in Soldaten, später in Flüchtlinge verwandelten. Nach 1945 notdürftig wieder instand gesetzt, wurde er im Nachkriegsberlin zum Dreh- und Angelpunkt der in vier Sektoren geteilten Stadt. Später dann blieb er, obwohl wiederaufgebaut, lange Jahre die offene Bruchstelle einer in zwei Hälften zerbrochenen Metropole: "Der internationale Knotenpunkt im Schienennetz", so verzeichnet es der fiktive Museumsführer in Sparschuhs Erzählung, "verwandelte sich in einen nationalen Knoten. . . Punkt."
In seiner "Zerstreuten Prosa" wird Jens Sparschuh zum Chronisten des Umbruchs. "Stadtarchäologie" heißt der Titel einer seiner Erzählungen, die den Veränderungen im Berliner Stadtbild seit dem Mauerfall in detaillierten Beobachtungen nachspüren. Sie beginnen wesentlich früher, im "Transitraum Berlin", wo das Ich-erzählende Kind auf dem Teppichboden des Kinderzimmers mit ferngesteuerten Panzern und Gummicowboys - Made in W.-Germany - erste Reisen in den Westen unternimmt. "Im Kino hatte es den Schatz im Silbersee gegeben und in den verwirrend bunten Läden Wrigley's Spearmint Gums und Jeans. Mehr Westen war nie!"
Mehr Westen ist auch dann nicht, als im humoristischen Szenario der Erzählung "Schwimmschule" Jahrzehnte später der amtliche Bescheid in den Postkästen liegt, sämtliche DDR-Freischwimmerzeugnisse hätten ihre Gültigkeit verloren. Die erneute Bewährungsprobe jenseits des Beckenrands wird bei Sparschuh zum burlesken Albtraum. Ein Frei-Schwimmen findet nicht statt.
Neben den Berlin-Texten enthält der Band literarische Glossen, darunter ein fiktives Interview mit Lichtenberg und ein Porträt von Johannes R. Becher, das sich - durchzogen von Bechers Gedichtanfängen (das Register des Gesamtwerks verzeichnet in alphabetischer Reihenfolge 149 Gedichte auf "Ich") - immer wieder selbst ins Wort zu fallen scheint. Sparschuh, 1955 in Chemnitz geboren, gehört zu jenen Autoren der ehemaligen DDR, die ohne Larmoyanz und "Ostalgie" die veränderten Verhältnisse dokumentieren. Er meidet die Verklärung ebenso wie die Anmaßung; er will auch keinen Ruck durch Deutschland gehen lassen. Verhalten, fast beiläufig kommen die Erzählungen daher und wahren - die essayistischen Glossen wie die Erzählungen - ironische Distanz zu ihrem Gegenstand.
Eine literarische Glosse ist auch der Text "Warum schreiben". Er verhandelt einen ganzen Fragenkatalog zum Schriftstellertum und legt dabei die gängigen Klischees zu Autoridentität und Schreibpraxis frei. Es sei unhöflich, heißt es dort, dem Leser Zeit zu stehlen und ihn mit halbfertigen, halbherzigen Texten zu behelligen. Jens Sparschuh bleibt mit seinen Prosastücken ganz entschieden im Rahmen dessen, was seine Erzählungen "Höflichkeit" nennen. JULIA ENCKE
Jens Sparschuh: "Ich dachte, sie finden uns nicht". Zerstreute Prosa. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1997. 175 S., br., 16,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main