Paul Broks schildert in seinem Buch ganz gewöhnliche Menschen, die außergewöhnliche Probleme haben. Etwas stimmt nicht mit ihrem Gehirn - oder mit ihrem Bewußtsein. Oder mit beidem. Aber sein Buch ist keine Freakshow. Seine Patienten sind Menschen wie du und ich, und die meisten von ihnen sind sehr sympathisch. Es ist auch keine populäre Einführung in die modernen Neurowissenschaften, obwohl uns der renommierte Londoner Neuropsychologe mit deren Erkenntnissen ganz beiläufig vertraut macht. Ich denke, also bin ich tot ist viel mehr eine Meditation über den Zusammenhang zwischen Körper und Seele und über die unergründlichen Geheimnisse der Identität. Ein Stück Wissenschaft, ein Stück Philosophie, ein Stück Literatur - eine faszinierende Erkundung jener rätselhaften blaßgrauen Substanz, die wir Gehirn nennen und aus der das flüchtige Gut unseres individuellen Bewußtseins hervorgeht. Jeanie glaubt, daß sie tot ist, aber sie ist sich nicht sicher. Sie ist eigentlich ganz normal, aber wenn man sie darum bittet, Tiere mit vier Beinen aufzuzählen, dann gerät sie in Verlegenheit. Aus irgendeinem Grund fallen ihr nur dreibeinige Tiere ein. Naomi ist 19 und möchte unbedingt nach Australien. Aber sie muß erst diesen Eingriff hinter sich bringen, der sie endlich von ihren immer heftigeren epileptischen Anfällen befreien soll. Leider sind die Neurologen nicht sicher, welchen Teil von ihrem Gehirn sie entfernen sollen. Wenn sie einen Fehler machen, wird Naomis Gedächtnis für immer 19 Jahre alt bleiben. Michaels Kopf schlug auf einen Stein, als er vom Baum fiel. Er wollte nur einen Drachen losmachen, der sich verfangen hatte. Der Chirurg dachte, er würde den Löffel abgeben. Aber Michael hat überlebt - mit einem anderen Löffel.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.06.2004Weiter geht's im Wahnsinn
Paul Broks erzählt ganz normale Neurologen-Schauergeschichten
Kennen Sie das Schauerbeispiel Cotard-Syndrom? Die Betroffenen verlieren auf nicht recht geklärte Art das Gefühl für sich, für ihre Identität, dafür, daß ihre Handlungen und Gedanken ihre eigenen sind. Sie denken und sprechen, dennoch halten sie sich für tot, bisweilen verlangen sie sogar, begraben zu werden: Ich denke und bin trotzdem tot. Der englische Neuropsychologe Paul Broks erzählt in seinem neuen Buch nach eigenen Worten "Neuroschauergeschichten": Er berichtet von krankheits- oder unfallbedingten Schädigungen des Gehirns und davon, was sie aus einer Person machen. Sein Spektrum reicht von Ellie, die sich von einem Fahrradunfall soweit erholt hat, daß ihre Defizite nur noch bei der Führerscheinprüfung auffallen, über Stuart, dem seit einem Autounfall alles gleichgültig ist, bis zu Robert, der sich eine Gitarre kauft, Frau und Kinder verläßt und auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Jahre später bricht er zusammen, ein Tumor wird aus seinem Gehirn entfernt, und nach der Operation fragt er zuerst nach Frau und Kindern, die längst fortgezogen sind.
Diese Geschichten zeigen deutlich, daß das beständige kontinuierliche Ich, wie es der Gesunde kennt, nicht im Körper wohnt wie der Geist in der Flasche. Es ist das Ergebnis eines komplexen Prozesses, der ausgesprochen flexibel, aber nicht unverwüstlich ist. Der Weltbildgenerator im Kopf hört nicht auf, die vorhandenen Informationen zu einigermaßen stimmigen Geschichten zusammenzusetzen, auch wenn wegen eines Schlaganfalls oder eines Tumors plötzlich zwanzig Jahre der eigenen Lebensgeschichte fehlen. Auch wenn wir eines Tages à la Kafka aufwachten und uns in ein Insekt verwandelt fänden, würden wir wohl einfach aufstehen und mit dem neuen Leben weitermachen, meint Broks.
Das eigentliche Drama der neuronalen Funktionsstörung wird so dem Betroffenen oft weniger bewußt als seinen Angehörigen. Es sind eben auch die Auswirkungen auf die Beziehungen zu Eltern, Kindern oder Partnern, die sie so bedrückend machen. Broks ist, wie er immer wieder betont, mehr Kliniker als Forscher. Als solcher berichtet er viel von traurigen Schicksalen, aber wenig von Möglichkeiten, zu heilen oder zu lindern. Zuviel Optimismus hält er für schädlich, der bedrückende Alltag tritt in seinem Buch an die Stelle großer Ideen, wie sie die Neurobücher von Oliver Sacks bis Antonio Damasio durchziehen. Ehrfurcht vor den Verheißungen der Neurowissenschaften liegt ihm fern: "Das haben Sie schnell drauf." Broks macht aus seinen beruflichen Sinnkrisen und Albträumen keinen Hehl, warnt vor zuviel Vertrauen in die Neurochirurgie - "die äußerste Form des Eindringens". Sein Buch erweitert die Sammlung der "Neurologengeschichten" um ein ausgesprochen lesenswertes, ein ausgesprochen düsteres Exemplar.
MANUELA LENZEN
Paul Broks: "Ich denke, also bin ich tot". Reisen in die Welt des Wahnsinns. Aus dem Englischen von Barbara Rojahn-Deyk. C. H. Beck Verlag, München 2004. 234 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Paul Broks erzählt ganz normale Neurologen-Schauergeschichten
Kennen Sie das Schauerbeispiel Cotard-Syndrom? Die Betroffenen verlieren auf nicht recht geklärte Art das Gefühl für sich, für ihre Identität, dafür, daß ihre Handlungen und Gedanken ihre eigenen sind. Sie denken und sprechen, dennoch halten sie sich für tot, bisweilen verlangen sie sogar, begraben zu werden: Ich denke und bin trotzdem tot. Der englische Neuropsychologe Paul Broks erzählt in seinem neuen Buch nach eigenen Worten "Neuroschauergeschichten": Er berichtet von krankheits- oder unfallbedingten Schädigungen des Gehirns und davon, was sie aus einer Person machen. Sein Spektrum reicht von Ellie, die sich von einem Fahrradunfall soweit erholt hat, daß ihre Defizite nur noch bei der Führerscheinprüfung auffallen, über Stuart, dem seit einem Autounfall alles gleichgültig ist, bis zu Robert, der sich eine Gitarre kauft, Frau und Kinder verläßt und auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Jahre später bricht er zusammen, ein Tumor wird aus seinem Gehirn entfernt, und nach der Operation fragt er zuerst nach Frau und Kindern, die längst fortgezogen sind.
Diese Geschichten zeigen deutlich, daß das beständige kontinuierliche Ich, wie es der Gesunde kennt, nicht im Körper wohnt wie der Geist in der Flasche. Es ist das Ergebnis eines komplexen Prozesses, der ausgesprochen flexibel, aber nicht unverwüstlich ist. Der Weltbildgenerator im Kopf hört nicht auf, die vorhandenen Informationen zu einigermaßen stimmigen Geschichten zusammenzusetzen, auch wenn wegen eines Schlaganfalls oder eines Tumors plötzlich zwanzig Jahre der eigenen Lebensgeschichte fehlen. Auch wenn wir eines Tages à la Kafka aufwachten und uns in ein Insekt verwandelt fänden, würden wir wohl einfach aufstehen und mit dem neuen Leben weitermachen, meint Broks.
Das eigentliche Drama der neuronalen Funktionsstörung wird so dem Betroffenen oft weniger bewußt als seinen Angehörigen. Es sind eben auch die Auswirkungen auf die Beziehungen zu Eltern, Kindern oder Partnern, die sie so bedrückend machen. Broks ist, wie er immer wieder betont, mehr Kliniker als Forscher. Als solcher berichtet er viel von traurigen Schicksalen, aber wenig von Möglichkeiten, zu heilen oder zu lindern. Zuviel Optimismus hält er für schädlich, der bedrückende Alltag tritt in seinem Buch an die Stelle großer Ideen, wie sie die Neurobücher von Oliver Sacks bis Antonio Damasio durchziehen. Ehrfurcht vor den Verheißungen der Neurowissenschaften liegt ihm fern: "Das haben Sie schnell drauf." Broks macht aus seinen beruflichen Sinnkrisen und Albträumen keinen Hehl, warnt vor zuviel Vertrauen in die Neurochirurgie - "die äußerste Form des Eindringens". Sein Buch erweitert die Sammlung der "Neurologengeschichten" um ein ausgesprochen lesenswertes, ein ausgesprochen düsteres Exemplar.
MANUELA LENZEN
Paul Broks: "Ich denke, also bin ich tot". Reisen in die Welt des Wahnsinns. Aus dem Englischen von Barbara Rojahn-Deyk. C. H. Beck Verlag, München 2004. 234 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Einfach "hinreißend" findet Caroline Neubaur Paul Broks' Buch, mit dem er sich aufmacht, das Reich der Neuropsychologie zu durchschreiten. Der Leser werde aufgefordert, zu sehen, dass der menschliche Geist sich nicht in das "Denkmodell des Determinismus" pressen lässt, und obwohl Broks nicht "mysteriengläubig" sei, gehe er doch auf beeindruckende Art und Weise mit Mysteriösem um. Broks habe nicht nur das Talent, ein "wunderbares" Buch zu schreiben, sondern auch, seine Leser "wunderbar" zu beruhigen. Er nehme der Neurophysiologie die Brisanz, indem er den menschlichen Geist nicht einfach mit den Gehirnaktivitäten gleichsetze. Der Mensch bleibe Geheimnis, "auch oder gerade ohne" Metaphysik. Und so jubelt die Rezensentin noch einmal: "Wie beruhigend. Wie wunderbar."
© Perlentaucher Medien GmbH
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